Die Bahn auf dem Abstellgleis: Keine schnelle Lösung in Sicht?
Verspätungen, Chaos, Frust: Die Bahn steckt tiefer in der Krise als je zuvor. Drei Professoren sehen keinen schnellen Ausweg.
Die Weichen stehen auf Krise: Züge kämpfen täglich gegen Verspätungen und überlastete Strecken.
Foto: picture alliance / Panama Pictures/Christoph Hardt
Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder hat vor Kurzem den Bahnchef Richard Lutz vor die Tür gesetzt. Für kommenden Freitag, den 22. August, hat der CDU-Politiker eine „Agenda für zufriedene Kunden auf der Schiene“ angekündigt. Der Konzern müsse schlanker und wirtschaftlicher werden.
Die Julizahlen der Bahn zur Zuverlässigkeit lassen nichts Gutes ahnen: Sie sei im Juli so unpünktlich unterwegs gewesen wie im gesamten Jahr nicht, berichtete dpa unter Berufung auf Zahlen des Konzerns. 56,1 % der Fernzüge waren pünktlich, fast sechs Prozentpunkte weniger als im Juli des Vorjahres. Der scheidende Bahnchef Richard Lutz hatte für 2025 eine betriebliche Pünktlichkeit zwischen 65 % und 70 % geplant. Das Ziel wurde im ersten Halbjahr bereits verfehlt, für den Juli standen 59,4 % zu Buche.
Inhaltsverzeichnis
- Wie kann die Bahn ihre Zuverlässigkeit steigern?
- Zwei Arten von Verspätungen
- Systemkrise durch gravierende Versäumnisse
- Fehlende Kontrolle durch die Politik führt zu Investitionen ohne Wirkung
- Falsche Prioritäten und technische Fehlentscheidungen
- Teure Wegwerfpolitik bei der Zugbeschaffung
- Ist die Zuverlässigkeit der Bahn mittelfristig wieder herstellbar?
Wie kann die Bahn ihre Zuverlässigkeit steigern?
Die Frage stellt sich: Ist die deutsche Bahn überhaupt reparabel? Und: Was ist da vom Schnieders Eckpunktepapier zu erwarten? Das Science Media Center (SMC) hat drei Experten dazu befragt, wie die Bahn wieder pünktlich werden könnte. Deren Fazit: Die Misere ist kein Zufall, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Fehlentscheidungen. Bei Bahn und Politik.
Drei ausgewiesene Experten haben die Ursachen für das SMC analysiert: Gernot Liedtke (DLR), Mitusch (KIT) und Markus Hecht (TU Berlin). Folgt man ihren Einschätzungen, dann ist die Krise selbst gemacht, war vorhersehbar und ist auf absehbare Zeit kaum wirklich reparabel.
Zwei Arten von Verspätungen
„Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Verspätungen: initiale Verspätungen und Folgeverspätungen“, erklärt Liedtke, kommissarischer Direktor am Institut für Verkehrsforschung des DLR in Berlin. Initiale Verspätungen entstehen, wenn ein Zug vom Fahrplan abweicht. Folgeverspätungen, wenn weitere Fahrplanabweichungen hinzukommen.
- Gründe für Initialverspätungen: defekte Türen, Menschen auf dem Gleis, kaputte Signale, verstopfte Toiletten, Sonderhalte, unvorhersehbare Streckensperrung, andere verspätete Züge. „Die veraltete Infrastruktur ist dabei nur ein Faktor von mehreren“, so Liedtke.
- Für Folgeverspätungen gibt es zwei Hauptgründe: zu viele Züge auf der bestehenden Infrastruktur und ein in der Vergangenheit geschehener Rückbau vermeintlich überflüssiger Ausweichstrecken, Überholmöglichkeiten und Bahnsteige.
Systemkrise durch gravierende Versäumnisse
Die Bahn steckt in einem selbst angelegten Korsett. Über Jahrzehnte wurden Ausweich- und Überholmöglichkeiten zurückgebaut, wodurch heute schon kleine Störungen das gesamte Netz blockieren. Fahrpläne sind inzwischen maximal ausgelastet, Reserven an Fahrzeugen und Personal fehlen. Fällt ein Zug aus, fällt ein Rattenschwanz an Folgeverspätungen an.
Ebenso wurde wichtige Infrastruktur ausgedünnt. Warnsignale gab es. Aber wer erinnert sich heute noch daran, dass 2003 die Belegschaft im ehemaligen Ausbesserungswerk in Opladen zweimal sogar in einen Hungerstreik ging? Weil das Werk geschlossen werden sollte (und wurde) und die Arbeiter dort wussten, was das heißen würde.
Gravierend, das macht Liedtke deutlich, ist, dass das System keine Reserven mehr hat. Initialverspätungen seien nur schwer wieder auszugleichen. „So haben auch kleinere Störungen erhebliche Folgeeffekte. Man kann von wiederkehrenden Systemzusammenbrüchen sprechen.“ Die Probleme sind also nicht nur punktuelle Defekte, sondern Ausdruck einer strukturellen Krise.
