Kathedrale Lausanne als XR-Labor: Was der virtuelle Zwilling verrät
Ein digitaler Zwilling macht Schäden an der Kathedrale Lausanne sichtbar. XR hilft Fachleuten, Risiken zu erkennen und gezielt zu restaurieren.
Mit Extended Reality und Daten aus Laserscans entsteht ein digitaler Zwilling der Kathedrale Lausanne, der Schäden, Feuchte und Statik sichtbar macht.
Foto: Yamini Patankar / Chair for Physical Chemistry of Building Materials
Wer heute die Kathedrale Notre-Dame in Lausanne betritt, sieht zunächst: Stein, Glas, Jahrhunderte Geschichte. Was Sie nicht sehen: Über Ihrem Kopf läuft ein unsichtiges Datenfeuerwerk. In Laserscans, 3D-Modellen und einer Extended-Reality-Anwendung steckt ein zweiter, digitaler Zwilling der Kirche – und der hilft dabei, das Bauwerk in die Zukunft zu retten.
Die Kathedrale wurde zwischen 1170 und 1235 gebaut, später immer wieder umgebaut und repariert. Besonders der fast 80 m hohe Laternenturm und die filigranen Strebebögen machen der Statik zu schaffen. Gleichzeitig ist der Sandstein des Schweizer Mittellands empfindlich gegenüber Wasser, Frost und Luftschadstoffen. Mit klassischer Sichtprüfung allein kommen Konservator*innen hier an ihre Grenzen.
Ein Team der ETH Zürich nutzt deshalb Extended Reality (XR), strukturelle Simulationen und ein feinmaschiges Messnetz, um die Kathedrale gewissermaßen von innen sichtbar zu machen – in Echtgröße, direkt vor Ort im Bauwerk.
Inhaltsverzeichnis
- Warum Lausanne ein Dauerpatient ist
- Vom Laserscan zum digitalen Zwilling
- Wie Forschende die Statik sichtbar machen
- XR im Kirchenschiff: Der „Co-Pilot“ für die Bauwerksinspektion
- Kalibrierung des Systems
- Risskarten, Regen und Mikroklima: Der Kathedrale beim Altern zusehen
- Klimawandel im Mauerwerk: Szenarien für zukünftige Schäden
- Blaupause für andere Bauwerke
Warum Lausanne ein Dauerpatient ist
Das Grundproblem: Der verwendete Sandstein enthält Tone, die bei Feuchtigkeit quellen. Dazu kommt eine hohe Porosität. Wasser dringt ein, verdunstet, friert, löst Salze aus – die Folge sind Abplatzungen, Risse und Materialverlust. Windgetriebener Regen verschärft das: Bestimmte Fassaden bekommen deutlich mehr Feuchtigkeit ab als andere.
Über Jahrzehnte führt das zu einem schleichenden Querschnittsverlust tragender Steine. Für die Statik bedeutet das: Strebebögen, Pfeiler und Wände tragen zwar weiter, aber mit immer kleinerer Reserve. Schon früher musste man in Lausanne eingreifen: Strebebögen wurden erneuert, Stahlzugstangen unter der Dachkonstruktion installiert, am Laternenturm gab es nach einem Brand im 19. Jahrhundert große Umbaumaßnahmen.
Die Herausforderung für Ingenieure und Konservatoren: Sie müssen zwei Dinge gleichzeitig verstehen:
- Wie degradieren die Materialien lokal?
- Wie reagiert das gesamte Tragwerk global auf diese Veränderungen?
Genau hier setzt der digitale Zwilling an.
Vom Laserscan zum digitalen Zwilling
Am Anfang stand eine gewaltige Vermessungsaktion. Ein spezialisiertes Büro erfasste die Kathedrale innen und außen mit terrestrischem und drohnengestütztem Laserscanning. Ergebnis: eine Punktwolke mit rund 19 Millionen Messpunkten, die jede Gewölberippe, jeden Strebebogen und den Raum über den Gewölben in hoher Auflösung abbildet.
Aus dieser Punktwolke leiteten die Forschenden ein vereinfachtes 3D-Modell der tragenden Struktur ab:
- Gewölbe mit ihrer Innen- (Intrados) und Außenschale (Extrados)
- Längswände, Pfeiler und Strebepfeiler
- Strebebögen und Dachbereich
Dazu kamen Materialdaten: leichte Tuffsteine für die Gewölbe, dichterer Sandstein für Pfeiler und Wände, ergänzt durch Mörtel- und Zementschichten auf den Gewölben. Für die Berechnungen reicht hier vor allem die Dichte – also das Gewicht pro Kubikmeter.
