Stuttgart 21: Hightech in Beton und Glas – Kelchstützen und Lichtaugen
Wie Kelchstützen und Lichtaugen den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof formen – von Planung bis Fertigstellung.
uf den monumentalen Kelchstützen sitzen die 27 Lichtaugen aus Stahl und Glas. Sie bringen Tageslicht in die unterirdische Bahnsteighalle von Stuttgart 21 und verbinden Statik mit Architektur.
Foto: picture alliance / imageBROKER | Arnulf Hettrich
Der neue Stuttgarter Hauptbahnhof ist nicht nur ein Milliardengrab und eine Dauerbaustelle. Aus bautechnischer und architektonischer Sicht hat er Einzigartiges zu bieten. Wer heute auf das Dach blickt, erkennt 27 runde Glasöffnungen – die sogenannten Lichtaugen. Sie sitzen auf monumentalen Kelchstützen, die wie riesige Betonblumen aus der Halle wachsen.
Zusammen bilden sie das Herzstück von Stuttgart 21: Die Kelchstützen tragen das Dach und die Lichtaugen bringen Tageslicht tief in die unterirdische Bahnsteighalle. Was von außen selbstverständlich wirkt, war in der Entstehung eine technische und planerische Meisterleistung – von den ersten Seifenhautmodellen bis zu Tausenden von Bewehrungsplänen und Lkw-Ladungen voller Stahl, Glas und Edelstahl.
Inhaltsverzeichnis
- Warum ein Bahnhof Augen braucht
- Bei den Kelchstützen arbeitete Frei Otto mit
- 12.000 Bewehrungspläne
- Digitale Planung für Augen und Kelche
- Stahl als tragendes Gerüst für die Lichtaugen
- Glas in Schichten
- Metall: Verkleidung mit Anspruch
- Logistik: 20 LKW für ein Auge
- Montage unter Zelten
- Verkleidung und letzter Schliff
- Zahlen, die beeindrucken
Warum ein Bahnhof Augen braucht
Der Umbau von Stuttgart 21 verändert den Charakter des Bahnhofs komplett. Aus einem oberirdischen Kopfbahnhof wird ein unterirdischer Durchgangsbahnhof. Acht Gleise verlaufen künftig 12 Meter unter der Erde.
Damit die Halle nicht dunkel und künstlich wirkt, setzten die Architekten auf ein Konzept, das sonst kaum jemand kannte: runde Lichtöffnungen im Dach. Sie sollen Sonnenlicht gleichmäßig in den Bahnhof leiten und gleichzeitig die Kelchstützen nach oben hin abschließen.
Architekt Christoph Ingenhoven beschreibt die Konstruktion als „riesige Linsen“, die den Blick nach oben öffnen. Es ist eine architektonische Idee – aber eine, die Ingenieurinnen und Ingenieure zu Höchstleistungen zwang.
Bei den Kelchstützen arbeitete Frei Otto mit
28 Kelchstützen bilden das Rückgrat des neuen Bahnhofs. Sie tragen die Betonschale, fangen Lasten ab und dienen als Basis für die Lichtaugen. Gleichzeitig sind sie selbst architektonisches Statement: organisch geformt, offen, lichtdurchlässig.
Ihre Form entstand aus Experimenten mit Seifenhautmodellen. Frei Otto und Christoph Ingenhoven entwickelten daraus ein Tragwerk, das mit wenig Material hohe Lasten abfängt. Es war eine der letzten Arbeiten von Frei Otto, der auch das Dach des Olympiastadions von München mitentwickelt hat. Im Jahr 2015 starb der großartige Architekt. Kurz vor seinem Tod distanzierte er sich von den Kelchstütze, da er glaubte, dass sie nicht für den weichen Stuttgarter Boden geeignet seien.
Gebaut wurden sie dennoch, die Zeit wird zeigen, ob die Ingenieure die Zweifel des Stararchitekten ausräumen konnten. So oder so: Die Kelchstützen erfüllen gleich mehrere Funktionen: Sie sichern die Statik, sie minimieren den Materialverbrauch und sie schaffen Raum für Licht und Belüftung.
