Eiffelturm des Nordens 23.07.2025, 14:00 Uhr

Schwebefähre über die Oste: Ein Denkmal aus 248 t Stahl

Die Schwebefähre Osten-Hemmoor ist ein Pionierbau der Ingenieurtechnik – nun erfordert Rost umfangreiche Maßnahmen. Wir blicken auf eine spannende Geschichte.

Schwebefähre Osten-Hemmoor

Über 100 Jahre alt und noch immer in Betrieb: Die älteste Schwebefähre Deutschlands steht vor ihrer größten technischen Herausforderung.

Foto: picture alliance/dpa/Sina Schuldt

Sie schwebt gemächlich über das Wasser der Oste – seit mehr als 100 Jahren. Doch der stählerne Koloss zwischen Osten und Hemmoor steht heute unter Druck: Die älteste Schwebefähre Deutschlands muss dringend saniert werden. Rost frisst sich durch die genietete Stahlkonstruktion, Teile drohen zu versagen. Die Kosten liegen bei mehr als 8,6 Millionen Euro. Für viele Technikbegeisterte, Reisende und Radfahrende ist die Fähre ein Wahrzeichen im Elbe-Weser-Dreieck – doch wie lange noch?

Um zu verstehen, was auf dem Spiel steht, lohnt sich ein Blick zurück: auf ein Jahrhundert voller technischer Raffinessen, gesellschaftlicher Umbrüche und mutiger Entscheidungen.

Zwischen Pferdefuhrwerk und Seeschiff: Warum eine Schwebefähre gebaut wurde

Ende des 19. Jahrhunderts war die Oste eine vielbefahrene Wasserstraße. Segelschiffe mit hohen Masten transportierten Waren durchs Elbvorland. Für den lokalen Verkehr gab es nur eine Prahmfähre, die Osten mit dem heutigen Ortsteil Basbeck verband. Diese war witterungsabhängig und oft nicht einsatzbereit – besonders bei Hochwasser, Eisgang oder Stürmen.

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Die Gemeinde Osten suchte nach einer besseren Lösung. Ursprünglich war eine Drehbrücke im Gespräch. Doch die geplanten Kosten lagen bei über 400.000 Mark – für damalige Verhältnisse eine enorme Summe. Hinzu kamen Bedenken wegen der langen Öffnungszeiten für Schiffe.

Am 10. Mai 1899 fasste der Gemeinderat daher einen neuen Plan: Eine Schwebefähre sollte her. Sie sollte wetterunabhängig arbeiten, Fahrzeuge und Personen transportieren und dabei genügend Raum für den Schiffsverkehr lassen. Eine lichte Höhe von 21 Metern über dem höchsten Wasserstand war das Maß aller Dinge – schließlich mussten „vollbemastete Seeschiffe unbehindert durchfahren können“, wie es in den Bauunterlagen heißt.

Der Bau: Genietet, geplant, geschleppt

Erst 1908 war die Finanzierung geklärt. Die Gemeinde beauftragte das MAN-Werk Gustavsburg bei Mainz mit dem Bau der Stahlkonstruktion. Den elektrischen Antrieb lieferte die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG). Als Bauleiter vor Ort engagierte man Max Pinette – einen jüdischen Ingenieur aus Berlin-Charlottenburg, der später tragisch in der NS-Zeit verschwand.

Entgegen einer weitverbreiteten Legende war Pinette jedoch weder Franzose noch Schüler von Gustave Eiffel. Die Geschichte vom „Louis Pinette“ ist erfunden und kursiert bis heute auf über 300 Websites – ein Beispiel dafür, wie Tourismusmythen die Realität überlagern können. Konstruiert wurde die Schwebefähre nach Plänen des Wasserbauinspektors Abraham.

Trotz eines späten Baustarts im Winter 1908 war das Bauwerk im August 1909 fertig. Die offizielle Einweihung fand am 1. Oktober desselben Jahres statt – mit Festreden, Musik und dem Versprechen, eine neue Ära der Mobilität einzuleiten.

Prinzip einer Schwebefähre

Stählernes Traggerüst
Zwei massive Pylone stehen an beiden Ufern. Zwischen ihnen spannt sich ein Brückenträger – meist aus genieteten Stahlfachwerken. Dieses Gerüst ist fest installiert und überquert das Gewässer in großer Höhe (bei der Fähre Osten-Hemmoor z. B. 21 m über dem höchsten Wasserstand), damit der Schiffsverkehr ungehindert passieren kann.

Gondel
Unter dem Träger hängt eine bewegliche Plattform – die sogenannte Gondel oder Transportbühne. Sie ist über Stahlseile oder Schienen mit dem Brückenträger verbunden.