So entsteht der statische Kern des digitalen Zwillings: eine geometrisch präzise, aber mechanisch bewusst vereinfachte Darstellung, die gut mit historischen Bauwerken funktioniert, bei denen exakte Materialkennwerte meist unbekannt sind.

Das Projekt „Heritage++“ richtet sich an verschiedene Nutzergruppen: Experten können vor Ort auf zusätzliche Informationen zu strukturellen Elementen zugreifen. Die Öffentlichkeit kann die Kräfte sehen, die in einer gotischen Deckenkonstruktion wirken.
Foto: ETH Zurich / Chair for Physical Chemistry of Building Materials
Wie Forschende die Statik sichtbar machen
Für die Kathedrale nutzte das ETH-Team eine Methode, die in der Forschung zu historischen Gewölben inzwischen etabliert ist: Thrust Network Analysis. Vereinfacht gesagt, werden die Gewölbe als Netz aus Druckstäben modelliert. Die Lasten aus Eigengewicht und Zusatzlasten fließen als „Kraftpfade“ durch dieses Netz zu den Auflagern.
Wichtig dabei:
- Mauerwerk kann Druck gut aufnehmen, Zug aber nur sehr begrenzt.
- Die gesuchten Kraftlinien müssen vollständig innerhalb der Bauteilgeometrie liegen.
- Gelingt das, gilt das Tragwerk nach dem sogenannten „Safe Theorem“ als standsicher.
Aus den Simulationen ergibt sich, wie stark die Gewölbe horizontal gegen die Wände drücken, wie viel Kraft in den Strebebögen landet und wo die statischen Reserven knapp werden. Für jede Querschnittsebene der Kathedrale berechneten die Ingenieur*innen einen geometrischen Sicherheitsfaktor: Wie weit ist die resultierende Druckkraft noch von der Kippkante eines Strebepfeilers entfernt?
In Lausanne zeigen die Analysen:
- Die meisten Querschnitte liegen über dem Zielwert eines Sicherheitsfaktors von etwa 3.
- Kritisch ist vor allem der Bereich, in dem ein sechsteiliges Gewölbe auf die regulären vierteiligen Gewölbe trifft.
- Dort steigen die horizontalen Schubkräfte, und ein Strebebogen muss deutlich höhere Kräfte übertragen.
Genau in diesem Bereich hatte man bereits in der Vergangenheit reagiert: Ein Stahlzugband und ein geneigter Druckstab bilden heute ein Strut-and-Tie-System, das einen Teil der horizontalen Kräfte auf tiefer gelegene Bereiche umleitet. Die ETH-Analysen zeigen, dass dadurch der Sicherheitsfaktor deutlich steigt und die Strebebögen entlastet werden.
XR im Kirchenschiff: Der „Co-Pilot“ für die Bauwerksinspektion
Die statischen Berechnungen bleiben aber nicht auf dem Bildschirm im Büro. Sie wandern als Hologramm in das Bauwerk selbst. Dafür entwickelten die Forschenden einen XR-Co-Piloten, der auf Headsets wie der HoloLens 2 oder auf Tablets läuft.
Die Idee: Konservatoren, Ingenieure und Architekten stehen in der Kathedrale – und sehen zusätzlich zur realen Struktur ein transparentes, virtuelles Tragwerksmodell eingeblendet.
Robert Flatt, Professor für Physikalische Chemie der Baustoffe und Leiter des Projekts „Heritage++“, erläutert: „XR-Technologien haben ein enormes Potenzial, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Experten aus den Bereichen Architektur, Materialwissenschaften, Geschichte und Denkmalpflege zu erleichtern.“
Kalibrierung des Systems
Bevor das funktioniert, muss das System kalibriert werden. Dazu nutzt die Anwendung markante Punkte im Bauwerk, etwa die Ecken der Hauptpfeiler. Virtuelle Referenzkugeln werden mit diesen realen Punkten zur Deckung gebracht. Danach „weiß“ das System, wo es sich im Raum befindet – und kann das digitale Modell stabil im Kirchenraum verankern.
Über ein Menü in der XR-Brille können Nutzende verschiedene Ebenen zuschalten:
- Kraftlinien in den Gewölben, deren Dicke der Kraftgröße entspricht
- Querschnittsansichten der Strebepfeiler mit Sicherheitsfaktoren
- Markierungen von dokumentierten Rissen und Schadstellen
- Informationen zu Eingriffen wie dem Strut-and-Tie-System
Per Handgesten oder Blicksteuerung können Sie einzelne Elemente anwählen und Kennwerte abfragen. So wird aus abstrakten Zahlen ein direkt erlebbares Bild: Wo ist die Struktur entspannt, wo läuft die Last auf schmalen Pfaden?
