Tief unter dem Watt 26.10.2025, 09:10 Uhr

Wie Norderney für die Energiewende durchbohrt wird

Unter Norderney werden derzeit Stromkabel verlegt, um den Windstrom an Land zu bringen. Wir schauen uns das Projekt genauer an.

Norderney

Um mehr Windstrom von der Nordsee bis in die Übertragungsnetze am Festland zu transportieren, bohrt der Netzbetreiber Amprion für weitere Stromkabel unter der Insel Norderney hindurch.

Foto: picture alliance/dpa | Sina Schuldt

Wer auf Norderney Urlaub macht, ahnt kaum, was sich wenige Meter unter dem Watt abspielt. Nur ein paar Hundert Meter vom berühmten Leuchtturm entfernt liegt eine Großbaustelle, die es so auf den Ostfriesischen Inseln noch nicht gegeben hat. Dort bohren Arbeiter im Auftrag des Netzbetreibers Amprion unter der Insel hindurch – tief unter Dünen, Deichen und Salzwiesen. Ihr Ziel: Stromkabel, die Windenergie von der Nordsee ans Festland bringen.

Im Sommer herrscht auf der Insel Hochbetrieb – nicht nur am Strand, sondern auch auf der Baustelle. Der Grund: Gebaut werden darf nur in einem engen Zeitfenster. Zwischen Mitte Juli und Ende September, wenn die Brutzeit der Vögel vorbei ist, wird gebohrt, geschweißt und verlegt. Danach ist Schluss, weil die Sturmflutsaison beginnt. Für Amprion bedeutet das: präzise Planung, viel Logistik und jede Menge Fingerspitzengefühl.

Der Windstrom muss an Land

Die Energiewende spielt sich längst nicht mehr nur auf dem Festland ab. Vor der niedersächsischen Küste entstehen riesige Windparks auf See – schwimmende Kraftwerke mit Turbinen, die so hoch sind wie der Kölner Dom. Doch der Strom muss auch irgendwo hin. Er wird über sogenannte Offshore-Netzanbindungssysteme wie DolWin4, BorWin4, BalWin1 und BalWin2 an Land gebracht.

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Jede dieser Leitungen hat eine enorme Leistung. DolWin4 und BorWin4 schaffen jeweils 900 MW – genug für rund 1,8 Millionen Menschen. BalWin1 und BalWin2 gehen noch weiter: 2000 MW pro System. Zusammengenommen decken sie den Strombedarf von etwa vier Millionen Menschen.

Damit das funktioniert, müssen dicke Hochspannungskabel von der Nordsee unter Norderney hindurchgeführt werden. Die Kabel selbst werden in Rohren mit 40 cm Durchmesser eingebettet.

Wie man eine Insel unterbohrt

Die Bohrung erfolgt mit dem sogenannten Horizontalspülbohrverfahren (englisch Horizontal Directional Drilling, kurz HDD). Statt wie früher einen Graben zu ziehen, wird die Insel einfach unterirdisch durchbohrt. Das Verfahren hat sich bei der Anbindung von Offshore-Windparks längst bewährt, weil es die Natur weitgehend schont.

„Vorne an der Düse des Bohrkopfes tritt die Spülung aus, und der Boden wird abgebaut“, erklärt Amprion-Projektleiter Henning Gründemann. Diese Spülung ist ein Gemisch aus Wasser und Bentonit, einem natürlichen Tonmineral. Es kühlt den Bohrkopf, transportiert das abgetragene Material zurück und stabilisiert zugleich den Bohrkanal. Kommt die Spülung zum Stillstand, quillt sie auf wie Wackelpudding – so bleibt der Kanal auch über Tage stabil.

Drei Schritte zum Ziel

Das HDD-Verfahren läuft in drei Phasen ab: Zuerst bohren die Fachleute eine Pilotbohrung. Mit einem dünnen Bohrgestänge wird die spätere Trasse millimetergenau festgelegt. Dann folgt die Aufweitbohrung, bei der ein „Räumer“ den Kanal auf den endgültigen Durchmesser bringt. Schließlich wird der Bohrkanal mit vorgefertigten Schutzrohren bestückt, in die später die Stromkabel eingezogen werden.

Für die Querung Norderneys sind gleich mehrere dieser Bohrungen nötig – jeweils rund 540 m lang. Eine Bohrung dauert etwa eine Woche. Gearbeitet wird gleichzeitig an drei Punkten: in der Inselmitte, im Watt und an der Seeseite. Die Bohrungen von der Inselmitte ins Watt laufen 2025, jene zur Nordseite folgen 2026.

Eine Baustelle im Rhythmus der Gezeiten

Ebbe und Flut bestimmen den Takt. Wenn sich das Wasser zurückzieht, werden Plattformen im Watt sichtbar, sogenannte Pontons, die als schwimmende Arbeitsflächen dienen. Sie sind über eine provisorische Seilfähre mit der Insel verbunden – damit Material und Menschen hin und her gelangen, ohne den Wattboden zu beschädigen.

Gründemann erklärt: „Da der Fährponton keinen eigenen Antrieb besitzt und sehr flach gebaut ist, schonen wir den Untergrund und die Lebewesen im Watt so gut wie möglich.“

Kein Tropfen darf bleiben

Um die Natur zu schützen, gilt bei den Arbeiten das sogenannte Null-Einleitungsprinzip. „Nichts, was wir mitbringen, dürfen wir hierlassen“, betont Gründemann. Das bedeutet: Kein Öl, kein Benzin, kein Frischwasser und keine Bohrreste dürfen ins Watt gelangen. Auch die Bohrspülung wird vollständig aufgefangen, gefiltert und wiederverwendet.

