Geheimnis gelöst: So fanden Astronomen die fehlende Materie
Schon lange war klar, dass im Universum Materie verschwunden sein muss. Doch wohin? Dieses Rätsel wurde nun von gleich Studien gelöst.

Dieses Bild zeigt das neue Filament, das vier Galaxienhaufen verbindet: zwei an einem Ende, zwei am anderen. Diese Haufen sind als helle Flecken am unteren und oberen Rand des Filaments zu sehen (vier weiße Punkte, die von Farbe umgeben sind). Zwischen diesen hellen Punkten erstreckt sich ein fleckiges violettes Band, das sich deutlich vom schwarzen Himmel abhebt. Dabei handelt es sich um das Filament aus heißem Gas, das Röntgenstrahlung aussendet und bisher nicht gesehen wurde. Es enthält einen Teil der „fehlenden“ Materie.
Foto: ESA/XMM-Newton and ISAS/JAXA Nutzungsbedingungen für Bilder und Videos der ESA
Ein lange offenes Rätsel der Astronomie scheint gelöst: Forschende haben herausgefunden, wo sich die Materie befindet, die seit dem Urknall vermisst wurde – also jene Atome, die nicht in Sternen, Galaxien oder sichtbaren Gaswolken gebunden sind. Die Analyse zeigt: Rund drei Viertel der gewöhnlichen Materie im Universum bleiben für uns unsichtbar. Sie verteilt sich als dünnes Gas in den scheinbar leeren Zwischenräumen zwischen den Galaxien.
Zu diesem Ergebnis kommen zwei beinahe zeitgleich veröffentlichte Studien. In einer Studie entdeckten Astronominnen und Astronomen mithilfe von Röntgenteleskopen ein 23 Millionen Lichtjahre langes Gasfilament. Eine weitere Studie nutzte schnelle Radioblitze, um die Materieverteilung zwischen Galaxien zu kartieren. Beide Studien zeigen: Ein Großteil der gewöhnlichen Materie befindet sich nicht in Sternen oder Galaxien, sondern als dünnes Gas im intergalaktischen Raum – genau wie es die Modelle schon lange vorhergesagt haben.
Inhaltsverzeichnis
Ein altes Rätsel des Universums
Seit Jahrzehnten beschäftigt ein scheinbar einfaches Problem die Kosmologie: Wenn man alle sichtbaren Sterne, Galaxien und Gaswolken zusammenzählt, ergibt sich nur ein Bruchteil der Materie, die nach dem Urknall entstanden sein müsste. Diese sogenannten Baryonen – gewöhnliche Materieteilchen wie Protonen und Neutronen – sind messbar vorhanden, aber ihr Aufenthaltsort blieb unklar.
Zwar sehen Forschende sie im jungen Universum, doch später scheint ein erheblicher Teil einfach zu verschwinden. Eine neue Entdeckung zeigt nun: Diese Materie war nie verschwunden. Sie war lediglich gut versteckt – und lässt sich nun endlich beobachten.
Warum wusste man, dass Materie fehlt?
Berechnungen aus der Frühzeit des Universums – etwa durch die Analyse der kosmischen Hintergrundstrahlung und der Häufigkeit leichter Elemente wie Helium – zeigen, wie viel normale Materie (Baryonen) nach dem Urknall entstanden sein muss. Zählt man jedoch alle sichtbaren Bestandteile des heutigen Universums – Sterne, Galaxien, Gaswolken – zusammen, ergibt sich nur etwa ein Viertel der erwarteten Menge. Der Rest war bisher nicht nachweisbar, musste aber vorhanden sein, damit kosmologische Modelle funktionieren. Diese Diskrepanz deutete darauf hin, dass ein Großteil der Materie zwar existiert, aber extrem schwer zu beobachten ist.
Spurensuche mit Radioblitzen
Ein Forschungsteam um Liam Connor vom Harvard & Smithsonian Center for Astrophysics setzte auf ein ungewöhnliches Hilfsmittel: sogenannte Fast Radio Bursts (FRBs), ultrakurze, energiereiche Radioblitze aus fernen Galaxien. Diese Blitze durchqueren auf ihrer Reise durch das Universum auch die Regionen zwischen den Galaxien – also genau dort, wo die „fehlende“ Materie vermutet wurde.
Während ihrer Reise werden die Radiowellen minimal gestreut, abhängig davon, wie viele Materieteilchen sie passieren. Das Team analysierte 69 solcher Radioblitze, deren Entfernungen von 11,7 Millionen bis zu 9,1 Milliarden Lichtjahren reichten. Das Ergebnis: 76 % der normalen Materie im Universum liegt im intergalaktischen Raum. Nur etwa 9 % befinden sich in Galaxien, rund 15 % in deren Halos.
