Vom Baufehler zum Weltwunder 30.08.2025, 15:00 Uhr

Schiefer Turm von Pisa: Was wir aus 850 Jahren Baugeschichte lernen

Wie ein Baufehler den Schiefen Turm von Pisa berühmt machte – und Ingenieurinnen und Ingenieure ihn mit Technik vor dem Einsturz retteten.

Schiefer Turm von Pisa

Der Schiefe Turm von Pisa: Vom Baufehler zum Wahrzeichen. Wie Ingenieure ihn stabilisierten und warum er weiter schräg bleibt.

Foto: Smarterpix / michael-ka

Auf dem Campo dei Miracoli in Pisa drängen sich täglich Tausende Menschen. Fast alle tun dasselbe: Sie stellen sich vor den Turm, strecken die Hände in die Luft und lassen sich fotografieren, als hielten sie ihn mit bloßer Kraft aufrecht. Der Schiefe Turm von Pisa ist längst ein Spielzeug für Touristen aus aller Welt. Doch hinter seiner Schräglage verbirgt sich eine Geschichte voller Baufehler, Fehlentscheidungen, Kriege – und spektakulärer Ingenieurkunst.

Dieser Turm steht nicht schief, weil es die Architekten so geplant hätten. Er steht schief, weil sie den Untergrund unterschätzten. Und er steht noch heute, weil Generationen von Ingenieurinnen und Ingenieure mit Einfallsreichtum, Mut und Technik verhindert haben, dass er endgültig kippt.

Ein ehrgeiziger Plan

Am 9. August 1173 legten die Bauherren den Grundstein. Der Turm sollte ein freistehender Glockenturm werden, der neben dem Dom den Reichtum der Stadt Pisa demonstrierte. 100 Meter Höhe waren geplant. Weiße Marmorgalerien sollten ihn schmücken, sieben Glocken das religiöse Leben prägen. Im Notfall sollte er sogar als Rückzugsort für den Klerus dienen – eine Trutzburg aus Carrara-Marmor.

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Doch schon nach fünf Jahren begannen die Probleme. Als die dritte Etage erreicht war, sank der Turm in den Boden ein. Er neigte sich nach Südosten. Der Untergrund bestand aus einer Mischung aus Sand, Lehm und tonigen Schichten. Diese Böden gelten als schlecht tragfähig, sie verdichten sich ungleichmäßig unter Last. Der Turm begann zu kippen.

Hundert Jahre Baupause

Die Bauherren reagierten zunächst pragmatisch: Sie stoppten den Bau. Fast ein Jahrhundert lang blieb der unfertige Turm ein Stumpf aus Marmor. Historiker diskutieren bis heute, ob die Baupause nur technische Gründe hatte oder ob Kriege und Geldmangel ebenfalls eine Rolle spielten. Pisa lag damals im Konflikt mit Genua – ein Krieg, der viele Ressourcen verschlang.

Während der Bau stillstand, passierte im Boden etwas Entscheidendes: Das Erdreich verdichtete sich. Die Schieflage stabilisierte sich vorerst. Als man um 1272 die Arbeiten wieder aufnahm, baute man bewusst in die Gegenrichtung geneigt weiter, um den Turm auszugleichen. Doch das Bauwerk „hörte nicht auf seine Baumeister“ – es blieb schief.

Ein Turm trotzt der Physik

1372, fast 200 Jahre nach Baubeginn, setzte man die Glockenstube auf. Der Turm blieb rund 56 Meter hoch – also deutlich niedriger als die geplanten 100 Meter. Seine Basis misst knapp 20 Meter im Durchmesser. Die Masse: rund 14.500 Tonnen.

Das Mauerwerk ist ein kompliziertes Konstrukt: Eine 20 cm dicke innere Marmorwand, außen eine 30 cm dicke Wand, dazwischen Schüttmaterial aus Stein, Kies und sogar Bauabfällen. Ingenieure mussten Jahrhunderte später feststellen, dass diese Mischung die Stabilität nicht gerade verbesserte.

Galileo und die Legende

Der Schiefe Turm von Pisa inspirierte nicht nur Bauleute, sondern auch Wissenschaft. Der Legende nach soll Galileo Galilei von seiner Spitze Kugeln fallen gelassen haben, um die Fallgesetze zu beweisen. Ob das wirklich geschah, ist unklar. Aber die Geschichte hat sich festgesetzt und zeigt, wie sehr der Turm seit Jahrhunderten Menschen fasziniert.

Seit 1911 wird der Turm überwacht

  • 1173: Baubeginn nach Entwurf des Bildhauers und Architekten Bonanno Pisano
  • 1272: Fortsetzung unter Leitung des Architekten Giovanni di Simone
  • 1370: Fertigstellung unter Leitung von Andrea Pisano
  • 1838: Anlage eines waschbeckenförmigen Rundgangs (Catino) in Sockelhöhe
  • 1911: Beginn systematischer Überwachung mit geodätischen Methoden
  • 1990: Schließung und Bildung eines internationalen Rettungskomitees
  • 1991: Beauftragung des Baukonsortiums „Consorzio Progetto Torre di Pisa“
  • 1992: Umspannung des Mauerwerks mit 18 Stahlseilen im 1. Stockwerk
  • 1993: Größter Neigungswinkel erreicht, Verstärkung des Sockels mit Stahlbeton
  • 1993: Beginn der Beschwerung mit Bleigewichten (100 t)
  • 1995: Erhöhung der Gewichte um weitere 270 t
  • 1999: Exkavationsmaßnahmen an der Nordseite unter Drahtseilabsicherung
  • 2000: Stufenweise Entfernung der Bleigewichte
  • 2001: Abschluss der Bohrarbeiten, Wiedereröffnung des Schiefen Turms

 

Eingriffe, die alles schlimmer machten

Der Turm stand, obwohl er sich weiter neigte. Immer wieder griffen Baumeister ein – und verschlimmerten die Lage.