Antrieb
Ein Elektromotor (meist am Ufer stationiert) treibt über ein Seilzugsystem die Gondel an. Diese fährt langsam, aber zuverlässig auf Schienen oder Laufrollen von einer Flussseite zur anderen.

Transport
Auf der Gondel haben Fußgänger*innen, Radfahrende und leichte Fahrzeuge Platz. Bei der Schwebefähre Osten-Hemmoor fasst die Gondel z. B. zwei Fuhrwerke oder heutige Fahrräder plus Passagier*innen.

 

Technik auf Höhe der Zeit – und heute noch funktionstüchtig

Die Schwebefähre Osten–Hemmoor zählt zu den weltweit letzten acht funktionierenden Anlagen dieser Bauart. Sie basiert auf einem genieteten Stahlfachwerk, das sich in 38 Metern Höhe über den Fluss spannt. Die Gondel – ein kastenförmiger Transportwagen – ist 16 Meter lang, 4,30 Meter breit und wiegt 34 Tonnen.

Der elektrische Antrieb, ursprünglich mit Gleichstrom betrieben, wurde in den 1920er Jahren auf Drehstrom umgestellt. Der Elektromotor bringt 13 Kilowatt Leistung und bewegt die Gondel über ein oben liegendes Schienensystem. Die Traglast beträgt 18 Tonnen – genug für zwei Fuhrwerke und 25 Personen, wie es das ursprüngliche Lastprofil vorsah.

Das gesamte Bauwerk misst 90 Meter in der Länge. Die freie Spannweite zwischen den Pylonen beträgt 80 Meter. Die Gondel bewegt sich mit einer Art Laufkatze über die Oste, gezogen von Stahlseilen, die mit dem Motor verbunden sind.

Die genieteten Streben erinnern nicht zufällig an den Pariser Eiffelturm. Das Fachwerkprinzip war zu dieser Zeit ein beliebter Baustil im Brückenbau – ästhetisch wie funktional.

Technische Daten der Schwebefähre Osten–Hemmoor

• Verbaute Stahlmenge: 286 Tonnen
• Länge des Bauwerks: 90 m
• Stützweite des Überbaus: 80 m
• Gesamthöhe: 38 m
• Höhe des Fachgerüsts: 8 m
• Konstruktions-Unterkante: 30 m über NN
• Durchfahrtshöhe beim höchsten Wasserstand: 21 m
• Portalweite: 25 m
• Abstand der Tragwände: 10 m
• Schweberahmen: 8 m × 8,75 m
• Gondelgröße: 16 m × 4,30 m
• Eigengewicht der Gondel: 34 t
• Traglast der Gondel: 18 t
• Spurweite des Wagengleises: 9,20 m
• Antrieb: Elektromotor mit 13 kW Leistung

 

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Zwischen Kriegsjahren, Motorisierung und Verkehrschaos

Nach der Einweihung im Jahr 1909 war die Schwebefähre für Jahrzehnte das zentrale Verkehrsmittel über die Oste bei Osten. Zunächst genügte ihre Kapazität völlig. Doch mit der zunehmenden Motorisierung in den 1950er- und 1960er-Jahren stieß sie an ihre Grenzen. Lange Wartezeiten waren die Folge, besonders in den Sommermonaten.

Trotz dieser Engpässe war der Betrieb wirtschaftlich erfolgreich. Die Schwebefähre erwirtschaftete regelmäßig Gewinne – eine Seltenheit bei öffentlichen Verkehrsmitteln auf dem Land. 1966 wurde der untere Teil der Gondel aufgrund eines TÜV-Gutachtens erneuert. Die Belastung durch schwerere Fahrzeuge wuchs stetig.

Parallel dazu reiften die Pläne für eine neue Brücke. Der Verkehr war nicht mehr zu bändigen, und moderne Ansprüche an Mobilität verlangten nach einer dauerhaften Lösung.

Stillgelegt, aber nicht vergessen

Als 1974 die neue Brücke der Bundesstraße 495 eröffnet wurde, war das Schicksal der Fähre zunächst besiegelt. Bereits am nächsten Tag stellte man den regulären Betrieb ein. Die Gondel hing fortan ungenutzt in der Luft.

Der Abriss schien nur noch Formsache zu sein – doch Denkmalpflegende und engagierte Bürger*innen stemmten sich dagegen. 1975 wurde die Fördergesellschaft zur Erhaltung der Schwebefähre Osten gegründet. Sie nahm sich vor, das technische Denkmal zu bewahren und touristisch zu nutzen. Der Landkreis Land Hadeln übernahm die Fähre in sein Eigentum.

1975/76 wurde das Traggerüst erstmals überarbeitet. Es erhielt einen neuen Farbanstrich und wurde durch Sandstrahlen vom alten Rost befreit. Danach war die Anlage wieder eingeschränkt nutzbar – zumindest für Führungen und Sonderfahrten.