„Unsere Analysen legen nahe, dass mehr als 90 % der Baryonen im Kosmos in kalten Gasen oder im diffusen, ionisierten Zustand vorliegen“, schreiben die Forschenden. Für Connor und sein Team ist damit eine zentrale Frage der Astrophysik geklärt: „Jetzt wissen wir dank der Fast Radiobursts: Drei Viertel der Baryonen schweben zwischen den Galaxien.“
Röntgenblick auf das kosmische Netz
Unabhängig davon konnten auch andere Forschende einen weiteren Hinweis auf die verborgene Materie liefern – diesmal durch Röntgenstrahlung. Ein Team um Konstantinos Migkas vom Leiden Observatory untersuchte mithilfe der Teleskope XMM-Newton (ESA) und Suzaku (JAXA) ein riesiges Gasfilament, das vier Galaxienhaufen miteinander verbindet.
Dieses Filament gehört zum sogenannten Shapley-Superhaufen, einer der massereichsten Strukturen im nahen Universum. Es erstreckt sich über 23 Millionen Lichtjahre – etwa 230 Mal so lang wie unsere Milchstraße – und besitzt eine Temperatur von über 10 Millionen Grad Celsius. Seine Masse entspricht etwa dem Zehnfachen der Milchstraße.
„Zum ersten Mal stimmen unsere Ergebnisse genau mit dem überein, was wir in unserem führenden Modell des Kosmos sehen – etwas, das bisher noch nie vorgekommen ist“, sagt Migkas. Co-Autor Florian Pacaud von der Universität Bonn ergänzt: „Unser Ansatz war sehr erfolgreich und zeigt, dass das Filament genau so ist, wie wir es aufgrund unserer besten groß angelegten Simulationen des Universums erwartet hatten.“
Wie wurde die verborgene Materie schließlich entdeckt?
Zwei unterschiedliche Methoden führten zum Erfolg: Zum einen nutzten Astronom:innen Röntgenteleskope wie XMM-Newton und Suzaku, um heiße Gasfilamente zwischen Galaxienhaufen zu kartieren. Diese Filamente enthalten große Mengen baryonischer Materie. Zum anderen analysierten Forschende sogenannte Fast Radiobursts (FRBs). Diese kurzen Radioblitze werden auf ihrem Weg durch den Kosmos von Teilchen im intergalaktischen Raum gestreut. Aus dem Maß dieser Streuung ließ sich rückschließen, wie viel Materie zwischen den Galaxien liegt. Beide Ansätze bestätigten unabhängig voneinander: Die „fehlende“ Materie ist vorhanden – sie verbirgt sich als dünnes Gas im weiten Raum zwischen den Galaxien.
Unsichtbare Fäden durch das All
Die Entdeckung ist weit mehr als ein Einzelfund. Sie bestätigt, dass sich Galaxienhaufen über gigantische Distanzen hinweg durch feine Gasstrukturen verbinden. Diese sogenannten Filamente bilden ein „kosmisches Netz“, das wie ein unsichtbares Gerüst die Struktur des Universums vorgibt.
Das Filament zwischen den vier Galaxienhaufen wurde durch eine Kombination von Beobachtungsdaten nachgewiesen. Während Suzaku die schwache Röntgenstrahlung des Gases großflächig aufzeichnete, identifizierte XMM-Newton punktgenau Störquellen wie supermassereiche Schwarze Löcher – und schloss sie aus der Analyse aus.
„Dank XMM-Newton konnten wir diese kosmischen Störquellen identifizieren und entfernen, sodass wir sicher waren, dass wir nur das Gas im Filament sahen und nichts anderes“, erläutert Pacaud.
Bestätigung für das Standardmodell
Beide Studien – die Radiowellenanalyse und die Röntgenbeobachtungen – führen zum gleichen Ergebnis: Die Modelle der Kosmologie hatten recht. Die baryonische Materie ist nicht verschwunden. Sie ist nur extrem dünn verteilt, kaum sichtbar und schwer messbar.
Für die Forschenden bedeutet das: Ein bedeutendes Puzzle der Astrophysik wurde gelöst. „Dies ist ein Triumph der modernen Astronomie“, sagt Koautor Vikram Ravi vom California Institute of Technology. Die Erkenntnisse helfen dabei, die Entstehung und Entwicklung von Galaxien besser zu verstehen.
Auch Norbert Schartel von der ESA betont: „Grundlegender noch ist, dass sie unser Standardmodell des Kosmos bestätigt und jahrzehntelange Simulationen validiert: Es scheint, dass die ‚fehlende‘ Materie tatsächlich in schwer sichtbaren Fäden lauert, die das Universum durchziehen.“
Blick in die Zukunft
Die Euclid-Mission der ESA, gestartet im Jahr 2023, soll das kosmische Netz weiter kartieren. Sie wird die Struktur des Universums detaillierter erfassen und auch Hinweise auf dunkle Materie und dunkle Energie liefern – die zusammen 95 % des Universums ausmachen, aber bisher nur indirekt nachweisbar sind.
Parallel planen Forschende den Bau neuer Radioteleskope wie DAS-2000 in der Wüste Nevadas. Mit tausenden Antennen sollen diese Anlagen tausende Fast Radiobursts pro Jahr erfassen – und die Lücken in unserer kosmischen Landkarte weiter schließen.
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