  • 1838 ließ der Architekt Alessandro Gherardesca das Fundament freilegen. Die Idee: den Sockel sichtbar machen. Das Ergebnis: Der Turm wurde noch instabiler, die Neigung nahm zu.
  • 1934 wollte Benito Mussolini den Turm gerade richten. Für ihn war die Schieflage eine nationale Schande. Man bohrte über 300 Löcher in das Fundament und füllte sie mit Beton. Das Ergebnis: Der Turm neigte sich noch stärker.

Es scheint fast, als habe der Turm jede Korrektur zurückgewiesen.

20. Jahrhundert: Gefahr im Verzug

Seit 1911 wird der Turm regelmäßig vermessen. Ingenieure stellten fest: Er bewegt sich. In den 1980er-Jahren waren es 1 Millimeter pro Jahr. Ende der 1980er erreichte die Neigung 5,5 Grad. Das bedeutete: Die Spitze wich fast 4,5 Meter von der Senkrechten ab.

Dann passierte 1989 in Pavia etwas, das alle aufhorchen ließ: Ein mittelalterlicher Turm stürzte ohne Vorwarnung ein. Sofort wuchs die Sorge, Pisa könnte dasselbe Schicksal drohen. 1990 wurde der Turm gesperrt. Ein internationales Komitee wurde gegründet, geleitet von Professor Michele Jamiolkowski aus Turin. Ziel: den Turm retten.

Schiefer Turm von Pisa

Keine Angst: Jährlich steigen unzählige Menschen auf den Schiefen Turm.

Foto: Smarterpix / robert1717

Ingenieurkunst rettet den Turm

Die Rettung dauerte mehr als zehn Jahre. Sie kostete rund 50 Millionen D-Mark. Hunderte Fachleute beteiligten sich. Am Ende stand eine Lösung, die Ingenieurinnen und Ingenieure heute als Paradebeispiel für Bodenmechanik und Bauwerksrettung kennen.

Blei als Gegengewicht

Zunächst legte man auf der Nordseite tonnenweise Bleibarren aus – am Ende über 850 Tonnen. Diese sollten den Turm stabilisieren. Gleichzeitig legte man Stahlseile um das Bauwerk, ein regelrechtes Korsett, das es im Notfall zusammenhalten sollte.

Die Idee der kontrollierten Bodenentnahme

Die entscheidende Maßnahme war die sogenannte kontrollierte Subsidenz. Ingenieur Fernando Terracina hatte die Methode schon in den 1960er-Jahren vorgeschlagen. Sie besagt: Statt das Bauwerk selbst zu bewegen, entnimmt man auf der höherliegenden Seite Boden. Der Turm sinkt dort minimal ab – und richtet sich dadurch ein Stück auf.

Mit Bohrungen von bis zu 20 Metern Länge entfernte man rund 37 Kubikmeter Erdreich. Langsam senkte sich die Nordseite. Der Turm richtete sich um 44 Zentimeter auf.

„Wir sind unserer Zielgröße von 10% Neigungsverringerung so signifikant näher gekommen, dass wir uns bereits mit dem heutigen Stand begnügen könnten“, sagte Bauleiter Paolo Heiniger damals.

Sanierung des Mauerwerks

Das Mauerwerk selbst war ein weiteres Problem. Viele Steine waren durch Druck zersplittert. Fachleute injizierten Zementmischungen in Hohlräume, ersetzten beschädigte Steine und zogen Stahlbänder ein.

Wiedereröffnung im Jahr 2001

Am 15. Dezember 2001 war es soweit: Der Turm öffnete wieder für Besucherinnen und Besucher. Die Neigung lag nun bei etwa 4 Grad – ähnlich wie vor 300 Jahren. Die Fachleute waren überzeugt: „Mindestens weitere 300 Jahre“ werde der Turm nun sicher stehen.

Seither pilgern jedes Jahr Millionen Menschen nach Pisa. Wer den Turm besteigen will, muss 294 Stufen hinauf und 20 Euro Eintritt zahlen. Gruppen dürfen nur 30 Minuten bleiben – aus Sicherheitsgründen.

Neue Neigung, alte Sorgen

Doch die Geschichte ist nicht abgeschlossen. Messungen zeigen, dass der Turm sich seit 2001 wieder minimal bewegt hat – rund 2,5 Zentimeter in zwölf Jahren. Fachleute halten das für unkritisch. Dennoch bleibt der Turm ein ständiger Patient. Ingenieur*innen werden ihn weiter überwachen müssen.

 

 

 

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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