Wie Physiker nach der Wende den beruflichen Neustart meisterten
Re-Skilling haben viele Menschen im Laufe ihrer Karriere ganz selbstverständlich erlebt – oft, weil äußere Ereignisse sie dazu zwangen, neue Wege zu gehen. So traf das Ende der DDR auch Physikstudierende, die sich nach der Wende neu orientieren mussten. Rückblickend zeigt sich, wie hilfreich ihre zuvor erworbenen Fähigkeiten für diesen Wandel waren.
Der berufliche Neuanfang ist für niemanden leicht. Doch MINT-Fächer und ihre charakteristischen Denkwerkzeuge können dabei äußerst wertvoll sein – wie die Lebenswege von Naturwissenschaftlern aus der ehemaligen DDR eindrucksvoll zeigen.
Foto: PantherMedia / Randolf Berold
Manchmal laufen Berufswege nicht wie geplant. Dann ist eine Neuorientierung nötig. Heute spricht man auch von Re-skilling. Warum dabei gerade Naturwissenschaftler besonders gut aufgestellt sind, zeigt der Autor Roland Hensel in seinem Buch „Aufgebrochen“. Er macht das an den Lebenswegen von 37 Menschen deutlich, die gemeinsam 1969 in Jena mit dem Physik-Studium begannen.
Sie erlebten alle zunächst das System der DDR, Planwirtschaft, politische Repressalien und später die Wende mit zahlreichen Brüchen in ihren Lebenswegen. Gleichzeitig können einige von ihnen große Erfolge vorweisen, beispielsweise in der Lasertechnik, der Hochleistungsoptik und Mikroelektronik sowie der Polymerforschung. Ein Produkt, das daraus entstand, ist das Infrarot-Spektrometer im James-Webb-Teleskop.
Männer und Frauen in der Physik: „Scheitern war nie eine Option“
Wer dabei nur an Männer denkt, wird eines Besseren belehrt. Denn anders als in der Bundesrepublik war in der DDR eine hohe Erwerbsquote von Frauen ideologisch gewollt. Nach dem Motto „Geht nicht gibt’s nicht“, kämpfte sich z.B. Anita Ehmke durch ihr Physikstudium. Ihr Porträt zeigt, wie sie sich dennoch immer wieder gegen tradierte Rollenbilder durchsetzen musste.
Das begann schon bei der Zulassung zum Abitur, wo die meisten Plätze nach Beruf und Parteizugehörigkeit der Eltern vergeben wurden und sich ihr Vater dagegen aussprach. „Scheitern war nie eine Option“, resümiert die Physikerin heute.

Das Buch „Aufgebrochen“ umfasst Porträts von Physikern, die 1969 in Jena ihr Studium begannen. Heute sind sie um viele Erfahrungen reicher.
Foto: GNT Verlag
Das Ende der DDR: Neuorientierung nach der Wende
Ehmke machte deshalb zunächst einen Abschluss an einer Polytechnischen Oberschule – vergleichbar mit einer Realschule. Dann begann sie eine Lehre als Industriekauffrau. Weil ihr Wunsch nach einem Abitur weiterhin groß war, meldete sie sich heimlich zur Abendschule an. Die absolvierte sie parallel zur Berufsausbildung.
Die Disziplin, die sie dafür brauchte, half ihr später im Physikstudium, berichtet sie. Auch das konnte sie aber nur über Umwege absolvieren. Es folgten Anstellungen als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Gleichrichterwerk, Ingenieurin für Rationalisierung sowie Abteilungsleiterin für Weiterbildung in der Kammer der Technik.
1989 kam die politische Wende. Die Forschungseinrichtungen der DDR wurden abgewickelt. Aber Ehmke war keinen Tag arbeitslos, sondern suchte sich in der Tourismusbranche einen Job und wurde einige Jahre später Arbeitsvermittlerin und Fallmanagerin in der Agentur für Arbeit in Potsdam. So gesehen, ergaben sich für Naturwissenschaftlerin immer neue Perspektiven.

Das Buch „Aufgebrochen“ ist im GNT-Verlag erschienen.
Foto: Helmut Stabe/GNT Publishing
Der Traum vom Weltall und die abgelehnte Promotion
Eher fokussiert verläuft dagegen der Lebensweg des Physikers Bernd Joachim Lau. Schon als Schüler interessierte er sich für Astronomie und die Anfänge der Raumfahrt. Als sich sein Traum vom Astronomen zerschlug, fokussierte er sich auf die Mikroskopie und arbeitete bis zur Rente an Mikroskopen von Carl Zeiss. Auch auf seinem Weg gab es Höhen und Tiefen. Er lehne beispielsweise die Möglichkeit zur Promotion ab. Denn dafür hätte er Parteimitglied werden und seine Kontakte in die Bundesrepublik abbrechen müssen.
Gute Grundlage zum Re-skilling: MINT-Fächer als Denkwerkzeug
Dem Autor Roland Hensel gelingt es viele persönliche Erinnerungen von Physikern zu einem Gesamtbild zusammenzuführen. Das liegt vermutlich auch daran, weil er selbst zu dem Physiker-Jahrgang in Jena gehörte. Nachdem er im Anschluss bei Carl Zeiss arbeitete und freiberuflich als Fotograf arbeitete und Bilder in den Westen schickte, wurde er nach eigenen Angaben von der Stasi überwacht. Im März 1986 reiste er deshalb in den Westen aus. Dort arbeitete er zunächst als Journalist und später als Pressereferent bei Siemens in Erlangen.
Die MINT-Fächer Mathematik, Ingenieur- und Naturwissenschaften sowie Technik sind für den Autor ein Denkwerkzeug immer wieder Wahrscheinlichkeiten abzuwägen und neue Wege einzuschlagen. Das Buch macht Hoffnung, indem es Auswege in schwierigen Lebenszeiten eindrücklich beschreibt.
„Aufgebrochen. Spur des Ostens: Deutsche Porträts mit Wirkung.“ von Roland Hensel, GNT-Verlag, 352 Seiten, 82 Abb., Gb., 34,80 Euro, ISBN 978–3–86225–148–3
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