Innovative Robotik 03.07.2024, 09:03 Uhr

Spektakulär: Von Seesternen inspiriertes Morphing-Material

Der Seestern inspirierte Forschende zur Herstellung einer innovativen 4D-Morphing-Struktur, die die Möbel- und Robotertechnik revolutionieren könnte.

Raman

Ramam ist der "Vater" des neuartigen Morphing-Materials.

Foto: HSB / Meike Mossig

Der 32-jährige Raman kam 2020 aus Indien an die Hochschule Bremen (HSB), um eine Promotion in Bionik zu absolvieren. Vor kurzem meldeten er und seine beiden Promotionsbetreuer, Prof. Dr. Susanna Labisch und Prof. Dr. Jan-Henning Dirks, ein Patent für ein vielversprechendes neues Material an. Dabei nutzten sie ihr Wissen über die Fähigkeiten von Seesternen. Sie entwickelten eine Morphing-Struktur, die sowohl flexibel als auch stabil ist. Außerdem besitzt es Selbstheilungskräfte. Laut den Forschenden weist diese Struktur 4D-Merkmale auf und bietet vielfältige Anwendungsmöglichkeiten in der Robotik, Luftfahrt und Medizintechnik.

Die komplexe Struktur des Seesterns entschlüsselt

Seesterne besitzen eine erstaunliche Fähigkeit: Sie können ihre normalerweise weichen und flexiblen Arme in Sekundenschnelle versteifen, sodass die neue Form auch bei starkem Druck unverändert bleibt. Diese Eigenschaft hat das Forschungsteam bei der Entwicklung des neuen Materials genutzt. Durch den Einsatz fortschrittlicher Bildgebungstechniken wie Röntgen-CT-Scans, computergestützter Modellierungen (Mehrkörper- und Finite-Elemente-Simulationen) und detaillierter Bildanalysen entschlüsselten Raman und sein Team die Rolle der Gewebe und deren Zusammenspiel.

„Unser Ziel war es, die Geheimnisse ihres komplizierten Skeletts zu entschlüsseln und diese Prinzipien in ein neuartiges Material mit ähnlich bemerkenswerten Eigenschaften zu übertragen“, so Raman in einer Erklärung.

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Gehörknöchelchen ermöglichen Vielzahl an Körperhaltungen

Dank dieses Verfahrens konnten sie erstmals die komplexe 3D-Struktur des Seesternskeletts und die feine Ultrastruktur der winzigen Gehörknöchelchen darstellen. Laut der Pressemitteilung handelt es sich bei diesen Gehörknöchelchen um Kalzit-Mikrostrukturen im Inneren des Seesterns, die durch Kollagenfasern zu einem Netzwerk verbunden sind und das Endoskelett bilden. Diese starke, aber einfache Struktur ermöglicht es den Seesternen, eine Vielzahl von Körperhaltungen mit minimalem Energieaufwand einzunehmen.

Um dieses biologische Design in ein technisches Material zu übertragen, druckte das Forschungsteam ein thermoplastisches Netz, das die Gehörknöchelchen und das Kollagengewebe nachahmt, sowie eine Silikonkautschukhülle, die sogenannte Derma, in 3D. Diese einzigartige Kombination verleiht der von Seesternen inspirierten Struktur selbstsichernde, kontinuierliche Biege-, Selbstheilungs- und Formgedächtniseigenschaften, so das Team.

Seestern

Das Morphing-Material lässt sich immer wieder neu verbiegen.

Foto: Raman

Einzigartige Morphing-Struktur

Im Gegensatz zu herkömmlichen Morphing-Strukturen, die aus starren Teilen und Gelenken bestehen, haben sie das Design des Seesterns genutzt, um eine Struktur zu schaffen, die sich sanft und kontinuierlich biegen kann, selbst in komplexen Kurven. Die Forscher haben sogar die Selbstheilungsfähigkeit des Seesterns nachgeahmt. Wird das Material beschädigt, fließt es und verschmilzt wieder, wenn es über den Schmelzpunkt von Thermoplasten erhitzt wird, wodurch der Schaden effektiv behoben wird, wie Raman erklärt.

