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Kunst zu Bauen 03.07.2020, 10:27 Uhr

Eine Reise zur Bauingenieurskunst der Moderne

Bald ist wieder Urlaubszeit und in diesem Jahr haben sich viele dazu entschlossen, in Deutschland zu bleiben. Und wer mal Abwechslung vom Strandurlaub, Wandern oder dem klassischen Städtetrip möchte, kann eines der vielen Ingenieurbauwerke besuchen. Wir begeben uns auf eine Reise durch Deutschland und stellen die Bauingenieurskunst der Moderne vor.

Ein Zeltdach wurde für die Olympischen Spiele 1976 in München errichtet. Foto: panthermedia.net/Ernesto Rosé

Ein Zeltdach wurde für die Olympischen Spiele 1976 in München errichtet.

Foto: panthermedia.net/Ernesto Rosé

Die Bauingenieure und Architekten in Deutschland waren nicht untätig und haben viele spannende und außergewöhnliche Objekte entworfen und ausgeführt. Hier kann man früh in der Geschichte ansetzen und alle Kirchen, wie den Kölner Dom oder das Ulmer Münster aufzählen. Oder über Burgen, wie Burg Hohenzollern und Schlösser, ganz vorne dabei Schloss Neuschwanstein, berichten. Doch wir wollen Bauwerke bereisen, die ab der Moderne bis in die Gegenwart entstanden sind und entstehen. Bauwerke, für die Bauingenieure und Architekten Bauweisen und Baustoffe entwickelt haben, die das heutige Bauen wesentlich beeinflussen.

Seile tragen die Dachkonstruktion des Münchener Olympiastadions

Wir starten unsere Reise in den 1970er Jahren und im Süden von Deutschland. Hier entstand ein Bauwerk mit einer außergewöhnlichen Dachkonstruktion, das Olympiastadion in München. Das Architekturbüro Behnisch & Partner hat die Idee von Frei Otto aufgegriffen und eine zeltartige Dachkonstruktion geplant. 58 Stahlmasten und Träger, aus zwölf großen Pylonen, halten die punktgestützte vorgespannte Seilnetzkonstruktion auf der die lichtdurchlässige Acrylglasbedachung aufliegt. Behnisch & Partner stießen mit ihren Entwürfen auf Probleme. Um diese zu lösen, holten sie Frei Otto mit in das Projekt. Neben Frei Otto entwickelten Fritz Leonhardt, Wolf Andrä und Jörg Schlaich an der Dachkonstruktion mit. Man muss noch nicht mal eine Veranstaltung besuchen, um die Dachkonstruktion zu bewundern. Allein ein Spaziergang über das Oberwiesenfeld reicht aus, um das Bauwerk zu bestaunen.

Klare Formen gibt es in der Weißenhofsiedlung.

Foto: panthermedia.net/Claudio Divizia

Klare Formensprache in Stuttgart

Reist man über die A8 in den Nordwesten, gelangt man nach Stuttgart. Dort ist eine Siedlung zu finden, die klare Strukturen zeigt: die Weißenhofsiedlung. In 21 Wochen entstanden 21 Häuser mit 63 Wohnungen für die Bauausstellung 1927. Der Deutsche Werkbund hat den Architekten die Möglichkeit für die Umsetzung ihrer innovativen Ideen gegeben. Ludwig Mies van der Rohe, Pieter Oud, Victor Bourgeois, Adolf G. Schenck, Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, Bruno Taut, Hans Poelzig, Richard Döcker, Max Taut, Adolf Rading, Josef Frank, Mart Stam, Hans Scharoun und Peter Behrens entwarfen die Häuser und gestaltetet ihr Innenleben. Jeder brachte seine eigene Vorstellung für die moderne Art des Wohnens in einer Großstadt mit ein.

Doch die Häuser haben viel gemein, wie die kubische Formensprache oder Lichtbänder. Für die Besucher der Bauausstellung war neben dem äußeren Erscheinen auch die innere Aufteilung überraschend. Hier sind große multifunktionale Wohnbereiche prägend. Hat man alles in der Weißenhofsiedlung besucht, kann die Reise weiter gehen. Doch Stuttgart sollte man noch nicht verlassen.

Denn in Stuttgart und um Stuttgart herum entstehen gerade durch Stuttgart21 viele weitere Bauwerke. Einige liegen im Verborgenen. Die Tunnelbauwerke, die für die schnelle Verbindung nach Ulm benötigt werden, sind nicht zu sehen. Doch bei einer Führung in den Albabstiegstunnel kann das Bauwerk im Rohbau besichtigt werden. Ist man am Hauptbahnhof, kann man einen Blick auf die Kelchstützen der neuen Dachkonstruktion werfen. 28 dieser Stützen werden nach der Idee von ingenhoven architects entstehen. Dabei ist jede individuell und benötigt eine ausgefeilte Bewehrung und Schalung. Möchte man die Stützen von Nahem betrachten, dann sollte man sich für eine Führung über die Baustelle anmelden. Ist man an einer der derzeit größten Baustellen in Deutschland, bringt einem der Zug in Richtung Norden zu weiteren Bauwerken.

Rational und technisiert ist die Architektur von Schacht XII der Zeche Zollverein.

