Auf dem Saturnmond Titan gelten Chemie-Grundregeln nicht
Auf dem Saturnmond Titan bilden Methan, Ethan und HCN Kokristalle – entgegen der chemischen Grundregel „Gleiches löst Gleiches“.
Saturnmond Titan: In seiner dichten, orangefarbenen Atmosphäre spielt Chemie nach eigenen Regeln. Bei Temperaturen von rund –180 °C gibt es ideal Bedingungen für ungewöhnliche Reaktionen, die auf der Erde so nicht möglich sind.
Foto: NASA-JPL-Space Science Institute
Auf Titan, dem größten Saturnmond, läuft Chemie anders. Viel kälter als jede Polarnacht, dichter vernebelt als jede Smoglage auf der Erde. Genau dort zeigen Experimente: Substanzen, die sich bei uns strikt meiden, können dort stabile Kristalle bilden. Methan, Ethan und Cyanwasserstoff – auf der Erde ein kaum zu vermählendes Trio – ordnen sich unter Titan-Bedingungen zu sogenannten Kokristallen. Laut beteiligten Teams von der Chalmers University of Technology und der NASA stellt das eine Grundregel der Chemie infrage: „Gleiches löst Gleiches“.
Warum ist das spannend für Sie? Titan gilt vielen Forschenden als Labor für die Frühzeit der Erde. Seine dichte Atmosphäre enthält viel Stickstoff und Methan, die Temperaturen liegen um 90 Kelvin, also etwa –180 °C. Unter solchen Bedingungen könnten sich frühe Bausteine des Lebens geformt haben. Wer verstehen will, wie Chemie ohne warme Ozeane und Sonnenschein startet, schaut nach Titan.
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Das Rätsel um HCN
Im Zentrum steht Cyanwasserstoff (HCN). Das Molekül ist stark polar, reagiert gern und spielt in Szenarien zur Vorstufe des Lebens eine Rolle. Aber was passiert mit HCN auf Titan wirklich? Lagert es sich einfach ab? Reagiert es mit der Umgebung? Ein Team am Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA stellte die Frage praktisch. Es mischte HCN mit flüssigem Methan und Ethan bei Titan-Temperaturen.
Der erste Befund: Die Moleküle blieben intakt. Trotzdem veränderte sich etwas im Material. Laserspektroskopie zeigte Signale, die nicht zu den bekannten Einzelstoffen passten. Um diese Spuren zu deuten, holte sich das JPL Unterstützung aus Göteborg: die Gruppe um Martin Rahm an der Chalmers-Universität, spezialisiert auf die theoretische Chemie von HCN.
„Das sind sehr spannende Ergebnisse, die uns helfen können, etwas in sehr großem Maßstab zu verstehen, nämlich einen Mond, der so groß ist wie der Planet Merkur“, sagt Rahm.
Wenn Unpolares ins Gitter schlüpft
Die Chalmers-Gruppe setzte auf groß angelegte Simulationen. Tausende Varianten wurden durchgespielt: Wie ließen sich die Atome im Festkörper anordnen? Wo könnten unpolare Moleküle andocken? Das Ergebnis: Kohlenwasserstoffe wie Methan und Ethan können in das Kristallgitter von HCN eindringen. Es entstehen neue, stabile Strukturen – Kokristalle.
Das Besondere daran: Polar und unpolar mischen sich nicht in einer Flüssigkeit, wie Öl und Wasser. Sie verbinden sich in der Kälte zu einem gemeinsamen Kristall. Unter Titan-Bedingungen halten schwache Wechselwirkungen das Gitter zusammen. Die berechneten Lichtspektren passten gut zu den gemessenen Signalen des JPL.
Rahms Fazit ist nüchtern: Die bekannte Daumenregel „Gleiches löst Gleiches“ hilft hier nicht weiter. „Ich sehe es als ein schönes Beispiel dafür, dass in der Chemie Grenzen verschoben werden und eine allgemein akzeptierte Regel nicht immer gilt“, sagt er.
Mehr als ein kurioser Sonderfall
Warum sollte Sie das interessieren, wenn Sie nicht täglich mit Kryochemie arbeiten? Weil es Konsequenzen für Geologie und Stoffkreisläufe auf Titan hat. Die Oberfläche des Mondes zeigt Seen, Meere und Dünen aus Kohlenwasserstoffen. Wenn HCN dort nicht nur abregnet, sondern sich in Kokristallen bindet, verändern sich Ablagerungen, Schichtungen und Transportwege.
Hinzu kommt ein zweiter Punkt: HCN gilt als Startpunkt für Reaktionsketten, die Aminosäuren oder Nukleobasen hervorbringen können. Das sind Bausteine von Proteinen und DNA/RNA. Wenn HCN mit Methan und Ethan zu stabilen Festkörpern wird, könnte es länger verfügbar bleiben. Oder es könnte Reaktionen an Grenzflächen fördern – dort, wo Festes und Flüssiges sich treffen. Derartige „kalte Oberflächenchemie“ wäre ein eigener Weg in Richtung komplexerer Moleküle.
Rahm formuliert es so: „Die Entdeckung der unerwarteten Wechselwirkung zwischen diesen Substanzen könnte unser Verständnis der Geologie des Titan und seiner seltsamen Landschaften aus Seen, Meeren und Sanddünen beeinflussen. Darüber hinaus spielt Cyanwasserstoff wahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der abiotischen Entstehung mehrerer Bausteine des Lebens … Unsere Arbeit liefert also auch Erkenntnisse über die Chemie vor der Entstehung des Lebens und darüber, wie sie in extremen, unwirtlichen Umgebungen ablaufen könnte.“
Was das für Missionen bedeutet
Die Theorie trifft bald auf neue Daten. 2034 soll die NASA-Mission Dragonfly auf Titan landen und Proben analysieren. Dann ließe sich prüfen, ob Kokristalle tatsächlich in Sedimenten auftreten, ob sie die Dünenstabilität beeinflussen oder Seenränder prägen. Bis dahin erweitern Simulationen und Laborversuche das Bild.
Die Leitfrage bleibt offen: Wie verteilt sich HCN wirklich auf Titan? Bildet es zusammen mit Kohlenwasserstoffen Schichten? Löst es sich wieder, wenn Temperaturen schwanken? Könnte es in tieferen Lagen andere Mischkristalle bilden? Antworten darauf würden helfen, die „kalte Chemie“ systematisch zu beschreiben – nicht nur auf Titan. HCN kommt auch in Staubwolken, Kometen und Planetenatmosphären vor. Die Ergebnisse könnten daher erklären, wie organische Chemie im All in Gang kommt, lange bevor es Ozeane gibt.
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