Was römisches Diatretglas über seine Handwerker preisgibt
Antikes Luxusglas enthält verschlüsselte Werkstattzeichen. Eine Forscherin rekonstruiert das soziale Netzwerk hinter den Diatret-Bechern.
Antikes römisches Diatretglas trägt bislang übersehene Zeichen, die keine Dekoration sind, sondern Herstellercodes. Die Kunsthistorikerin und Glasbläserin Hallie Meredith erkennt darin die Signaturen arbeitsteiliger Werkstätten.
Foto: picture alliance/United Archives | Werner Otto
Diatretglas gehört zu den edelsten Luxusgütern der Spätantike. Doch erst als Hallie Meredith im Februar 2023 einen dieser Glasbecher im Metropolitan Museum of Art umdrehte, erkannte sie etwas, das bis dahin niemand ernsthaft untersucht hatte: kleine durchbrochene Zeichen auf der Rückseite. Rauten. Kreuzformen. Blätter. Und eine Inschrift, die dem künftigen Besitzer ein langes Leben wünschte.
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Von wegen Dekor
Bisher hatten Forschende diese Muster meist als Dekor abgetan. Meredith, Kunsthistorikerin und ausgebildete Glasbläserin an der Washington State University, sah sie anders. Sie erkannte darin die Signaturen der Werkstätten – codierte Hinweise auf die Teams, die diese Luxusobjekte fertigten. „Da ich selbst eine Ausbildung als Kunsthandwerkerin habe, wollte ich die Dinge immer wieder umdrehen“, sagt sie.
„Wenn man das tut, erscheinen Muster, die alle anderen buchstäblich aus dem Rahmen heraus fotografiert haben.“ Ihre Beobachtung war der Ausgangspunkt einer viel umfassenderen Rekonstruktion römischer Produktionstechniken.
Was hinter einem Diatretum steckt
Die Produktions eines Diatretums entsteht beginnt als massiver Glasblock, der anschließend aufwändig ausgehöhlt wird. Schritt für Schritt entstehen zwei Schichten: eine innere Wand und ein äußeres Gitter, verbunden durch feine Stege. Diese Verbindungen dürfen nicht zu dick sein. Zu dünn auch nicht. Jede Fehlberechnung lässt das Glas platzen. Das macht deutlich: Niemand erledigt diese Arbeit allein.
Meredith untersuchte Werkzeugspuren, unvollendete Bruchstücke und Inschriften. Sie fand Hinweise auf arbeitsteilige Werkstattstrukturen – Graveure, Schleifer, Polierer, Lehrlinge. Wochenlange oder monatelange Arbeit, verteilt auf spezialisierte Hände.
Abstrakte Symbole kennzeichnen die Teams
Die abstrakten Symbole dienten ihrer Überzeugung nach als Kennzeichnungen dieser Teams. Moderne Logos sind nicht weit davon entfernt. „Es handelte sich nicht um persönliche Autogramme“, sagt sie. „Sie waren das antike Äquivalent einer Marke.“
Damit verschiebt sich die Perspektive. Statt einer genialen Einzelperson stand viel eher ein eingespieltes Kollektiv hinter diesen Objekten. Ein Team, das für wohlhabende Auftraggeber fertigte – oder für den kaiserlichen Hof.
Ein altes Rätsel bekommt eine neue Dimension
Mehr als 250 Jahre lang diskutierten Expertinnen und Experten darüber, wie genau diese Becher entstanden. Geblasen? Gegossen? Vollständig von Hand geschnitzt? Vermutlich eine Mischung, abhängig vom Rohling und der Werkstatt. Aber die symbolischen Markierungen rückten nie in den Fokus – zu sehr konzentrierte sich die Forschung auf technische Fragen.
Meredith dreht die Logik um: Wer die Menschen dahinter versteht, versteht auch das Objekt. Für sie sind die Zeichen kein zufälliger ornamentaler Ballast, sondern der Schlüssel zu einem sozialen Netzwerk. Werkstätten, die über Jahrhunderte ähnliche Symbolsprachen nutzten, arbeiteten wahrscheinlich in Traditionslinien. Manche Zeichen tauchen auf Artefakten auf, die zeitlich weit auseinanderliegen. Ein Hinweis auf langlebige Arbeitsgemeinschaften und möglicherweise wandernde Handwerker.
Praxiswissen als wissenschaftliches Werkzeug
Meredith kommt aus der Praxis. Sie weiß, wie heiß Glas ist, wie schnell es sich verformt, wie schwer es ist, es unter Kontrolle zu halten. Dieses Erfahrungswissen prägt ihren Blick. An der WSU bringt sie Studierenden diese Perspektive im Kurs „Experiencing Ancient Making“ nahe. Dort zerlegen die Teilnehmenden 3D-gedruckte Repliken, modellieren Fertigungswege nach und nutzen eine App, die Artefakte virtuell auseinanderzieht.
„Das Ziel ist nicht die perfekte Nachbildung”, sagt sie. „Es geht um Empathie. Man kann antike Handwerker anders verstehen, wenn man ihre Produktionsprozesse erlebt.”
Datenbank statt Vitrine
Ihr nächstes Projekt geht einen Schritt weiter. Meredith baut mit Informatikstudierenden eine Datenbank für nicht standardisierte Schriftzeichen auf römischen Alltagsobjekten – Krüge, Lampen, Werkzeuge, Fibeln. Darunter finden sich Schreibfehler, Mischformen zwischen griechischen und lateinischen Buchstaben und kryptische Zeichen.
Was frühere Forschende als Kauderwelsch abtaten, interpretiert Meredith als Anpassungen mehrsprachiger Werkstätten. In einer Welt, in der Menschen aus allen Teilen des Reichs zusammenarbeiteten, waren hybride Alphabete wahrscheinlich Alltag. Die Datenbank soll diese Spuren vergleichbar machen und Muster sichtbar werden lassen, die bisher übersehen wurden.
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