Foto: Jochen Tack / Stiftung Zollverein

Die Kohleförderung fördert Ingenieurbauwerke

Auf seiner Reise in den Norden sollte man den Ausstieg im Ruhrgebiet nicht verpassen. Kohle wird hier nicht mehr abgebaut. Doch die Zechen stehen noch. Beeindruckend dabei ist die Zeche Zollverein. 1847 begann die Förderung der Kohle. Der letzte Schacht, Schacht XII, wurde von 1928 bis 1932 errichtet. Fritz Schupp und Martin Kremmer sollten diesen entwerfen. Die Technisierung und Rationalisierung prägten das Ingenieurbauwerk. Die Architekten wollten das Bild der Zeche verändern. Sie wollten zeigen, dass die Zeche zum Stadtbild gehört. Entstanden ist eine Musterzeche. Die Eigentümer nutzten diese für Repräsentationszwecke. Eine Führung durch das Weltkulturerbe lässt das Bergmannsleben wieder aufblühen. Neben der Zeche Zollverein hat Essen unter anderem noch die Siedlung Margarethenhöhe zu bieten.

Margarethe Krupp ließ die Siedlung 1906 für die Arbeiter errichten. Der Architekt Georg Metzendorf plante eine Gartenstadt. Die Häuser, die zwischen 1906 und 1938 entstanden, sollten individuell sein, aber stilistisch gleich. Um den Kostenrahmen nicht zu sprengen, entwarf Metzendorf einen Baukasten an Elementen, die er kombinierte.

Das Chilehaus im Kontorhausviertel in Hamburg spiegelt den Backsteinexpressionismus wieder.

Foto: panthermedia.net/Erich Teister

Backsteinexpressionismus als Baukunst in Hamburg

Verlässt man das Ruhrgebiet und fährt man weiter, ist Hamburg nicht mehr ganz so weit. Die hohen Backsteinhäuser der Speicherstadt und im Kontorhausviertel ziehen einen in dem Bann vom früheren Kaufmannsleben. Hier ist der Backsteinexpressionismus lebendig. Die meisten Häuser entstanden zu Beginn des 20. Jahrhundert als Stahlbetonbauten. Ihre Dächer sind mit Kupfer bedeckt, und mindestens das oberste Geschoss ist zurückgesetzt. Die unterschiedlichen Kontorhäuser bekamen ihre Individualität durch die unterschiedlichen Stilelemente der Architekten wie Max Bach, Fritz Höger oder Hans und Oskar Gerson.

Der Schnittlauch auf dem Dach der Baumwollspinnerei in Leipzig unterstützt die Kühlung der Räume.

Foto: Bertram Schultze; 2008

Ein begrüntes Dach von 1884 in Leipzig

In Richtung Osten baut man auf seiner Reise einen Schlenker über Berlin ein. Hier begegnet man Bruno Taut wieder. Seine Hufeisensiedlung in Berlin Britz ist die größte Wohnungsanlage aus den 1920er Jahren. Als Vertreter des Neuen Bauens nutze er die Gelegenheit für die arme Bevölkerung moderne Wohnungen zu bauen, deren Mieten erschwinglich waren. Um die Mieten gering zu halten, wurden die Baukosten ebenfalls runter gefahren. Taut entwarf vier Grundrisstypen mit denen dann über 1000 Wohnungen von 1925 bis 1933 entstanden. Das prägnanteste Bauwerk in der Hufeisensiedlung ist der Bau von 25 Reihenhäusern in Hufeisenform. Die 350 Meter lange Häuserzeile umschließt eine Gartenanlage mit Teich.

Mit der neuen Verbindung zwischen Berlin und München ist Leipzig nicht weit von der Hauptstadt entfernt. In Leipzig gibt es die Baumwollspinnerei. 1884 ließen Industrielle die Spinnerei als Aktiengesellschaft eintragen. Sie kauften am Rande des Stadtteils Lindenau Land von Dr. Karl Heine, der dieses damalige Sumpfland bebaubar gemacht hatte. Zur Errichtung des Gebäudes engagierten die Industriellen den Schweizer Johann Morf. Das Bauwerk beeindruckt durch seine dicken Mauern und Decken. Und damit es in der Spinnerei immer schön kühl ist, hat man das Dach mit Schnittlauch begrünt. Bis zum Ende der DDR wurde dort gesponnen. Heute haben in der Spinnerei viele Künstler der neuen Leipziger Schule ihre Ateliers.

Die Betonkuppel des Zeis-Planetariums in Jena ist nur sechs Zentimeter dick.

Foto: W. Don Eck

Neue Berechnungen und Konstruktionen lassen eine Kuppel in Jena entstehen

Die Reise zu bedeutenden Ingenieurbauwerken endet in Jena, im Zeiss-Planetarium. Es ist nicht nur das älteste Planetarium, was noch in Betrieb ist. Hier kamen bei der Errichtung 1926 neueste Entwicklungen für den Kuppelbau zum Einsatz. Die sechs Zentimeter dünnwandige Kuppel aus Beton wurde durch neue Berechnungen konstruiert. Die Methode zur Fertigung der Kuppel war die Zeiss-Dywidag-Schalenbauweise. Konstruiert von Franz Dischunger errichtete das Bauunternehmen Dyckerhoff & Widmann die Planetariumskuppel mit einem Durchmesser von 25 Metern.

Von Heike van Ooyen