Urknall im Labor: Silizium friert kosmische Strukturen ein
Schockgefrorenes Silizium bildet Strukturen wie beim Urknall. Welchen praktischen Nutzen hat das für die Halbleitertechnik?
Auf einer Silizium-Oberfläche organisieren sich Silizium-Atome zu Paaren, welche wie eine Wippe zwei verschiedene Positionen einnehmen können. Die Wechselwirkung zwischen den Wippen führt zu langreichweitiger und richtungsabhängiger Ordnung. Analog zum frühen Universum hängt die Größe der geordneten Bereiche von der Abkühl-Geschwindigkeit der Oberfläche ab.
Foto: B. Schröder/HZDR
In der Frühzeit des Universums, nur Sekundenbruchteile nach dem Urknall, durchlief die Materie mehrere Phasenübergänge. Dabei bildeten sich Regionen unterschiedlicher Ordnung – sogenannte topologische Defekte. Diese kosmologischen Prozesse lassen sich heute mit physikalischen Modellen beschreiben. Doch was hat das mit Siliziumoberflächen zu tun?
Forschende des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR), der Universität Duisburg-Essen und der University of Alberta haben genau diese Brücke geschlagen. Sie untersuchten die Oberflächenstruktur von Silizium, das extrem schnell abgekühlt wurde. Das Ergebnis: Die Bildung von atomaren Mustern auf der Oberfläche ähnelt Mechanismen, die nach dem Urknall gewirkt haben könnten.
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Dimere als Schlüssel zur Ordnung
Im Zentrum der Analyse steht die sogenannte Si(001)-Oberfläche. Dabei handelt es sich um eine flache Siliziumfläche mit hoher technologischer Relevanz – etwa für Solarzellen und Mikroprozessoren. Auf dieser Oberfläche bilden sich bei tiefen Temperaturen sogenannte Dimere: Paare von Siliziumatomen, die sich wie kleine Wippen nach links oder rechts neigen können.
Oberhalb einer kritischen Temperatur – bei etwa 190 Kelvin (−83 °C) – kippen die Dimere ständig zwischen beiden Zuständen hin und her. Doch sobald die Temperatur unter diesen Schwellenwert fällt, erstarren die Dimere in einer Richtung. Es entsteht ein Phasenübergang – vergleichbar mit der Erstarrung von Wasser zu Eis. Dr. Gernot Schaller vom HZDR erklärt:
„Beim Abkühlen unter die kritische Temperatur rasten die Dimere in einem der beiden Zustände ein. Sie werden bei diesem Phasenübergang quasi eingefroren.“
Die Rolle der Abkühlrate
Der eigentliche Clou liegt in der Geschwindigkeit, mit der die Temperatur fällt. Wird das Silizium besonders schnell abgekühlt – etwa mit über 100 Grad pro Mikrosekunde –, bleibt den Dimern keine Zeit, sich mit ihren Nachbarpaaren abzustimmen. Es bilden sich dann sogenannte eindimensionale Ketten, in denen alle Dimere in einer Richtung kippen.
Wird langsamer gekühlt, entsteht ein ganz anderes Bild: Die Silizium-Dimere zeigen dann zweidimensionale Muster, sogenannte Domänen, die an ein Honigwabenmuster erinnern. Diese Muster sind deutlich geordneter – aber nur, wenn das System genügend Zeit bekommt, einen globalen Ordnungszustand zu entwickeln. „Je langsamer das Abkühlen verläuft, desto größer werden diese Domänen“, sagt Schaller.
Kibble-Zurek-Mechanismus: Vom Universum zum Chip
Was auf Siliziumoberflächen passiert, lässt sich mit einer Theorie beschreiben, die ursprünglich aus der Kosmologie stammt: dem Kibble-Zurek-Mechanismus. Tom Kibble und Wojciech Zurek entwickelten dieses Konzept, um die Entstehung topologischer Defekte im frühen Universum zu erklären.
