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DIN 4149 und Eurocode 8 NA 09.02.2023, 10:29 Uhr

Erdbebensicheres Bauen durch komplexe Normierungssituation erschwert

Nach dem großen Erdbeben der Stärke 7,8 im Südosten der Türkei und in Teilen Syriens wird die Frage nach erdbebensicheren Bauten erneut laut. Bemängelt wird die Komplexität der europäischen Normungsarbeit auch vor dem Hintergrund einer bereits länger schwelenden Debatte über den Nationalen Anhang zum Eurocode 8.

Normen sollen verhindern, dass Gebäude bei Erdbeben schwere Schäden nehmen oder gar einstürzen, wie auf diesem Symbolbild. Foto: Shutterstock.com / ymphotos

Normen sollen verhindern, dass Gebäude bei Erdbeben schwere Schäden nehmen oder gar einstürzen, wie auf diesem Symbolbild.

Foto: Shutterstock.com / ymphotos

„Grundsätzlich kann man sagen, dass Gebäude sehr erdbebensicher sind, sofern Normen und Vorsorgemaßnahmen getroffen wurden“, betont Dr.-Ing. Franz-Hermann Schlüter im Hinblick auf Fehler beim Bau von Gebäuden, die bei Erdbeben zusammenbrechen. Er ist Geschäftsführer und Prüfingenieur für Bautechnik bei SMP Ingenieure im Bauwesen GmbH. Der auch in der VDI-Gesellschaft Bauen und Gebäudetechnik aktive Experte befasst sich unter anderem mit Normierungen im Bereich des erdbebensicheren Bauens und äußert sich auf dem VDI-News-Portal zu den Themen Bausicherheit und Normungsarbeit.

Freigesetzte Energie in möglichst vielen Bauteile aufnehmen

„Durch die Erschütterung wird Energie in die Gebäude getragen“, erläutert Schlüter. Hier müsse das Ziel sein, diese Energie durch möglichst viele Bauteile wieder aufzunehmen, „beispielsweise durch plastische Verformungen.“ Ansonsten konzentrieren sich die Energieeintragungen auf wenige Bauteile, die dann versagen.

In Deutschland herrscht nach Angaben von Schlüter das Vier-Augen-Prinzip, sodass Prüfingenieurinnen und Prüfingenieure die Maßnahmen zur Erdbebensicherheit kontrollieren und Ausführungen abnehmen. „Das hat nicht jedes Land“, so der VDI-Experte.

Um Gebäude in Krisenregionen nicht immer wieder neu aufzubauen, gebe es Entwicklungen der Verstärkungsmaßnahmen. Darunter fallen etwa eingeklebte Bewehrung oder eingebrachte Faserwerkstoffe. „Europaweit bestehen hier auch Vorschriften.“

Erdbebennorm nach DIN 4149 und der nationale Anhang des Eurocode 8

„Die Erdbebennorm ist die DIN 4149 aus dem Jahr 2005“, so Schlüter. Insgesamt bemängelt der Ingenieur die Komplexität der Normungsarbeit auf europäischer Ebene. Denn neben der DIN-Norm gibt es den Eurocode 8. Die Normen zum Eurocode 8 gelten für die Bemessung und Konstruktion von Bauwerken des Hoch- und Ingenieurbaus in Erdbebengebieten. Ein „Nationaler Anhang“ (NA) regelt jeweils Spezifika einzelner Staaten.

Über die Neuregelung sind zwischen Wissenschaft und einem Teil der Bauindustrie jedoch in den vergangenen Monaten Differenzen entbrannt, die die Umsetzung des Eurocode 8 und seines Nationalen Anhangs zumindest in Deutschland verschleppen. „Zahlreiche neue Regelungen, die in Eurocodes und Co. Eingang finden, sind nicht praxiserprobt“, merkt Schlüter an. „Einige Mitgliedsvertreter und auch Hochschulvertreter bringen ihre Forschungsergebnisse ein, was gut ist. Jedoch ist es oft nicht geprüft, ob diese Regelungen zusammenpassen und anwendbar sind. Das ist nicht gut.“ Daher seien auch andere deutsche Kollegen und Kolleginnen nicht zufrieden mit der europäischen Normungsarbeit.

Im Würgegriff der Baunormung?

„Wohl keine Baunorm ruft so viel Widerstand und Fehldeutungen hervor wie diejenige über die Gewährleistung eines Mindeststandards erdbebensicherer Bauwerke“, hatten bereits Prof. Dr.-Ing. Ekkehard Fehling von der Universität Kassel und Dr.-Ing. Jochen Schwarz von der Bauhaus-Universität Weimar in der Dezember-Ausgabe des Bauingenieur festgestellt (E. Fehling, J. Schwarz: Bauen in deutschen Erdbebengebieten – im Würgegriff der Baunormung?, Bauingenieur Bd. 97 (2022) Nr. 12, S. S3–S5).

Sie vertreten als Obleute dort den Normenausschuss Bauwesen (NABau) und kritisieren, dass sich der NABau „mit Papieren konfrontiert [sieht], die die Fachwelt irritieren, politisch Verantwortliche verunsichern und letztlich das bestehende Risiko aus Naturgefahren unverantwortlich vermeintlichen ökonomischen Wichtungen unterordnen“ – und das, obwohl die im „üblichen Einspruchsverfahren und verzögernden Schlichtungsverfahren“ von der Mauerwerksindustrie eingebrachten Vorschläge weitgehend umgesetzt worden seien.

Die Fachleute des NABau wollen demgegenüber ermutigen, „den Nationalen Anhang durch die Bundesländer einzuführen und in der Baupraxis anzuwenden“. In einer Stellungnahme des NABau „zur bauaufsichtlichen Einführung der neuen Erdbebennormung für Deutschland“, die ebenfalls in der Dezember-Ausgabe des Bauingenieur abgedruckt ist, versuchen die Wissenschaftler „einige Aussagen richtigzustellen“, die in Diskussionen in Fachkreisen, Bauaufsichtsbehörden und in der Öffentlichkeit entstanden seien, nachdem die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau e.V. (DGfM) im Juli 2022 ein Positionspapier publiziert hatte.

Zu der Auseinandersetzung siehe auch unser Interview mit Prof. Sadegh-Azar von der TU Kaiserslautern, das im September 2022 im Bauingenieur erschienen ist.

Wiederaufbau in der Türkei und Syrien

Für den Wiederaufbau in den derzeit betroffenen Regionen ist es unverzichtbar, dass die Vorschriften zum erdbebensicherem Bauen umgesetzt werden, sagt Schlüter. „Aus eigener Erfahrung kann ich von einem Bauprojekt in Istanbul berichten. Dort haben wir drei große Krankenhäuser erdbebensicher ausgelegt. Diese sind auf einer seismischen Isolierung gebaut.“ Da bleibe das Krankenhaus erst einmal stehen, auch wenn die Erde wackelt, da die Bewegung des Krankenhauses von der der Erde abgekoppelt ist.

Da das Ziel der Erdbebennormen der Schutz von Menschenleben ist, darf ein Bauwerk bei einem Erdbeben nicht einstürzen, aber es darf größere Schäden nehmen – mit Ausnahme von Gebäuden, die für die Versorgung der Menschen auch im Katastrophenfall wichtig sind wie Krankenhäuser oder Feuerwehrstationen etc.. Sie müssen auch nach einem Erdbeben voll funktionstüchtig sein, wie Prof. Sadegh-Azar im Interview erläutert.

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Von VDI-Gesellschaft Bauen und Gebäudetechnik / Karlhorst Klotz