12.000 Bewehrungspläne
Im Inneren der Kelchstützen liegt die eigentliche Meisterleistung: die Bewehrung. Sie besteht aus tausenden Stahlstäben, gebogen, geflochten, verdichtet.
Das Stuttgarter Ingenieurbüro von Werner Sobek entwickelte dafür ein hochkomplexes 3D-Modell in ALLPLAN. Darin waren nicht nur die Stäbe, sondern auch Einlegeteile, Betonier- und Rüttelwendeln enthalten.
Die Dimensionen zeigen die Herausforderung:
- Ein Innenkelch erforderte 350 DIN-A0-Pläne und 300 Tonnen Bewehrungsstahl.
- Ein Randkelch kam sogar auf 400 Pläne und 350 Tonnen Stahl.
- Insgesamt entstanden 12.000 Pläne für das gesamte Dach.
Die Geometrie machte es nicht einfacher. Die Kelche wechseln ihre Dicke, vereinen kuppelartige und sattelförmige Krümmungen und verlangen präzise Bewehrungssysteme. Alles musste so geplant sein, dass die sichtbare Oberfläche nur minimale Abweichungen zulässt.
So entstand ein unsichtbares Kunstwerk: die Bewehrung, die später im Beton verschwindet, aber die Stabilität des ganzen Daches sichert.

Wie riesige Betonblumen wachsen die Kelchstützen in die Höhe und tragen das Dach des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs.
Foto: picture alliance/dpa | Markus Lenhardt
Digitale Planung für Augen und Kelche
Die Lichtaugen und die Kelchstützen wären ohne digitale Planung kaum möglich gewesen. Ein digitaler Zwilling erfasste jedes Bauteil, jede Schraube, jede Naht.
Monteure konnten auf der Baustelle über 5G jederzeit auf die Pläne zugreifen. Fehler wurden so früh erkannt. Auch Transport- und Montageabläufe ließen sich digital prüfen: Passt ein Segment auf den LKW? Kann es der Kran anheben?
Die digitale Arbeit sparte Zeit und verhinderte, dass ein Projekt dieser Größe im Chaos versank.
Stahl als tragendes Gerüst für die Lichtaugen
Im Werk begann die eigentliche Arbeit. Zuerst im Stahlbau. Dort entstanden die Tragwerke, die später das Glas tragen sollten.
Ein einzelnes Lichtauge besteht aus geschweißten Profilen, zusammengestellt aus hunderten Einzelteilen. Ein Tragwerk hat rund 16 Meter Durchmesser und wiegt knapp 40 Tonnen. Insgesamt kamen bei allen 27 Lichtaugen über 1.300 Tonnen Stahl zusammen.
Die größte Herausforderung war das Schweißen. Wärme bringt Spannung in das Material, Profile können sich verziehen. Deshalb arbeiteten erfahrene Schweißer*innen Seite an Seite mit Robotern. „Der Roboter wird nicht müde. Er schweißt gleichbleibend und schnell. Dadurch verzieht sich das Profil weniger“, so ein Projektleiter.
Bevor die Teile die Werkhalle verließen, prüften Messtechniker jede Naht und jede Abweichung. Erst danach wurden die Tragwerke in acht Segmente zerteilt und für den Transport vorbereitet.

Wie riesige Linsen sitzen die Lichtaugen im Dach des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs und lassen Sonnenlicht bis tief in die Halle fallen.
Foto: picture alliance / imageBROKER | Arnulf Hettrich
Glas in Schichten
Parallel lief die Glasfertigung. Das Glas musste nicht nur durchsichtig sein, sondern auch tragfähig und sicher. Die Lösung war Verbundsicherheitsglas: mehrere Scheiben, die mit Folien zu einem Laminat verschmolzen werden.
Die Platten wurden zugeschnitten, geschliffen und thermisch behandelt. Auf über 600 °C erhitzt, dann schnell abgekühlt – so entstehen innere Spannungen, die das Glas widerstandsfähiger machen.