Das abgetragene Material – größtenteils Sand – landet nicht auf der Insel, sondern wird aufs Festland gebracht. Über 100 Lkw-Ladungen pro Jahr werden dort für Deichbauprojekte genutzt. So wird aus Aushub wieder Küstenschutz.

Wenn der Druck steigt

Ganz ohne Risiko ist das Verfahren trotzdem nicht. Je tiefer und weiter gebohrt wird, desto höher muss der Druck der Bohrspülung sein, um sie zirkulieren zu lassen. Wenn der Untergrund rissig oder ungleichmäßig ist, kann die Spülung an die Oberfläche austreten – Fachleute sprechen von einem Ausbläser.

„Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte“, sagt Gründemann. Denn dann würde der Bohrkanal undicht, und Spülflüssigkeit könnte in den Nationalpark gelangen. Bisher sei das aber nicht passiert. Ein engmaschiges Monitoring soll sicherstellen, dass es so bleibt.

Bohrungen für Strom

Ein noch leeres rotes Kunsstoffrohr, in das später ein Seekabel eingezogen wird. Auf der ostfriesischen Insel Norderney finden Bauarbeiten für die Netzanbindungssysteme BalWin1 und BalWin2 statt.

Foto: picture alliance/dpa | Sina Schuldt

Wenn die Kabel kommen

Sind die Rohre verlegt, folgt der spektakulärste Teil: der Kabeleinzug. Dabei werden die tonnenschweren Seekabel von der Wasserseite her in die Schutzrohre gezogen. Jedes Kabel wiegt etwa 50 kg/m. Spezielle Verlegeschiffe wie die „Barbarossa“ bringen die Leitungen an Ort und Stelle.

„Die Kabel müssen an Bord um viele Ecken herumgeführt werden“, erklärt Teilprojektleiter André Lutz. Von der Wattseite und der Seeseite werden die Kabel Stück für Stück in Richtung Inselmitte gezogen. Dort treffen sie sich und werden mit einer Muffe verbunden – unterirdisch und unsichtbar für die Badegäste oben am Strand.

Der Einzug eines Kabels dauert ein bis zwei Tage. Insgesamt entstehen so Trassen, die später Strom für Millionen Haushalte transportieren.

Warum wird unter Norderney gebohrt – und nicht außen herum?

Das hat laut Amprion technische und sicherheitliche Gründe. Laut den Netzbetreibern – insbesondere Amprion und Tennet – wirken zwischen den Ostfriesischen Inseln extrem starke Strömungen. Ebbe und Flut verändern dort ständig den Meeresboden. Sedimente wandern, Priele verlagern sich, und die Wassertiefen ändern sich teils innerhalb weniger Wochen.

In solchen dynamischen Zonen wäre eine sichere Kabelverlegung „außen herum“, also zwischen den Inseln, technisch kaum möglich. Die Leitungen könnten dort freigespült oder beschädigt werden. Außerdem wären die Wartung und Reparatur in den ständig verschobenen Sandrinnen nur schwer machbar.

Was sagen Umweltschützer dazu?

Hier gibt es deutliche Kritik. Mehrere Umweltorganisationen – darunter der BUND, der NABU und der WWF – warnen, dass die Vielzahl an Kabelprojekten den Nationalpark Wattenmeer langfristig beeinträchtigen könnte. In einem gemeinsamen Positionspapier fordern neun Verbände, alternative Routen entlang von Flussmündungen, etwa über Ems oder Elbe, zu prüfen.

Sie argumentieren, dass die ständige Ausweitung von Bohrtrassen unter Inseln und Wattflächen die empfindlichen Lebensräume der Wattenfauna stören könnte. Besonders Brutvögel, Seegraswiesen und Wattwürmer reagieren sensibel auf Bauarbeiten, selbst wenn diese zeitlich eingeschränkt sind.

Auch wenn die Bohrungen geschlossen erfolgen, bleiben Materialtransporte, Baulärm und Pontons im Watt sichtbare Eingriffe. Der Nationalpark Wattenmeer ist UNESCO-Weltnaturerbe – entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Schutzstatus. Das Land Niedersachsen hat die Kritik teilweise aufgenommen. Das Landwirtschaftsministerium erklärte, man unterstütze die Idee, mehr Kabel über Flussmündungen zu führen:

„Das Land Niedersachsen setzt sich hierbei für eine verstärkte Nutzung der Mündungen an Ems und Elbe ein.“ Die Netzbetreiber halten jedoch dagegen: Die Strömungen zwischen den Inseln seien zu stark, um dort Kabel sicher zu verlegen.

Die Windader West

Was heute auf Norderney geschieht, ist nur ein Kapitel in einem viel größeren Projekt. Die sogenannten Windadern sind Stromautobahnen, die Windenergie von der Nordsee bis in die Industrieregionen im Westen Deutschlands leiten. Norderney ist dabei ein zentraler Knotenpunkt der „Windader West“, die bis ins Ruhrgebiet reicht.

Insgesamt betreibt Amprion rund 11.000 km Übertragungsnetz und will bis 2029 36,4 Milliarden Euro in den Netzausbau investieren. „Unsere Leitungen sind Lebensadern der Gesellschaft“, heißt es im Unternehmensprofil. Rund 3100 Mitarbeitende sorgen dafür, dass der Strom fließt – vom Meer bis zu den Alpen. (mit dpa)

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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