Wie Materiewellen aus Atomen tief blicken lassen
Erstmals ist es DLR-Forschenden gelungen, Materiewellen von Atomen durch einen Festkörper zu beugen. Das neuartige Verfahren ermöglicht die schonende Untersuchung strahlungsempfindlicher Proben und könnte die Entwicklung strahlungsresistenter Materialien revolutionieren. Das entstehende Wellenmuster gibt Aufschluss über die atomare Struktur der Probe und eröffnet neue Anwendungsmöglichkeiten.
Im Laboraufbau haben DLR-Forschende Atome in einem Strahl auf bis zu zwei Millionen Kilometer pro Stunde beschleunigt und so eine Graphenprobe durchleuchtet.
Foto: DLR
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben ein zukunftsweisendes Experiment durchgeführt: Sie konnten erstmalig einen Atomstrahl durch einen Festkörper beugen und damit das quantenphysikalische Verhalten von Atomen als Materiewellen nachweisen. Bisher war dies nur mit Elektronen oder Neutronen möglich. Die Forschenden nutzten die Welleneigenschaften der Atome, die ähnlich wie Wasserwellen ein charakteristisches Muster bilden, wenn sie auf eine atomare Gitterstruktur treffen. Dieses Beugungsmuster erlaubt Rückschlüsse auf den atomaren Aufbau der untersuchten Probe.
Das neuartige Verfahren eröffnet ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten, von der Materialforschung über Nanotechnologien bis hin zur Medizin. Es könnte beispielsweise bei der Entwicklung von Materialien helfen, die gegen Weltraumstrahlung resistent sind – ein wichtiger Aspekt für die Raumfahrtelektronik. Zudem verspricht die Technologie eine schonende Untersuchung strahlungsempfindlicher Proben, da die Materiewellen der Atome wesentlich sanfter mit dem Material interagieren als herkömmliche Elektronenstrahlen.
Materiewellen revolutionieren die Materialforschung
In der Materialforschung, Biomedizin und Chemie ist die Elektronenmikroskopie ein unverzichtbares Analysewerkzeug. Dank der Materiewellen der Elektronen lassen sich einzelne Atome sichtbar machen und somit Kristallbildung, Fremdatome, Fehlstellen in Atomgittern sowie Oberflächenqualität untersuchen. Allerdings bringt die Transmissionsmikroskopie mit Elektronenstrahlen eine enorme Strahlenbelastung für die Proben mit sich. „Die Strahlendosis ist lokal so hoch, dass sich das Verfahren nicht für organische Stoffe eignet“, erklärt Christian Brand vom DLR-Institut für Quantentechnologien. Um dieses Problem zu umgehen, entwickelt das DLR neue, zerstörungsfreie Messmethoden basierend auf Materiewellen von Atomen. Diese Technologien versprechen eine schonende, bildgebende Analyse atomarer und molekularer Strukturen in Festkörpern und organischen Proben.
Den DLR-Forschenden gelang es, in einer Vakuumkammer Wasserstoff- und Heliumatome auf Geschwindigkeiten von bis zu zwei Millionen Kilometer pro Stunde zu beschleunigen. Mit diesem Highspeed-Atomstrahl durchleuchteten sie eine ultradünne Membran aus Graphen, die aus einer einzelnen Schicht regelmäßig angeordneter Kohlenstoffatome bestand. Beim Durchdringen der Graphenmembran offenbarten die Atome ihre quantenphysikalischen Welleneigenschaften als Materiewellen. Die einzelnen Atome umflogen dabei mehrere Kohlenstoffatome der Probe gleichzeitig, wurden ähnlich wie Wasserwellen an Hindernissen abgelenkt und überlagerten sich hinter der Probe. Das entstandene Beugungsmuster auf einem Detektorschirm ermöglichte Rückschlüsse auf die atomare Anordnung in der Graphenmembran.
Den Materiewellen von Atomen auf der Spur
Der große Vorteil von Atomen liegt in ihrer elektrischen Neutralität, wodurch sie wesentlich sanfter mit den Proben wechselwirken als Elektronen. Das ermöglicht die Bestimmung des atomaren oder molekularen Aufbaus auch von strahlungsempfindlichen Proben, beispielsweise in der organischen Chemie oder perspektivisch sogar in der Biologie und Medizin. Zudem lassen sich Atomstrahlen einfacher erzeugen als Neutronenstrahlen, für die ein Kernreaktor erforderlich ist.
Die Anpassung der Atomstrahlgeschwindigkeit war der Schlüssel zum Erfolg des Experiments. „Die Herausforderung bestand darin, die Graphenmembran so rein wie möglich zu halten und die Geschwindigkeit des Atomstrahls so anzupassen, dass wir die Beugungseffekte deutlich sehen konnten. Festkörper sind so massiv, dass Atomstrahlen sie normalerweise nicht durchdringen können. Die Atome bleiben darin einfach stecken“, erläutert Carina Kanitz, die das Experiment durchgeführt hat. Andererseits dürfen die Atome auch nicht zu schnell sein, da sich sonst die einzelnen Strukturen des Beugungsmusters überlagern und sich nicht mehr auseinanderhalten lassen.
Materiewellen überstehen die Wechselwirkung mit der Probe
Die Forschenden stellten sich die Frage, warum die empfindlichen Quantenzustände der Atome beim Durchdringen der Probe nicht zerstört werden, denn sonst gäbe es kein Beugungsbild. Die Antwort lieferten Simulationen aus der Gruppe von Toma Susi von der Universität Wien: „Die Atome sind so schnell, dass sie nur den Millionsten Teil einer Milliardstel Sekunde Zeit haben, mit der Probe zu interagieren. Das ist so kurz, dass die Quantenzustände erhalten bleiben.“ Die Wasserstoff- und Heliumatome quetschen sich regelrecht durch die Graphenmembran hindurch.
„Je schneller die Atome durch die Membran hindurchfliegen, desto weniger müssen sie die Kohlenstoffatome in der Membran zur Seite drücken, desto geringer ist die quantenphysikalische Wechselwirkung zwischen Atomstrahl und Probe. Der Atomstrahl verhält sich dann wie eine breite Welle, die den Festkörper großflächig durchdringt“, erläutert Christian Brand. Die DLR-Forscherinnen und -Forscher planen nun, die Beugung von Materiewellen an Materialien zu erproben, die sich mit bisherigen Methoden nur schwer untersuchen lassen. Der Fokus liegt dabei auf Stoffen der organischen Chemie, wie Polymermembranen für Filtersysteme, bis hin zu Materialien für Elektronikbauteile.
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