Aluminiumphosphid: So wirkt das tödliche Wanzengift
Eigentlich für Silos gedacht, tötet Aluminiumphosphid auch Menschen. Wir erklären die chemische Reaktion zu Phosphingas und die Symptome.
Auslöser der Gefahr: Wegen eines Befalls mit Bettwanzen (Cimex lectularius) greifen manche Hotelbetreiber zu drastischen Mitteln. Die unsachgemäße Anwendung von industriellem Aluminiumphosphid in Wohnräumen zur Bekämpfung dieser Parasiten kann jedoch tödliche Folgen für Menschen haben.
Foto: Smarterpix / jareynolds
Der Tod einer vierköpfigen Familie aus Hamburg während ihres Istanbul-Urlaubs sorgt für Bestürzung. Zunächst vermuteten Behörden eine Lebensmittelvergiftung durch Muscheln. Inzwischen deuten Autopsieberichte und toxikologische Untersuchungen in eine andere Richtung. Ein hochpotentes Insektizid könnte die Ursache sein: Aluminiumphosphid.
Der Fall weckt Erinnerungen an den Tod einer 21-jährigen Studentin der Leuphana Universität Lüneburg. Auch Marlene P. starb vor gut einem Jahr in Istanbul. Ein aktueller Obduktionsbericht legt nahe, dass auch sie Opfer einer Vergiftung wurde. In beiden Fällen gibt es Hinweise auf eine vorangegangene Schädlingsbekämpfung in benachbarten Räumlichkeiten – vermutlich gegen Bettwanzen. Doch was macht diesen Stoff so viel gefährlicher als handelsübliche Insektensprays?
Das Wichtigste in Kürze
- Tödliche Chemie:
Aluminiumphosphid reagiert bei Kontakt mit Luftfeuchtigkeit zu Phosphingas. Das farblose Gas ist hochtoxisch und dringt tief in Materialien ein. - Biochemischer Kollaps:
Phosphin blockiert die Cytochrom-c-Oxidase in den Mitochondrien. Dies stoppt die zelluläre Energiegewinnung und führt rasch zu Multiorganversagen. - Falscher Einsatzort:
Das Mittel ist für die industrielle Begasung von Getreidesilos und Containern konzipiert. Eine Anwendung in Wohnräumen, wie mutmaßlich in den Hotel-Fällen, ist lebensgefährlich. - Kein Gegengift:
Es existiert kein spezifisches Antidot. Die Behandlung beschränkt sich auf die Stabilisierung von Atmung und Kreislauf, was die Rettung oft erschwert. - Strenge Regulierung:
In Deutschland darf der Stoff nur von geprüften Fachkräften mit Sachkundenachweis und unter
strengen Sicherheitsauflagen (TRGS 512) verwendet werden.
Inhaltsverzeichnis
- Die Chemie hinter der Gefahr
- Einsatzgebiet: Industrie statt Schlafzimmer
- Strenge Regeln: Der Einsatz in Deutschland
- Genehmigungsrechtlich in Deutschland kaum darstellbar
- Biochemische Wirkung: Der Angriff auf die Zellatmung
- Diffuse Symptome erschweren die Diagnose
- Tödliche Dosis und Nachweis
- Verhalten im Ernstfall
- Rechtliche Konsequenzen
Die Chemie hinter der Gefahr
Aluminiumphosphid (AlP) ist kein klassisches Kontaktgift, wie man es aus der Sprühdose kennt. Es handelt sich um einen Feststoff. Hersteller vertreiben ihn meist in Form von Tabletten, Pellets oder Blöcken. Das Material selbst ist dunkelgrau bis dunkelgelb und kristallin. Die eigentliche Gefahr entsteht erst durch eine chemische Reaktion vor Ort.
Aluminiumphosphid reagiert mit Wasser oder schlicht mit der Luftfeuchtigkeit in der Umgebung. Bei dieser Hydrolyse entsteht Phosphorwasserstoff, besser bekannt als Phosphingas (PH₃). Die Reaktionsgleichung zeigt, wie aus dem Feststoff ein Gas wird, das tief in Materialien eindringt. Genau diese Eigenschaft macht es für die Industrie so wertvoll – und für den Menschen so riskant.
Das entstehende Gas ist farblos. Zwar beschreiben Berichte oft einen Geruch nach Knoblauch, verfaultem Fisch oder Abfall. Dieser Warngeruch ist jedoch kein verlässlicher Indikator. Er hängt stark von Zusatzstoffen und der Reinheit des Phosphins ab. Wenn Menschen den Geruch wahrnehmen, liegt die Konzentration oft schon weit über den zulässigen Grenzwerten.