Zurek übertrug das Prinzip später auf physikalische Systeme mit kondensierter Materie – etwa auf superflüssiges Helium. Die Idee: Wenn ein System zu schnell durch einen Phasenübergang geführt wird, „frieren“ lokale Strukturen ein, bevor sich eine übergreifende Ordnung bilden kann. Diese eingefrorenen Strukturen zeigen sich dann als Defekte oder Grenzlinien zwischen unterschiedlich orientierten Bereichen.
Prof. Ralf Schützhold vom HZDR fasst zusammen: „Das Verhalten der Silizium-Dimere weist Parallelen zum Kibble-Zurek-Mechanismus auf.“
Schockfrosten von Silizium – das Wichtigste auf einen Blick:
- Was passiert? Silizium-Dimere „frieren“ beim schnellen Abkühlen in eine feste Orientierung ein.
- Kritische Temperatur: Etwa 190 K (−83 °C). Darunter kommt es zum Phasenübergang.
- Kibble-Zurek-Prinzip: Beschreibt, wie beim raschen Abkühlen Defekte und Strukturen entstehen.
- 1D vs. 2D: Bei schneller Abkühlung entstehen eindimensionale Ketten, bei langsamer Abkühlung zweidimensionale Domänen.
- Relevanz: Erkenntnisse helfen bei der Herstellung gleichmäßiger Siliziumoberflächen für Halbleiter.
- Modell: Anisotropes Ising-Modell bildet Grundlage für Simulationen und theoretische Berechnungen.
Ising-Modell als Rechenhilfe
Zur theoretischen Beschreibung nutzte das Forschungsteam ein sogenanntes anisotropes Ising-Modell. Dieses Modell abstrahiert die Kippzustände der Dimere als Spins: Entweder +1 oder −1 – also nach links oder rechts geneigt. Die Kopplung zwischen den Spins ist nicht in alle Richtungen gleich stark: Entlang der Dimerreihen ist sie deutlich stärker als quer oder diagonal. Diese Anisotropie beeinflusst, wie sich Ordnung ausbildet.
Bei extrem schneller Abkühlung kann das Verhalten mathematisch exakt beschrieben werden. Die Länge der gleichgerichteten Bereiche – die sogenannte Korrelationslänge – wächst dann in einem bestimmten Verhältnis zur Abkühlrate. Bei langsameren Prozessen mussten die Forschenden numerische Verfahren wie Monte-Carlo-Simulationen einsetzen.
Eingefrorene Muster unter dem Mikroskop
Was theoretisch beschrieben wurde, zeigt sich auch im Experiment. Mit einem Rastertunnelmikroskop (STM) untersuchten die Forschenden die tiefgekühlten Siliziumoberflächen. Die Bilder zeigen eine Mischung aus regelmäßigen Honigwabenstrukturen und Zickzacklinien – genau wie es die Simulationen vorhersagen.
Diese Muster sind keine Zufallsprodukte, sondern physikalisch festgehaltene Domänengrenzen. Sie verraten viel über die Dynamik beim Abkühlen. Die genaue Ausrichtung und Länge dieser Defekte hängen direkt mit der Geschwindigkeit zusammen, mit der das Silizium durch den Phasenübergang geführt wurde.
Relevanz für die Halbleitertechnik
Was nach Grundlagenforschung klingt, hat unmittelbare praktische Bedeutung. In der Halbleitertechnik zählt jede perfekte Kristallstruktur. Fehler auf atomarer Ebene können die Funktion von Chips oder Solarzellen massiv beeinträchtigen. Wer also versteht, wie sich Siliziumoberflächen beim Abkühlen verhalten, kann gezielter steuern, wie gleichmäßig die Oberfläche wird.
Definiert man die Abkühlraten exakt, lassen sich gewünschte Muster erzeugen oder vermeiden. Darüber hinaus bieten die eingefrorenen Strukturen eine neue Möglichkeit, wichtige Materialparameter zu bestimmen – etwa die Frequenz, mit der Dimere zwischen Zuständen wechseln, oder die tatsächlichen Energiebarrieren, die dabei überwunden werden müssen.
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