Unsichtbar gemacht: Wie die Wissenschaft Forscherinnen aus dem Rampenlicht drängt
Eine Forschungsgruppe hat über 1,2 Mio. Artikel zu wissenschaftlichen Publikationen geprüft. Das Ergebnis ist eindeutig: Männerforschung wird gefeiert – Frauenforschung übersehen. Ein Karrierenachteil, der entscheidend ist.
Forscherinnen bleiben trotz gleicher Leistung unsichtbar. Wie mangelnde Sichtbarkeit in Medien und Wissenschaft Karrieren im Ingenieurwesen ausbremst.
Foto: Smarterpix/SeventyFour
Als Anna K., Materialwissenschaftlerin an einer technischen Universität, ihre neue Studie über hitzebeständige Leichtmetalle veröffentlichte, wartete sie insgeheim auf etwas, das außerhalb jeder Peer-Review liegt: einen Anruf. Ein Interview. Vielleicht eine kurze Notiz in einem Fachportal. Nichts.
Zwei Wochen später stößt sie zufällig auf einen Artikel: ein Kollege aus ihrer Arbeitsgruppe wird als „junger Vordenker“ vorgestellt. Die Veröffentlichungen stammen aus demselben Journal. Er wurde eingeladen, sprach auf einem Podium, gab Interviews. Anna blieb im Labor.
Die Szene ist fiktiv, aber typische Realität für viele Forscherinnen.
Karrierefaktor Sichtbarkeit: wer vorkommt, gewinnt
In der Wissenschaft gilt eigentlich das Versprechen: Qualität setzt sich durch. Doch in der Realität muss man sich erstmal sichtbar machen, um überhaupt die Chance zu bekommen, sich durchzusetzen.
Medienauftritte, Erwähnungen in Politikberichten oder Interviews in Fachportalen wirken wie stille Karrierekatalysatoren. Sie stehen in keiner offiziellen Leistungsbewertung, doch sie entscheiden häufig über Rufanfragen, Einladungen und externe Fördergelder. Ob jemand wahrgenommen wird, beeinflusst, ob jemand als erfolgreich angesehen wird.
Nur rund 12 % aller Veröffentlichungen erhalten überhaupt mediale Erwähnung. Doch unter diesen wenigen dominieren eindeutig die Männer. Männergeführte Studien erscheinen überproportional in den meistberichterstatteten Top-5 % aller Forschungsarbeiten. Frauenstudien dagegen häufen sich am unteren Ende der Aufmerksamkeit.
Die Aufmerksamkeitslücke: 4 Arenen der Sichtbarkeit
Eine Untersuchung, veröffentlicht im Journal of Informetrics, weitet den Blick über klassische Medien hinaus. Sie fragt nicht nur ob Wissenschaft wahrgenommen wird, sondern hauptsächlich wo und durch wen. Analysiert wurden dabei vier „gesellschaftliche Arenen“: Nachrichtenportale, politische Berichte, soziale Medien wie Twitter/X und Wissensplattformen wie Wikipedia.
Das Ergebnis ist klar: Forscherinnen sind über all diese Kanäle hinweg weniger sichtbar. In Nachrichtenmedien kommen sie seltener zu Wort, in Policy Papers werden ihre Studien seltener zitiert. Auf sozialen Plattformen hingegen tauchen sie zwar häufiger auf, jedoch, im Verhältnis, mehr in negativeren oder politisierten Kontexten. Selbst auf Wikipedia existieren deutlich weniger biografische Einträge über Frauen in der Wissenschaft.
Die Untersuchung mach auch deutlich: Es liegt nicht an fehlenden Leistungen der Frauen. In vielen Disziplinen publizieren Forscherinnen auf Augenhöhe. Doch publizieren heißt nicht automatisch existieren. Was in Zitationsdatenbanken sichtbar ist, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung oft unsichtbar.
Ingenieurwesen als stillste Bühne
Besonders deutlich ist dieses Muster in den klassischen Ingenieurdisziplinen: In diesen Fachbereichen werden Forscherinnen zwar fachlich anerkannt, aber nicht genauso sichtbar gemacht. Während männliche Kollegen in Porträts als „Erfinder“, „Visionäre“ oder „Technologieführer“ eingeführt werden, erscheinen Frauen als symbolische Figur: „Die erste Frau“, die „Durchbrecherin der Tradition“ oder die „Pionierin“.
Hier wird das eigentliche Paradox sichtbar: Je stärker ein Fach männlich dominiert ist, desto eher wird die einzelne Frau in eine Sonderrolle erhoben. Nicht als Normalfall wissenschaftlicher Exzellenz, sondern als Kuriosität. Statt als Ingenieurin unter Ingenieuren wird sie als symbolische Figur inszeniert.
