Mathematiker retteten 1743 mit der ersten Statik den Petersdom
Im Jahr 1743 entstand im Petersdom die erste Statik der Welt. Drei Mathematiker retteten die Kuppel – ein Wendepunkt der Bauingenieurkunst.
Dass wir die Kuppel des Petersdoms heute noch in voller Pracht bewundern dürfen, haben wir drei Mathematikprofessoren zu verdanken. Diese berechneten 1743 die erste Statik der Welt und konnten die geschädigte Kuppel damit retten.
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Vor fast 300 Jahren wagten drei Mathematikprofessoren etwas Revolutionäres: Sie erklärten die Risse in der Kuppel des Petersdoms nicht mit handwerklichen Regeln, sondern mit Mathematik. Damit entstand 1743 in Rom die erste „Statik“ der Welt – ein Meilenstein der Bauingenieurkunst. Der Schweizer Bauhistoriker Hans Straub bezeichnete die Berechnung sogar als Geburtsstunde des Bauingenieurwesens.
Ein Gutachten im Auftrag des Papstes
Als Papst Benedikt XIV. Ende 1742 die alarmierenden Schäden an der Kuppel des Petersdoms sah, beauftragte er nicht etwa erfahrene Baumeister, sondern drei Gelehrte: Ruggiero Giuseppe Boscovich, Tommaso Le Seur und Francesco Jacquier.
Ihr schriftliches Gutachten erschien im März 1743 unter dem Titel: „Die Ansicht von drei Mathematikern zu den Schäden, die an der Kuppel des Petersdoms festgestellt wurden.“
Dieses Manuskript gilt heute als die erste Statik der Welt. Denn erstmals wurden die Prinzipien der Mechanik systematisch genutzt, um Schäden an einem Bauwerk zu erklären – und nicht nur aus Erfahrung oder Tradition zu handeln.
Die Revolution: Von der Baupraxis zur Wissenschaft
Bis ins 18. Jahrhundert wurde Architektur im Wesentlichen nach handwerklicher Überlieferung betrieben. Das römische Gutachten markierte den Übergang von der gewohnheitsmäßigen Baupraxis zur wissenschaftlich fundierten Tragwerksplanung.
Neu war nicht nur der Einsatz mathematischer Methoden, sondern auch die Zielsetzung: Die Berechnungen dienten nicht der Planung, sondern der Ursachenforschung. Die Mathematiker sollten erklären, warum die Kuppel Risse zeigte – und wie man einen Einsturz verhindern konnte.
Dass der Petersdom dabei eine zentrale Rolle spielte, war kein Zufall. Michelangelos Kuppel war seit ihrer Fertigstellung im 16. Jahrhundert das größte gemauerte Gewölbe der Welt – ein Symbol kirchlicher Macht und architektonischer Kühnheit. Ein Einsturz hätte nicht nur bautechnisch, sondern auch politisch und religiös verheerende Folgen gehabt.
Die Analyse: Woher die Risse wirklich kamen
Die Gelehrten beschrieben die Kuppel und ihre sichtbaren Schäden mit großer Genauigkeit. Sie kamen zu einer bis heute gültigen Erkenntnis: Die Risse waren nicht durch Setzungen des Bauwerks verursacht, sondern durch eine unzureichende Aufnahme der Horizontalkräfte am Kämpfer.
Um diese Kräfte zu beherrschen, empfahlen sie zusätzliche Eisenringe, die wie Gürtel um die Kuppel gelegt werden sollten. Dieses Prinzip der „Eisenspannringe“ findet sich bis heute bei der Sicherung historischer Gewölbe.
Die erste statische Berechnung
Im Kern des Gutachtens stehen zehn Seiten mit Berechnungen – ein Novum in der Baugeschichte.
- Lastannahmen: Die Mathematiker ermittelten die Massen einzelner Kuppelteile und prüften deren Plausibilität.
- Eisenketten: Für die Festigkeit griffen sie auf Versuche des Physikers Pieter van Musschenbroek zurück. Rechenfehler führten zwar zu Unsicherheiten, wirkten aber unbeabsichtigt wie ein Sicherheitsaufschlag.
- Virtuelle Verschiebungen: Mit einem Prinzip, das bis heute in der Mechanik gelehrt wird, untersuchten sie das Gleichgewicht der Kräfte, indem sie hypothetische Bewegungen annahmen.
Die vereinfachte Modellierung – die Kuppel wurde als „Apfelsinenscheibenmodell“ behandelt – reduzierte das komplexe räumliche Tragwerk auf ein ebenes Problem.