Ricardo Maia Avelino, Postdoktorand bei Design++, beschreibt das so: „Unser Artikel schlägt eine neue Art der Darstellung und Interaktion mit der strukturellen Funktionsweise des Gebäudes vor. Experten aus verschiedenen Disziplinen sowie die breite Öffentlichkeit können diese Erkenntnisse erkunden und so dazu beitragen, dass die strukturelle Sicherheit und Integrität bei zukünftigen Eingriffen angemessen berücksichtigt werden.“
Risskarten, Regen und Mikroklima: Der Kathedrale beim Altern zusehen
Wie schnell ein Sandsteinblock abbaut, hängt stark von der lokalen Belastung ab: Wind, Regen, Temperaturwechsel, Salze. Rund um die Kathedrale betreibt das ETH-Team daher ein Sensornetzwerk, das windgetriebenen Regen und das Mikroklima an den Fassaden erfasst. Gleichzeitig werden Feuchteprofile in den Steinen gemessen.
Diese Daten lassen sich mit den beobachteten Schadbildern koppeln: Welche Zone zeigt welche Rissbildung? Wo lösen sich Schalen ab? In der XR-Anwendung können Konservatorinnen und Konservatoren solche Schäden direkt im Raum verorten und als georeferenzierte Punkte mit Kommentaren hinterlegen. Bei der nächsten Begehung lassen sich Veränderungen vergleichen – ohne Papierlisten und Fotos, die sich nur mit Mühe zuordnen lassen.
Yamini Patankar, Doktorandin im Projekt, fasst den Nutzen bei Inspektionen so zusammen: «Bei Vor-Ort-Inspektionen gibt unser digitaler Co-Pilot den Konservatoren einen Überblick über den Zustand eines Denkmals sowie zusätzliche relevante Informationen. Anhand der identifizierten Schwachstellen können sie dann die geeigneten Massnahmen festlegen.»
Langfristig entsteht so ein wachsender Datensatz, der nicht nur den aktuellen Zustand dokumentiert, sondern Trends sichtbar macht: Wo schreitet der Schaden schneller voran? Welche Restaurierungsmaßnahme hält unter heutiger Witterung wie lange?
Klimawandel im Mauerwerk: Szenarien für zukünftige Schäden
Parallel zur XR-Anwendung entwickeln die Forschenden Modelle, die Regenexposition und Schädigungsbilder koppeln. Ziel: abschätzen, wie sich Schäden unter veränderten klimatischen Bedingungen entwickeln könnten. Wenn Starkregenereignisse häufiger werden oder der Wind andere Bahnen nimmt, ändert sich die Belastung am Bauwerk.
So lassen sich klimaresiliente Strategien entwickeln: andere Steinauswahl, geänderte Entwässerungsdetails, gezielte Verstärkungen an besonders exponierten Stellen. Statt nur zu reagieren, können Konservatorinnen und Konservatoren künftig präventiver planen.
Blaupause für andere Bauwerke
Das Projekt „Heritage++“ soll nicht bei der Kathedrale von Lausanne aufhören. Der Ansatz, digitale Zwillinge mit XR-Anwendungen zu verknüpfen, lässt sich auf andere Sandsteinbauten übertragen: Brücken, Burgen, Klöster, aber perspektivisch auch auf Beton- oder Ziegelbauten.
Christophe Amsler, verantwortlicher Architekt der Kathedrale, ist überzeugt, dass solche Werkzeuge bleiben werden: „Die Erhaltung historischer Denkmäler erfordert ständige Pflege und Aufmerksamkeit. Technologische Fortschritte können uns dabei helfen, diese Gebäude zu reparieren und am Leben zu erhalten, aber gleichzeitig müssen wir dem ursprünglichen Geist und Erbe des Denkmals treu bleiben.“
Zum 750-jährigen Jubiläum der Kathedrale haben die ETH-Forschenden eine App entwickelt, die Extended-Reality-Funktionen auf Smartphone und Tablet bringt. Camilla Tennenini erklärt: „Besucher der Kathedrale können die App, die Extended-Reality-Technologien nutzt, verwenden, um Informationen über die Geschichte des Gebäudes abzurufen und mehr über die laufenden Konservierungsarbeiten sowie deren Umfang und Gründe zu erfahren.“
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