„Frauen übertreffen oft die Erwartungen gerade in den Bereichen, in denen sie am wenigsten vertreten sind “, sagt Cassidy Sugimoto, Informationswissenschaftlerin am Georgia Institute of Technology.
Diese Form der medialen Aufmerksamkeit ist jedoch trügerisch: Sie erzeugt Sichtbarkeit, aber keine Zugehörigkeit. Denn wer als „Ausnahme“ dargestellt wird, bleibt strukturell eher Zuschauerin – und nicht Mitgestalterin.
Die Untersuchung zeigt zudem ein wiederkehrendes Muster: Forscherinnen werden gehört, aber nicht zu ihrem Fach. „Ich werde eingeladen, um über Frauen in der Technik zu sprechen – nicht über die Technik selbst.“
Genau darin liegt der blinde Fleck: Frauen dürfen repräsentieren, aber nicht definieren. Sie dürfen inspirieren, aber selten interpretieren.
Warum Forscherinnen Unsichtbar bleiben
Unsichtbarkeit in der Wissenschaft ist selten ein einzelnes Versäumnis. Sie entsteht durch viele kleine Entscheidungen und durch Systeme, die nicht explizit ausschließen, aber selektiv bevorzugen.
Pressearbeit als Selektionsfilter: Ein erster Mechanismus beginnt bereits weit vor jeder Medienberichterstattung, beispielsweise an den Pressestellen der Hochschulen. Männer wenden sich dort häufiger aktiv hin, melden Forschungsergebnisse, fordern Pressemitteilungen ein. Frauen tun das deutlich seltener – nicht, weil ihre Arbeit weniger relevant wäre, sondern weil sie häufiger zögern, sich selbst oder ihre Ergebnisse zum Thema zu machen.
Expertise wird männlich assoziiert: Hinzu kommt die Art, wie mediale Autorität entsteht. Journalistinnen und Journalisten greifen bevorzugt auf Stimmen zurück, die Thesen klar formulieren und Position beziehen. In diesem Umfeld wirken männliche Forschende oft präsenter – nicht unbedingt, weil sie mehr wissen, sondern weil sie stärker zuspitzen. Frauen hingegen formulieren häufiger vorsichtig, differenzieren und relativieren. In der öffentlichen Wahrnehmung wird dies nicht immer als wissenschaftliche Sorgfalt gelesen, sondern als Unsicherheit. So hält sich unbewusst die alte Assoziation: Expertise hat eine männliche Stimme. Wer schneller zitiert wird, gilt schneller als kompetent.
Interviewbarriere: Studien zeigen, Frauen lehnen Medienanfragen häufiger ab. Aus Sorge vor Online-Anfeindungen, vor Kommentaren über das Erscheinungsbild oder aus Zweifel, ob ihre Stimme „berechtigt“ sei. Viele Forscherinnen warten auf den „perfekten Moment“, während ihr Männlicher Gegenpart längst seiner Ergebnisse präsentiert.
Was junge Forscherinnen wissen müssen
Wer heute als junge Ingenieurin in die Forschung eintritt, begegnet einem System, in dem Sichtbarkeit nicht automatisch mit Leistung wächst. Viele Nachwuchswissenschaftlerinnen gehen mit der Vorstellung in ihre Laufbahn, ihre Arbeit werde „für sich sprechen“. Doch genau hier beginnt ein gefährlicher Irrtum: In einer Öffentlichkeit, die nach Gesichtern, Stimmen und Deutungen sucht, spricht Arbeit selten allein.
Die Untersuchung macht deutlich, dass Unsichtbarkeit nicht nur ein strukturelles, sondern auch ein kulturelles Phänomen ist. Viele Forscherinnen konzentrieren sich auf ihre Publikationen, aber nicht auf ihre öffentliche Präsenz. Sie investieren Jahre in Experimente, aber kaum Zeit in Sichtbarkeit. Ihre männlichen Kollegen im gleichen Karrierestadium hingegen melden sich zu Vorträgen, schreiben Gastbeiträge, sitzen auf Panels – oft lange bevor sie überhaupt promoviert sind.
Gerade für junge Ingenieurinnen bedeutet das, früh zu verstehen: Sichtbarkeit ist kein Zusatz, sondern Teil professioneller Verantwortung. Oder wie es die britische Physikerin Athene Donald formuliert: „Sichtbar zu sein ist keine Eitelkeit. Es ist Teil unserer Aufgabe als Wissenschaftlerinnen.“
Auch interessant: Der Scully-Effekt: Wie fiktive Vorbilder die Karrierewahl beeinflussen
Ein Beitrag von: