Zukunft der Arbeit (1) 19.10.2012, 19:55 Uhr

Der „feste“ Schreibtisch war gestern

Zunehmende Vernetzung und Digitalisierung unserer Arbeitswelt führen zu Umbau und weitgehender Auflösung althergebrachter Strukturen. Ort, Zeit und Organisationsform von Arbeit werden in viele Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt. Damit beschäftigt sich die Serie „Zukunft der Arbeit“. Im ersten Teil geht es um räumliche Veränderungen, um die zunehmende Verlagerung des Büros in die virtuelle Sphäre.

Präsenzpflicht oder feste Arbeitsplätze im Büro sind Auslaufmodelle.

Präsenzpflicht oder feste Arbeitsplätze im Büro sind Auslaufmodelle.

Foto: Lenovo

Der Prozess ist schleichend und dennoch radikal. Die fortschreitende digitale Vernetzung bedeutet die völlige Abkoppelung der Information vom physischen und geographischen Ort und die Verlagerung der Information hinein in eine komitative (begleitende) Sphäre. Das Revolutionäre der komitativen Sphäre liegt in der globalen Totalität und der prinzipiellen Unabhängigkeit sogar von materiellen Netzen: Über Satellit ist weltweit der Zugang zum Internet und damit auch zu traditionellen Kommunikationskanälen wie zum guten alten Faxgerät möglich.

Wenn sich die berufliche Tätigkeit hinein in die komitative Sphäre verlagert und Kommunikation und Kooperation vor allem mittels Laptop, Internet und Handy geschehen, verliert der physische Ort als Arbeitsplatz an Bedeutung bzw. seine Funktion erfährt gravierende Veränderungen.

Der Schreibtisch als „fester“ Arbeitsplatz in einem konventionellen Büro gehört der Vergangenheit an, ebenso wie die Präsenzpflicht im Unternehmen. Über Endgeräte mit der komitativen Sphäre verbunden, wird von verschiedenen Standorten aus gearbeitet, sei es in der Firma, dem Flughafen, dem Zuhause oder in der Bahn. Da die komitative Sphäre den Globus bedeckt, kann jeder Ort ein Arbeitsplatz sein.

Wen wundert es, dass in Berlin, dem Standort der „digitalen Boheme“, das Prinzip des „Coworking Space“ zuerst seine Ausprägung erfahren hat. Zum Beispiel im „Betahaus“ in Kreuzberg. Dort kann man für 12 € pro Tag einen „Flexdesk“ mieten, das Wochenticket gibt es für 49 €.

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Das Betahaus ist nichts anderes als eine Ansammlung von Schreibtischen mit Internetzugang, die man für eine bestimmte Zeit anmieten kann. Sozusagen die „stoffliche Verstetigung des Netzwerkgedankens, der die heutige Welt so grundlegend bestimmt“, wie es Betahaus-Gründer Christoph Fahle ausdrückt.

Zusammen mit anderen hat der ehemalige Student der Politologie 2009 das Betahaus aus der Taufe gehoben. Hier braucht es keine Mietverträge und man muss sich weder um das Toilettenpapier noch um die Heizung kümmern. An den rund 120 Schreibtischen arbeiten Freiberufler wie Architekten, Journalisten und Grafiker, die vor allem ihre örtliche Ungebundenheit und Flexibilität eint.

Und die hier – anders als im „Home Office“ – eine kreative Atmosphäre und vielleicht sogar künftige Geschäftspartner vorfinden. Das zentrale Moment dabei ist die Anbindung des Schreibtisches an das Internet. Das Betahaus ist so auch Ausdruck eines Lebensgefühls, aber auch die Widerspiegelung von flexiblen Strukturen der Arbeit, in denen sich Freiberufler bewegen.

Doch längst sind Kriterien flexibler Arbeitsplätze nicht nur Bestandteil und Ausdruck einer Struktur und Kultur von freiberuflich Kreativen, sondern sie sind dabei, die Norm einer künftigen Arbeitswelt in allen Unternehmen zu werden.

Der Siemens-Konzern unternimmt derzeit einen revolutionären Umbau der Arbeitsorganisation unter dem Stichwort „Siemens Office – New way of working“. Das Konzept steht für mehr als eine neue Arbeitskultur, es steht für einen „Paradigmenwechsel“ hin zu einer Arbeitswelt der Zukunft, meint Christoph Leitgeb, Asset Manager bei Siemens Real Estate, jener Abteilung, die den Umbau gemeinsam mit den Konzernbereichen Human Ressources und IT vorantreiben.

Wie die Arbeitswelt der Zukunft aussieht, lässt sich am Siemens-Standort München am Otto-Hahn-Ring besichtigen. Das Prinzip ist auch hier die Flexibilisierung der Arbeit, die sowohl auf das „Mobil Working“ als auch auf die „Work Life Integration“ abzielt. Konkret äußert sich dies architektonisch in der Umwandlung von traditionellen Büroräumen in offene Bürolandschaften. „Die Raumaufteilung entspricht den unterschiedlichen Tätigkeiten während eines Arbeitstages“, erläutert Leitgeb.

Sitzecken und die Kaffeebar stehen für die informelle Kommunikation zwischen den Mitarbeitern. Für kreative oder vertiefende Arbeiten stehen „Thinktank-Räume“ zur Verfügung, ausgestattet mit Flatscreen und Videokonferenzschaltung. Für vertrauliche Telefonate stehen schalldichte Telefonzellen bereit, dem Zwecke der Lautstärkenreduzierung dienen Sessel, die mit einer Plexiglas-Muschel verkleidet sind.

Das Grundprinzip dieser Bürolandschaft lautet Mobilität und so gibt es hier für die Mitarbeiter keine angestammten und festen Schreibtischarbeitsplätze mehr. Jeder sucht sich zu Arbeitsbeginn einen freien Arbeitsplatz, der mit einem Bildschirm und Anschlussmöglichkeiten zum Internet ausgestattet ist – ein Betahaus auf Konzernebene. Allerdings ohne Kreuzberger Hinterhofcharme. Bei Siemens dominieren helle Farben, Glaswände stehen für Transparenz, Pflanzen und Bambusstäbe fungieren zwischen den Schreibtischen als Raumteiler. Sogenannte Kernzonen garantieren, dass die Mitarbeiter nicht völlig verstreut im Gebäude herumsitzen, sondern sich in Abteilungen zusammenfinden.

Die Grundausstattung der Mitarbeiter für diese Strukturen besteht aus einem Laptop und einem Handy. Zentral dabei ist eine einzige Telefonnummer für den Mitarbeiter, unter der er – ob im Büro oder zu Hause – erreichbar ist. „Wir gehen damit weg von der Fülle der Kontaktmöglichkeiten und hin zu einem Einzelkontakt“, so Leitgeb. Kommuniziert wird per Headset über eine Software, die auf dem Laptop aufgespielt ist.

Die Loslösung des Arbeitsplatzes von einem Ort bzw. von einem festen Schreibtisch verlangt neue Verhaltensweisen der Mitarbeiter. So gilt eine strikte „Clean-Desktop-Policy“: Am Ende eines Arbeitstages muss der Schreibtisch ebenso leer wie zu Beginn hinterlassen werden. Für notwendige Ordner, Papierunterlagen und technische Geräte steht ein abschließbarer Spind zur Verfügung sowie eine kleinere Aufbewahrungsbox für persönliche Gegenstände.

Den Auftrag für das neue Konzept des „Siemens Office“ erteilte der Vorstand im Jahr 2008, als Vorbild galt die Firmenfiliale im belgischen Anderlecht. Bis zum Jahre 2017/18 soll die neue Arbeitskultur im Konzern umgesetzt sein.

Von den weltweit 336 000 Siemens-Mitarbeitern sind vor allem die 140 000 Büromitarbeiter angesprochen, manche Aspekte des Konzepts könnten auch an den Produktionsstandorten angewandt werden. Die Flexibilisierung der Arbeitsplätze bedeutet für Siemens eine Platzersparnis von weltweit 1 Mio. m2 an Bürofläche, was finanziellen Einsparungen in dreistelliger Millionenhöhe entspricht.

Der Autor lehrt Soziologie mit Schwerpunkt Medientheorie an der Goethe-Universität Frankfurt und arbeitet als freier Journalist in München. Die Serie „Zukunft der Arbeit“ wird durch die Beiträge „Die zersplitterte Arbeitskraft“ und „Flexible Arbeitszeitmodelle liegen im Trend“ komplettiert.

Ein Beitrag von:

  • Rudolf Stumberger

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