Fehlende Kontrolle durch die Politik führt zu Investitionen ohne Wirkung
In Hinblich auf die politische Verantwortung äußert sich Kay Mitusch, Inhaber des Lehrstuhls Netzwerkökonomie am Institut für Volkswirtschaftslehre am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), äußerst kritisch. Milliarden flössen jährlich vom Bund an die Bahn – doch die Wirkung bliebe aus. Für ihn ist der Kern des Problems ein Mangel an externer Kontrolle:
- Fehlende externe Kontrolle: Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV) fokussiert auf Gleisinfrastruktur, kontrolliert aber weder Qualität, Mitteleinsatz noch Wirtschaftlichkeit. „Die Regulierung durch die Bundesnetzagentur erfolgt ohne Bezug auf die ‚Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung‘ (KeL), also ohne Benchmark-Analysen, Kostenmodelle etc., im Gegensatz zu anderen regulierten Sektoren“, so Mitusch.
- Die Bahn habe Geld bekommen, ohne Qualität liefern zu müssen: „Die langjährige Erfahrung der DB lautet, dass sie genau dann mehr Geld vom Bund erhält – und ohne Kontrollen –, wenn sie schlechtere Qualität und größere Finanzierungsprobleme produziert“, kritisiert der Volkswirtschaftler.
- Lösungsvorschlag: Mitusch schlägt vor, die Bundesnetzagentur solle ein Kostenmodell erarbeiten, die Politik darauf basierend beraten und Effizienzkontrollen übernehmen. Dennoch würde die Bahn „auf Jahrzehnte ein kranker Patient bleiben, der nicht überfordert werden darf“. Wachstumspläne und Deutschlandtakt müssten verschoben werden.
Mitusch sieht also konkret ein Governance-Versagen der Bundesregierungen über Jahrzehnte hinweg. Da wird es spannend, was Patrick Schnieder als Eckpunktepapier vorlegt. Geld allein löst keine Probleme, wenn niemand überprüft, wie es eingesetzt wird.
Falsche Prioritäten und technische Fehlentscheidungen
Noch deutlicher kritisiert Markus Hecht Bahnbetrieb und die „Teamarbeit“ im Bahnkonzern. Die finde nämlich de facto nicht statt, die verschiedenen Bahn-Töchter verfolgten eigennützige Ziele anstatt systemorientierte. „Wenn es dem eigenen DB-Unternehmen nützt, aber anderen Schienenverkehrsunternehmen schadet – egal ob einem Tochterunternehmen der DB oder anderen –, spielt das keine Rolle: Man arbeitet einfach zu wenig lösungsorientiert“, analysiert der Leiter des Fachgebiets Schienenfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr an der TU Berlin. Das führe zu einem Flickenteppich, in dem sich einzelne Bereiche gegenseitig blockieren.
Die Fahrpläne sind einerseits auf Kante genäht. Andererseits, so deckt Hecht auf, werden Fahrplanreserven gebildet, die das System gar nicht mehr hergeben kann, ohne suboptimal zu laufen. „Eigentlich sollen diese Fahrplanreserven dazu führen, dass unpünktliche Züge ihre Verspätungen aufholen können. Die großen Reserven führen jedoch dazu, dass pünktliche Züge zu lange die Bahnhofsgleise belegen und diese so für die unpünktlichen blockieren. Das vergrößert die Verspätungen.“
Teure Wegwerfpolitik bei der Zugbeschaffung
Besonders kritisch sieht Hecht die Instandhaltungspolitik des rollenden Inventars. Er spricht von einer „Lebensdauerabkürzung der Fahrzeuge durch Entscheidungen der Bahn“. Dabei koste gute Instandhaltung weniger als ständige Neubeschaffung. „Wie kann ich da Fahrzeuge nach 20 bis 25 Jahren ausmustern, was die DB gerade tut, statt sie zu modernisieren?“
Statt nachhaltiger Pflege werden also neue Fahrzeuge beschafft – die neue Probleme schaffen, wie Hecht am Beispiel der E-Loks der Vectron-Baureihe aufzeigt. „Krass“ sei der „massive Ersatz der Schnellzug-Elektroloks der Baureihe (BR) 101 aus den Neunzigerjahren“ durch Vectron-Loks im großen Stil im Personenverkehr. Hecht kritisiert: „Die Gleisbeanspruchung der Vectron ist ein Vielfaches gegenüber der BR 101: Die neuen Loks haben deutlich höhere unabgefederte Massen – etwa um den Faktor zwei größer – und einen deutlich größeren Achsabstand. Beides beansprucht Weichen extrem, wenn die Weiche die Lok auf ein anderes Gleis lenkt.“ Als Folge habe die Schweiz ein Verbot für Loks der Vectron-Baureihe in engen Bogenradien erlassen.
Ist die Zuverlässigkeit der Bahn mittelfristig wieder herstellbar?
Die drei Fachleute sehen unisono keine schnelle Lösung. Liedtke sieht eine strukturelle Überlastung, Mitusch fordert radikale externe Kontrolle, Hecht sieht im technischen Detailmanagement Chancen auf Besserung.
Das Gesamtbild ist ernüchternd. Ohne grundlegende Reformen bleibt die Bahn dauerhaft unzuverlässig. Selbst wenn CDU-Bundesverkehrsminister Schnieder jetzt mehr als nur kosmetische Korrekturen in sein Eckpunktepapier schreibt: Die Fahrgäste dürften en gros erst jenseits des Jahres 2030 etwas substanziell spüren. Denn die Lage wird sich erst bessern, wenn Strukturen, Management und Kontrolle der Bahn sich grundlegend verändert haben werden. Bis dahin bleibt die deutsche Bahn bei der Zuverlässigkeit so etwas wie das Schmuddelkind des Eisenbahnwesens in Europa.
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