Von der Rente zurück in den Job 09.12.2025, 12:00 Uhr

So bleiben Babyboomer wertvolle Fachkräfte

Hunderttausende Babyboomer verlassen in den nächsten Jahren den Arbeitsmarkt – und nehmen wertvolles Wissen mit. Dabei wollen viele von ihnen weiterarbeiten, nur flexibler und selbstbestimmter. Für Unternehmen ist das eine Chance: Wer die erfahrenste Generation richtig einbindet, verhindert Wissensverlust und gewinnt dringend benötigte Expertise.

Babyboomer gehen in die Rente

Wenn Wissen in Rente geht: Ingenieurinnen und Ingenieure zwischen Freiheitswunsch und weiterem Gestaltungswillen.

Foto: panthermedia.net / Arne Trautmann

Wenn in Deutschland über den Fachkräftemangel gesprochen wird, richtet sich der Blick meist auf junge Talente, internationale Rekrutierung oder neue Qualifikationsprogramme. Doch ein Potenzial bleibt weitgehend ungenutzt: die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer. Zwischen 2024 und 2035 gehen Millionen Erwerbstätige in den Ruhestand – viele davon Ingenieurinnen und Ingenieure mit jahrzehntelanger Expertise.

Trotz der politischen Debatten über längere Lebensarbeitszeiten, Rentenreformen und neue Belastungen der Sozialsysteme zeigt sich deutlich, dass viele Babyboomer ohnehin bereit wären, länger aktiv zu bleiben. Während Studien belegen, dass fast die Hälfte der geburtenstarken Jahrgänge vorzeitig in Rente geht, wünschen sich zugleich viele Menschen, die gesundheitlich dazu in der Lage sind, weiterhin zu arbeiten oder sich sinnvoll einzubringen – sei es im Beruf oder im Ehrenamt.

Erfahren, motiviert, aber nicht mehr im 9-to-5

Gerade in einer alternden Gesellschaft, in der die Fachkräfte fehlen und kommunale Verwaltungen wie Unternehmen zunehmend unter Druck geraten, entsteht damit ein bislang unterschätztes Potenzial: Eine Generation, die zwar mehr Freiheit möchte, aber weiterhin Wirkung entfalten will. Die Babyboomer bringen Erfahrung, Engagement und Energie mit – und viele von ihnen möchten genau das auch nach dem offiziellen Rentenalter noch nutzen.

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Die Leute möchten weiterarbeiten, aber nicht mehr in der bisherigen Form. Viele wollen keinen Nine-to-five-Job mehr – dennoch geht enorm viel Expertise verloren, wenn man sie einfach ziehen lässt.“, erklärt Steuerberater und Mitgründer von Boomering Ralf Schmidt.

Gemeinsam mit dem Usability-Experten und Wissenschaftler Dr. Nhiem Lu beschäftigt er sich seit vier Jahren intensiv mit den Arbeitsbedürfnissen der Boomer-Generation. Ihr Start-up „Boomering“ entwickelt dazu eine Plattform, die ältere Fachkräfte projektbasiert mit Unternehmen zusammenbringt.

Strukturelles Problem: Wenn Wissen ungenutzt verschwindet

Bis zu 340.000 Fachkräfte könnten in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand gehen, während bereits heute über 129.000 Stellen unbesetzt sind. Trotz konjunktureller Abkühlung bleibt der Fachkräftemangel damit ein strukturelles Problem.

„Erfahrung ist der Motor für Innovation. Dieses Potenzial müssen wir nutzen“, sagte VDI-Direktor Adrian Willig noch Anfang 2025 – wir haben darüber ausführlich berichtet.

Wissen, das mit in Rente geht

Aus einem anderen Blickwinkel haben wir mit dem Wissensmanagement-Experten Daniel Fallmann gesprochen – und auch hier wird deutlich, wie groß die Gefahr eines systematischen Wissensverlusts tatsächlich ist. Mit dem Ruhestand der Babyboomer verschwinden nicht nur Mitarbeitende, sondern gewachsene Routinen, Best Practices und Erfahrungswissen, das in vielen Ingenieur- und IT-Teams nie schriftlich fixiert wurde.