Einsatzgebiet: Industrie statt Schlafzimmer
Fachleute setzen Aluminiumphosphid primär im Agrarsektor und in der Logistik ein. Es dient als Begasungsmittel für Getreidesilos, Lagerhallen oder Frachtcontainer. Der Wirkstoffanteil in den Tabletten liegt dabei oft bei 56 % oder 57 %.
Der Vorteil für die Industrie liegt in der hohen Durchdringungskraft. Das Gas kriecht in jede Ritze eines gefüllten Getreidesilos. Es erreicht Insektenlarven im Korn, tötet Käfer, Motten und sogar Nagetiere in ihren Bauten zuverlässig ab. Nach der Anwendung verflüchtigt sich das Gas bei korrekter Belüftung vollständig. Es hinterlässt keine Rückstände auf den Lebensmitteln.
Für den Einsatz in bewohnten Hotels oder Apartments ist das Mittel hingegen in der Regel nicht vorgesehen. Sicherheitsvorschriften verlangen normalerweise, dass begaste Räume hermetisch abgedichtet sind. Spezialisierte Fachfirmen müssen die Anwendung überwachen. Findet eine Begasung in einem Hotelzimmer statt, kann das Gas durch Lüftungsschächte, Steckdosen oder Ritzen in Decken und Böden in angrenzende Zimmer diffundieren.
Florian Eyer leitet die Abteilung für klinische Toxikologie am TUM Klinikum Rechts der Isar. Er ordnete die Berichte über den Weg des Gases im Fall der Hamburger Familie gegenüber der Süddeutschen Zeitung ein: „Das erscheint mir allerdings unlogisch, da Phosphin schwerer als Luft ist und entsprechend zu Boden sinken müsste.“ Dennoch bleibt die Diffusion in andere Räume ein realistisches Szenario, abhängig von der Thermik und der baulichen Substanz des Gebäudes.
Strenge Regeln: Der Einsatz in Deutschland
Auch hierzulande ist Aluminiumphosphid kein Unbekannter. Deutschland nutzt das Mittel durchaus, allerdings unter extrem strengen Auflagen. Es ist ein zentraler Baustein im Vorratsschutz der deutschen Agrarwirtschaft und Logistik. Vor allem in den großen Seehäfen wie Hamburg oder Bremerhaven begasen Spezialfirmen damit Importcontainer und Getreidesilos, um Schädlinge abzutöten, bevor die Ware in den Handel gelangt.
Der entscheidende Unterschied zu den tragischen Fällen im Ausland liegt in der Regulierung. In Deutschland darf keine Privatperson Aluminiumphosphid kaufen oder anwenden. Der Erwerb und Einsatz sind streng limitiert auf berufsmäßige Verwender mit einem spezifischen Sachkundenachweis nach der Gefahrstoffverordnung. Wer Begasungen durchführt, muss einen behördlich anerkannten Erlaubnisschein besitzen.
Genehmigungsrechtlich in Deutschland kaum darstellbar
Die Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS 512) definieren präzise Sicherheitsabstände und Messpflichten. Eine Begasung von Wohnhäusern oder Hotels zur bloßen Bettwanzenbekämpfung ist in Deutschland absolut unüblich und genehmigungsrechtlich kaum darstellbar.
Erlaubt ist dagegen der Einsatz in der Forstwirtschaft und im Ackerbau: Hier nutzen Fachleute Aluminiumphosphid-Pellets, um Wühlmäuse (Schermäuse) direkt in deren unterirdischen Gängen zu bekämpfen. Doch auch hier gilt: Die Anwendung in unmittelbarer Nähe zu Wohngebäuden ist tabu. Die deutsche Bürokratie wirkt hier als effektiver Lebensretter.
Biochemische Wirkung: Der Angriff auf die Zellatmung
Warum ist Phosphin für Säugetiere und Menschen so tödlich? Der Wirkmechanismus unterscheidet sich grundlegend von Nervengiften wie Pyrethroiden. Pyrethroide lähmen Insekten, indem sie Natriumkanäle blockieren. Für Menschen sind sie in üblichen Dosen meist ungefährlich, führen höchstens zu Übelkeit.
Phosphin hingegen ist ein starkes Stoffwechselgift. Atmet ein Mensch das Gas ein, gelangt es über die Lunge sofort ins Blut. Es verteilt sich im gesamten Organismus. Besonders betroffen sind Organe mit hohem Energiebedarf wie Herz, Leber und Nieren.