„Wir produzieren quasi ein Glassandwich“, erklärt ein Mitarbeiter. „Glas, Folie, Glas, Folie – und alles muss absolut sauber verarbeitet sein.“ Staub oder Luftblasen wären eine Schwachstelle. Deshalb arbeiteten die Teams in Reinräumen.
Am Ende gab es für jedes Lichtauge hunderte maßgeschneiderte Glaspakete. Keine Scheibe gleicht der anderen.
Metall: Verkleidung mit Anspruch
Die dritte Produktionslinie betraf die Metallbearbeitung. Hier entstanden die Bleche und Rohre, die das Lichtauge umrahmen.
Die Edelstahlbleche sind 4 mm stark. Unten am Rand wurden sie mit Stempeln gepresst, um in die gewünschte Form zu kommen. Im oberen Bereich nutzte man Hydroforming – ein Verfahren, bei dem Wasser unter hohem Druck das Metall in die gewünschte Form presst.
Dazu kamen Rohrverkleidungen mit 4 cm Durchmesser, gleichmäßig angeordnet und mit 4 cm Spalt dazwischen. Sie dienen nicht nur als Gestaltungselement, sondern auch zur Belüftung: Warme Luft kann durch sie aus dem Bahnhof entweichen.
Logistik: 20 LKW für ein Auge
Als die Teile fertig waren, begann der nächste Kraftakt: der Transport. Ein Lichtauge wurde in acht Stahlsegmente zerlegt. Hinzu kamen Glasgestelle und Verkleidungselemente. Insgesamt waren rund 20 LKW-Ladungen nötig – für ein einziges Lichtauge.
Die Teile mussten in der richtigen Reihenfolge auf die Baustelle kommen, damit die Montage zügig lief. Fehler hätte man kaum korrigieren können.
Montage unter Zelten
Auf der Baustelle wirkten die Zelte auf dem Dach lange geheimnisvoll. Von außen sah man nur weiße Planen. Innen aber entstand Stück für Stück das Lichtauge.
Zuerst wurden Gitterträger montiert und Spanngurte eingehängt. Dann hob der Kran die Stahlsegmente nacheinander ein. Schweißer verbanden sie, Monteure beschichteten die Nähte.
Als das Stahlgerüst stand, setzten die Teams die Glasauflager. Danach folgte das Einheben der schweren Glaspakete mit einer Kranbahn. Millimeterarbeit, denn die Scheiben mussten exakt sitzen.
Schließlich kamen Dichtungen, Fugen und Deckleisten. Erst wenn alles abgedichtet war, wurde das große Zelt abgebaut. Zum Vorschein kam ein fertiges Lichtauge – glänzend und durchsichtig.
Verkleidung und letzter Schliff
Nach dem großen Zelt folgte ein kleineres. Es schützte die Arbeiten am Feinschliff: die Verkleidung mit Edelstahlblechen und Rohren.
„So wie wir sie hier sehen, sind sie noch im Rohbauzustand. Was wir jetzt noch machen, ist, dass wir das Ganze schön machen“, erklärte Projektingenieur Krull. „Wir verkleiden das Ganze.“
158 Bleche pro Lichtauge, individuell geformt und angepasst. Zusammen ergeben sie eine Fläche von rund 130 m² Edelstahl pro Auge. Ergänzt durch Rohrverkleidungen, die Belüftungsklappen tarnen.
Zahlen, die beeindrucken
Ein kurzer Überblick zeigt die Dimensionen:
- 4 flache Lichtaugen: 17,5 m Durchmesser, 150 Tonnen Stahl, 750 m² Verglasung.
- 23 Regel-Lichtaugen: 21 m Durchmesser, 4,3 m Höhe, 880 Tonnen Stahl, 3.335 Glaspakete.
- Insgesamt über 7.400 m² Glasfläche und 21.500 m Rohrverkleidung.
- 28 Kelchstützen: bis zu 350 Tonnen Bewehrungsstahl pro Stütze, 12.000 Pläne für das Dach.
Zum Vergleich: Die Glasfläche aller Lichtaugen zusammen entspricht mehr als einem Fußballfeld.
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