Fallmann machte in einem ingenieur.de-Interview klar, dass Unternehmen diesen Prozess oft unterschätzen: Wenn jahrzehntelang aufgebaute Expertise die Firma verlässt, „kommt es unweigerlich zu einem Know-how-Verlust, der oft schwer zu kompensieren ist“. Gerade deshalb brauche es frühzeitige Strategien, um das Wissen erfahrener Beschäftigter überhaupt sichtbar und zugänglich zu machen.

Laut Ralf Schmidt gleicht der Ruhestand vieler hochqualifizierter Fachkräfte einem „Wissensexport ins Nichts“. Was folgt, sei häufig das sogenannte Empty-Desk-Syndrom – ein wissenschaftlich beschriebenes Phänomen: „Nach drei Monaten Rentnerleben kommt das Gefühl der Leere“, sagt Schmidt. „Viele wollen wieder eine Aufgabe.“

Gerade in technischen Berufen ist dieser Wissenstransfer entscheidend. Boomer haben nicht nur fachliches Know-how, sondern tiefes Implizitwissen, das kein Handbuch ersetzen kann. Dr. Lu beschreibt das so: „Wir verlieren Expertise, die über Jahrzehnte gereift ist: ingenieurtechnische Erfahrung, Problemlösestrategien, Prozesswissen. Das kann keine KI und keine Uni schnell ersetzen.“

Und genau das ist der springende Punkt, denn: Für Mittelständler, die auf Spezialwissen angewiesen sind, kann der Weggang erfahrener Fachkräfte existenzielle Engpässe erzeugen.

Warum klassische Bindungsprogramme nicht funktionieren

Viele Unternehmen versuchen, ältere Mitarbeitende „im Unternehmen zu halten“. Das aber werde künftig immer schwieriger, sagt Ralf Schmidt: „Die Strategie funktioniert nicht mehr. Die Leute wollen arbeiten – aber anders. Flexibel, projektbezogen, manchmal von unterwegs aus.“
Wer weiterarbeiten möchte, will das nach Schmidts Beobachtung unter drei Bedingungen tun:

  1. Starke zeitliche Flexibilität
  2. Selbstbestimmte Projektwahl
  3. Kein starres Anstellungsverhältnis

Um es plakativ darzustellen berichtet Schmidt von einem Ingenieur, der sich einen Lebenstraum erfüllt: „Er wollte mit dem Wohnmobil ans Nordkap – aber trotzdem projekthaft weiterarbeiten. Warum soll das nicht gehen?“

Gerade für die Boomer-Generation ist das attraktiv: reisen, Zeit für Familie, aber weiterhin geistig aktiv bleiben.

Freelancing statt Festanstellung – ein Modell, das Unternehmen entlastet

Besonders für tarifgebundene Branchen stellt sich die Frage der Kosten. Denn ältere Mitarbeitende kosten häufig mehr als jüngere Jahrgänge, weil sie in den höchsten Erfahrungs- und Entgeltstufen eingruppiert sind. „Boomer gelten vielen Unternehmen als teuer“, heißt es deshalb oft in Personalabteilungen – ein Eindruck, der sich vor allem aus der Lohnstruktur und weniger aus einer Bewertung ihrer tatsächlichen Leistung ergibt.

Ralf Schmidt zeigt dabei eine Lösung: „Als Freelancer haben Boomer keine Tarifbindung. Sie werden projektbezogen bezahlt. Das entlastet die Unternehmen. Viele Boomer wollen gar nicht viel Geld – sie wollen Sinn.“

Ebenfalls interessant: Honorare können sogar gespendet werden – ein Feature, das Boomering bewusst integriert, da viele der Generation ein starkes Bedürfnis nach Sinnstiftung zeigen.

Boomering

Boomering verbindet: Wie erfahrene Ingenieur*innen projektweise zurück in die Arbeitswelt finden.