Rückkehr in den Betrieb: Aus Denkmal wird Ausflugsziel

Nach einem umfassenden Gutachten im Jahr 2001 war klar: Die Schwebefähre war erneut sanierungsbedürftig. Elektrik, Antrieb und Korrosionsschutz mussten vollständig erneuert werden. Die Kosten lagen bei 1,1 Millionen Euro – gedeckt vor allem durch das Land Niedersachsen.

2006 war es dann so weit: Die Schwebefähre nahm den touristischen Betrieb wieder auf. Von April bis Oktober transportiert sie seither Fußgänger*innen, Radfahrende und kleine Fahrzeuge über die Oste – langsam, leise und mit einem Hauch Geschichte.

Entlang der sogenannten Info-Meile der Welt-Schwebefähren in Hemmoor geben Schautafeln Auskunft über die Historie dieser seltenen Verkehrsform. Ergänzt wird das Angebot durch die kleine Ausstellung „Fährstuv“, die mit Fotos, Filmmaterial und Tastobjekten die Geschichte des Bauwerks erzählt.

Schwebefähre Osten-Hemmoor

Rost und Witterung setzen der Konstruktion zu: Für die Sanierung des Technikdenkmals sind über 8,6 Millionen Euro veranschlagt.

Foto: picture alliance/dpa/Sina Schuldt

Die nächste Runde: Der Rost schlägt zurück

Heute steht die älteste deutsche Schwebefähre wieder vor einer Zäsur. Salzhaltige Luft, Regen, UV-Strahlung und Frost setzen der Konstruktion erneut zu. Karl-Heinz Brinkmann von der Fördergesellschaft erklärt: „Salzhaltige Luft, Sonne, Frost und sonstige Witterungseinflüsse lassen den Rost erblühen und schwächen die Stahlkonstruktion.“

Zahlreiche Stellen der Konstruktion sind durch Korrosion angegriffen. Einige Bauteile müssen ersetzt, andere aufwendig gereinigt und versiegelt werden. Die Arbeiten sollen sich über zwei Jahre erstrecken und mehr als 8,6 Millionen Euro kosten.

Die Finanzierung ist auf mehreren Schultern verteilt:

  • 2 Millionen Euro übernimmt der Bund
  • 80.000 Euro kommen von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und anderen
  • Den Löwenanteil von 6,5 Millionen Euro trägt der Landkreis

Die Arbeiten sollen im nächsten Jahr starten. Ziel ist es, die Substanz dauerhaft zu sichern, ohne den historischen Charakter zu verfälschen. In der Zeit der Sanierung ruht der Betrieb.

Ein Denkmal mit weltweiter Bedeutung

Weltweit gibt es laut dem Weltverband der Schwebefähren nur noch acht funktionsfähige Anlagen. Neben Osten-Hemmoor zählen dazu u. a. die Puente de Vizcaya bei Bilbao, die Schwebefähre in Rochefort (Frankreich) sowie drei weitere in Großbritannien.

Einige sind bereits als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt, so etwa die Vizcaya-Brücke in Spanien. Die Bewerbungen der deutschen Schwebefähren – in Osten und Rendsburg – blieben bislang erfolglos. Der Titel ist also ausgeblieben, doch die Bedeutung bleibt: Als ingenieurtechnisches Zeugnis einer längst vergangenen Epoche zieht die Fähre jedes Jahr Tausende an. Immerhin wurde die Schwebefähre 2009 von der Bundesingenieurkammer als Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland ausgezeichnet.

Ein Phantom, das nie existierte

Bis heute hält sich eine Geschichte, die sich zwar gut anhört, aber nicht der Wahrheit entspricht. Immer wieder ist zu lesen, der Bau sei auf das Konto eines gewissen Louis Pinette gegangen – angeblich ein Schüler von Gustave Eiffel. Doch: Diesen Mann hat es nie gegeben.

Die Idee stammt wahrscheinlich aus den Reihen der örtlichen Tourismusförderung. In Wahrheit war Max Pinette, ein junger Berliner Ingenieur jüdischer Herkunft, mit der Bauleitung vor Ort betraut. Er überwachte die Montage der Bauteile, die zuvor im MAN-Werk gefertigt worden waren. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlieren sich seine Spuren. Historiker*innen vermuten, dass er gemeinsam mit seiner Frau in die Schweiz fliehen wollte, dort aber abgewiesen wurde.

Was bleibt, ist die Konstruktion – ein Bauwerk aus einer Zeit, in der Stahl, Strom und Fortschritt noch verheißungsvoll klangen. Die Stahlstreben erinnern an Eiffel, auch wenn sein Name hier keine Rolle spielte. Der Spitzname „Eiffelturm des Nordens“ ist dennoch erlaubt – zumindest architektonisch.

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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