Auf zellulärer Ebene blockiert Phosphin die Cytochrom-c-Oxidase. Das ist ein entscheidendes Enzym in den Mitochondrien, den Kraftwerken unserer Zellen. Das Gas unterbricht also die Atmungskette. Die Zelle kann keine Energie mehr produzieren und stirbt ab. Gleichzeitig entstehen freie Radikale, die das Gewebe zusätzlich schädigen. Der klinische Verlauf ist dramatisch schnell. Die Energieversorgung bricht zusammen. Es kommt zum Multiorganversagen.
Diffuse Symptome erschweren die Diagnose
Das Tückische an einer Phosphin-Vergiftung ist die unspezifische Symptomatik. Wer das Gas einatmet, klagt zunächst oft über Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Magenschmerzen. Hinzu kommen Kopfschmerzen, Schwindel oder ein Engegefühl in der Brust.
Diese Anzeichen ähneln stark einer Lebensmittelvergiftung oder einem viralen Infekt. Gerade im Urlaub denken Betroffene und auch medizinisches Personal eher an verdorbene Muscheln vom Buffet als an ein hochtoxisches Industrie-Gas.
Diese Verwechslung kostet wertvolle Zeit. Denn ein spezifisches Gegengift (Antidot) für Aluminiumphosphid existiert nicht. Die Behandlung ist rein symptomatisch und unterstützend. Ärztinnen und Ärzte versuchen, Kreislauf und Atmung zu stabilisieren. Oft müssen Betroffene künstlich beatmet werden.
Tödliche Dosis und Nachweis
Die Toxizität von Aluminiumphosphid ist extrem hoch. Fachliteratur beziffert die potenziell tödliche Dosis bei oraler Aufnahme für einen Erwachsenen auf etwa 500 Milligramm. Bei Kindern genügt deutlich weniger. Wird das Gas inhaliert, können bereits wenige Minuten in einem kontaminierten Raum zum Tod führen. Die Sterberate bei schweren Vergiftungen liegt je nach Quelle zwischen 30 % und 100 %.
Ein nachträglicher Nachweis ist schwierig. Phosphin baut sich im Körper schnell ab oder reagiert weiter. Pathologen suchen bei einer Obduktion daher oft nach indirekten Hinweisen wie Flüssigkeitsansammlungen (Ödemen) in Lunge und Gehirn oder Zellschäden am Herzmuskel. Ein direkter Nachweis von Phosphingas ist etwa mittels Silbernitrat-Test in Mageninhalt oder Atemluft möglich – jedoch nur, wenn der Verdacht rechtzeitig besteht.
Verhalten im Ernstfall
Das Wissen um die Gefahr kann Leben retten. Reisende sollten bei merkwürdigen, chemischen oder knoblauchartigen Gerüchen im Hotelzimmer sofort reagieren. Das Öffnen der Fenster ist der erste Schritt, aber oft nicht ausreichend. Das Zimmer sollte umgehend verlassen werden.
Bei Symptomen wie Atemnot und Herzproblemen muss sofort der Rettungsdienst (in der EU und Türkei: 112) alarmiert werden. Wichtig für Helfende: Bei der Reanimation sollte auf Mund-zu-Mund-Beatmung verzichtet werden, um sich nicht selbst durch das ausgeatmete Gas des Patienten zu vergiften. Der Einsatz von Beatmungsbeuteln ist zwingend erforderlich.
Rechtliche Konsequenzen
Die juristische Aufarbeitung solcher Fälle ist komplex. Im Fall der Lüneburger Studentin Marlene P. hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg den Obduktionsbericht aus der Türkei angefordert. Sollten sich konkrete Verdachtsmomente gegen Personen richten, planen die Behörden ein Rechtshilfeverfahren.
Der Einsatz von Aluminiumphosphid in Hotels ist in vielen Ländern streng reguliert oder verboten. Dennoch greifen manche Betreiber bei massivem Bettwanzenbefall wohl zu drastischen Mitteln – oft mit fatalen Folgen für unbeteiligte Gäste in Nebenräumen. Die Unterscheidung zwischen professionellen Industrieprodukten (wie den 56-%-Tabletten) und Verbraucherprodukten ist hierbei essenziell. B2B-Käufer müssen Sicherheitsdatenblätter und Zertifikate vorweisen. Wie das Gift dennoch in Hotelzimmer gelangt, bleibt Gegenstand der laufenden Ermittlungen.
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