Foto: Boomering

Skillbasiertes Matching statt Jobtitel

Boomering setzt dabei nicht auf klassische Jobportale, sondern auf eine Vermittlungslogik, die Fähigkeiten statt Jobtitel in den Mittelpunkt stellt. Schmidt erklärt, man gleiche nicht bloß Stellenbezeichnungen ab, sondern konkrete Skills. Als Beispiel führt er an, dass ein Zulieferer etwa Erfahrung in der Getriebeabstimmung suchen könne und ein Ingenieur darauf verweise, dies seit 30 Jahren gemacht zu haben. Genau solche Expertise bringe die Plattform zusammen. Unternehmen können dafür sogenannte Collaboration Calls erstellen, in denen sie exakt beschreiben, welche Fähigkeiten sie brauchen. Die Boomer hinterlegen dafür ihre Kompetenzen, beruflichen Erfahrungen und auch ihre Vorstellungen für den nächsten Lebensabschnitt. Dr. Lu: „Boomer wollen nicht nur Aufgaben, sondern Sinn. Deshalb fragen wir auch: Was treibt Sie an? Wohin möchten Sie sich entwickeln?“

Remote first – und bundesweit einsetzbar

Da die meisten Tätigkeiten remote ausgeführt werden, ist das Konzept nicht an eine Region gebunden. Für Unternehmen im ländlichen Raum, insbesondere im Maschinenbau, ist das ein entscheidender Vorteil. Schmidt sagt, man spreche Ingenieure inzwischen bundesweit an – „Remote macht’s möglich.“

Technische Weiterentwicklungen: KI, Mentoring, Voice Assistant

Boomering setzt dabei bewusst auf digitale Unterstützung, um älteren Fachkräften den Einstieg zu erleichtern:

  • KI-Onboarding für einfache Profilerstellung
  • KI-basiertes Matching mit Begründung
  • „Ask the Boomer“-Funktion für organisationsinternen Wissenstransfer
  • Mentoring-Angebote für junge Teams und Start-ups
  • Voice Assistant, weil viele Boomer lieber sprechen als tippen
  • Stimmungsradar, um Bedürfnisse sichtbar zu machen
  • Zweisprachigkeit (DE/EN) für internationale Einsätze

„Unser Ziel ist ein Ökosystem, das nicht nur vermittelt, sondern Wissenstransfer, Community und persönliche Weiterentwicklung ermöglicht.“, erklärt Dr. Lu.

Ein unerschlossener Markt für erfahrene Fachkräfte

Der Markt für Senior-Talente wächst rasant, ist jedoch bislang kaum erschlossen. Es existieren zwar Plattformen für Ruheständler oder Minijobs, aber keine, die sich spezifisch auf hochqualifizierte Boomer konzentriert. Dr. Lu sieht hier eine deutliche Lücke. Es gibt zwar Plattformen die ältere Menschen vermitteln, jedoch meist nicht im Bereich qualifizierter Facharbeit; zudem sei LinkedIn für diese Zielgruppe nur eingeschränkt geeignet.

Auch Schmidt berichtet von spürbar steigender Nachfrage. Unternehmen meldeten sich zunehmend wegen Beratungs- und Projektbedarf, der intern nicht mehr abgedeckt werden könne. Für viele Betriebe sei der Verlust erfahrener Mitarbeitender gleichbedeutend mit einem Verlust an strukturellem Wissen, während flexible Einbindung neue Möglichkeiten eröffne.

Wer Boomer verliert, verliert Wissen – wer sie bindet, gewinnt Zukunft

Die Arbeitswelt der kommenden Jahre wird nicht allein von KI, Automatisierung oder jungen Fachkräften geprägt sein, sondern vor allem davon, ob es gelingt, die erfahrenste Generation im Arbeitsmarkt weiterhin einzubinden. Viele Boomer möchten weiterarbeiten – allerdings zu Bedingungen, die ihnen mehr Flexibilität, Sinn und Selbstbestimmung ermöglichen. Unternehmen, die diese Bedürfnisse ignorieren, riskieren Know-how-Verluste. Unternehmen, die darauf eingehen, sichern sich Expertise, Stabilität und Qualität.

Ralf Schmidt weiß genau: „Die Menschen wollen Freizeit, aber auch Aufgaben. Sie wollen reisen, aber weiterwirken. Sie wollen Freiheit und Sinn.“

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Ein Beitrag von:

  • Alexandra Ilina

    Alexandra Ilina ist Diplom-Journalistin (TU-Dortmund) und Diplom-Übersetzerin (SHU Smolensk) mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung im Journalismus, in der Kommunikation und im digitalen Content-Management. Sie schreibt über Karriere und Technik.

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