Grenzen des Wissens
Aus heutiger Sicht war die „erste Statik“ eine Mischung aus brillanter Idee und grober Vereinfachung.
- Das Hooke’sche Gesetz, das den Zusammenhang zwischen Spannung und Dehnung beschreibt, war noch nicht bekannt.
- Das elastische und plastische Verhalten von Eisen wurde ignoriert, man rechnete mit Bruchlasten.
- Wichtige Effekte, etwa tangentiale Druckkräfte in den Breitenkreisen der Kuppel, erkannte man erst im 19. Jahrhundert.
Die Folge: Die Ergebnisse waren stark auf der sicheren Seite – so entstand der bis heute bekannte Ruf von Statikern als „Kaputtrechner“ oder „Überdimensionierer“.
Bedeutung für die Baugeschichte
Trotz mancher Irrtümer war das Gutachten ein historischer Durchbruch. Zum ersten Mal wurden sichtbare Schäden und Verformungen eines Bauwerks mit den Gesetzen der Mechanik erklärt.
Die größte Schwäche lag nicht in den Fehlern der Berechnung, sondern im fehlenden Diskurs: Die Mathematiker legten ihre Rechenwege nicht offen und verzichteten auf eine Diskussion ihrer Annahmen. Das erschwerte späteren Generationen das Nachvollziehen.
Doch der Schritt war entscheidend: Von nun an sollte das Tragverhalten von Bauwerken nicht mehr nur intuitiv, sondern auch rechnerisch untersucht werden.
Kuppel des Petersdoms – Zahlen und Fakten
Gesamtgewicht: ca. 14.000 Tonnen
Höhe außen: 133,30 m (Straßenniveau bis Kreuzspitze)
Höhe innen: 117,57 m (Boden bis Laternengewölbe)
Durchmesser außen: 58,90 m
Durchmesser innen: 41,50 m
Die Kuppel, entworfen von Michelangelo Buonarroti, gilt als eines der genialsten Werke der Renaissance und wird jährlich von Millionen Menschen besucht.
Baugeschichte
- Baubeginn: 1546 unter Papst Paul III. Farnese
- Unterbrechung nach Michelangelos Tod 1564
- Fortsetzung 1588 unter Papst Sixtus V. durch Giacomo Della Porta und Domenico Fontana
- Fertigstellung nach 22 Monaten Bauzeit, gefeiert mit Messe und Feuerwerk
- 1592–1605: Fertigstellung der Laterne unter Papst Clemens VIII.
- 18. November 1593: Aufsetzen der vergoldeten Bronzekugel mit Kreuz von Sebastiano Torrigiani
Besonderheit
Der Aufstieg erfolgt über die berühmte „Schnecke von St. Andreas“: 537 Stufen führen zur äußeren Galerie mit Panoramablick auf Petersplatz, Berninis Kolonnade, Rom und bis zu den Castelli Romani und dem Meer.
Vom Petersdom nach Afrika
Bemerkenswert ist, dass der Petersdom trotz des damals festgestellten „Defizits“ nicht einstürzte. Im Gegenteil: Er steht bis heute.
Und er fand sogar einen Zwilling: 1990 wurde in Abidjan, Côte d’Ivoire, die Kirche Notre Dame de la Paix eingeweiht – ein nahezu exakter Nachbau des Petersdoms. Dort konnten moderne Statiker mit Computermodellen arbeiten, ganz im Gegensatz zu den Pionieren von 1743.
Wirkungsgeschichte und heutige Relevanz
Die Arbeit von Boscovich, Le Seur und Jacquier gilt als Ausgangspunkt einer neuen Disziplin. Erst im 19. Jahrhundert entwickelten Ingenieure wie Coulomb, Navier oder später Euler und Maxwell die Statik zu einer eigenständigen Wissenschaft mit festen Regeln.
Heute nutzen Statiker leistungsfähige Software wie die Finite-Elemente-Methode (FEM). Diese zerlegt komplexe Geometrien in viele kleine Teilbereiche – eine konsequente Weiterentwicklung des vereinfachten „Apfelsinenscheibenmodells“ von 1743.
Das Prinzip bleibt gleich: Ein Bauwerk wird in Teilprobleme zerlegt, Kräfte werden bilanziert, und Sicherheitsfaktoren schützen vor Unsicherheiten.
Die beiden Dresdner Ingenieure Wilfried Wapenhans und Jens Richter haben sich mit der ersten Statik der Welt ausführlich beschäftigt: Hier geht es zur Originalpublikation
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