Der handförmige Prototyp ermöglicht schließlich eine komplexe Entfaltungsbewegung, ohne dass externe Motoren notwendig sind. Ein bedeutender Schritt, so Raman, “in Richtung energieeffizientes Morphing“.

Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Die Struktur besteht aus einem speziellen Kunststoff für das innere Skelett und einer Silikonummantelung. Dieses Material kann sehr kostengünstig hergestellt werden. Erwärmt man es, lässt es sich leicht verbiegen und individuell anpassen. Um das Prinzip des „Morphing“ anschaulich zu demonstrieren, hat das Forschungsteam im Labor Seesterne aus diesem Material gefertigt.

Legt man sie in heißes Wasser, werden sie weich und formbar. Sobald sie abkühlen, werden sie hart und stabil. Zum Spaß hat Raman daraus Stifte- und Handyhalter geformt, um die Vielseitigkeit zu zeigen. Zusätzlich hat das Team Heizkabel in das Material integriert, sodass es schnell und einfach elektrisch erwärmt werden kann.

Morphing-Material

Das Morphing-Material besitzt sogar Selbstheilungskräfte.

Foto: Raman

Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten

Das Potenzial dieses neuen Materials ist laut Raman breit gefächert und bietet zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten.

Medizinische Anwendungen

Im medizinischen Bereich könnte dieses Material traditionelle Gipse und Fixierschienen bei Knochenbrüchen ersetzen. Anstatt die Schiene bei jeder Anpassung zu zerstören und neu anzufertigen, könnte sie einfach durch Erwärmung immer wieder angepasst werden. Diese Flexibilität ermöglicht es, die Schiene kurzzeitig zu entfernen, zum Beispiel zum Duschen, und sie danach wieder zu verwenden. Zudem ist die Wiederverwendbarkeit der Schiene ein nachhaltiger Ansatz, da sie nicht im Müll landet.

Luftfahrt

Im Flugzeugbau könnte das Material die Form der Tragflächen flexibel an die unterschiedlichen Anforderungen bei Start, Landung und Streckenflug anpassen. Aktuell gehört die Steuerung der Landeklappen-Technik zu den komplexesten Komponenten eines Flugzeugs. Durch die Nachbildung des Seestern-Prinzips könnte die Konstruktion und Steuerung der Flugzeugtragflächen erheblich vereinfacht werden, was zu Kosteneinsparungen und verbesserten aerodynamischen Eigenschaften führen könnte.

Automobilindustrie

In der Automobilindustrie könnte das Material den Sitzkomfort erheblich steigern. Wenn die Sitzfläche eines Autositzes aus diesem Material besteht und sich erwärmt, könnte sie sich präzise an die Ergonomie der darauf sitzenden Person anpassen. Dies würde nicht nur den Komfort erhöhen, sondern auch die Ermüdung bei langen Fahrten verringern.

Einsatz in der Robotik

Neben den genannten Bereichen gibt es viele weitere Einsatzmöglichkeiten für dieses vielseitige Material. Es könnte in der Robotik eingesetzt werden, um flexiblere und anpassungsfähigere Roboter zu entwickeln, die sich besser an ihre Umgebung anpassen können. Ein Such- und Rettungsroboter könnte sich zum Beispiel durch enge Räume zwängen, um eingeschlossene Personen zu erreichen, während ein Roboterarm zerbrechliche Gegenstände sanft greifen und manipulieren könnte, ohne sie zu beschädigen.

Einsatz für den täglichen Gebrauch

Im nächsten Schritt möchte das Forschungsteam die von Seesternen inspirierte Morphing-Struktur für den täglichen Gebrauch zugänglich und praktisch zu machen. Raman erklärt: „Stellen Sie sich Haushaltsgegenstände vor, die sich an Ihre Bedürfnisse anpassen können: Möbel, die sich für verschiedene Aktivitäten neu konfigurieren lassen, oder sogar Spielzeug, das sich in verschiedene Formen verwandelt und so endlose Spielmöglichkeiten bietet“.

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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