100 Mrd. Sterne: Milchstraße erstmals vollständig aufgelöst
Ein KI-gestütztes Verfahren simuliert die Milchstraße mit 100 Milliarden Sternen. So detailliert wurde unsere Galaxie noch nie aufgelöst.
KI simuliert erstmals über 100 Milliarden Sterne der Milchstraße. Ein neues Modell beschleunigt Supernova-Berechnungen drastisch und hebt Simulationen auf ein neues Niveau.
Foto: Smarterpix / thomaswong
Galaxien sind keine freundlichen Rechenaufgaben. Sie sind chaotische Ansammlungen aus Gas, Staub und Hunderten Milliarden Sternen, eingebettet in ein unsichtbares Dunkelmaterie-Gerüst. Wenn Sie die Milchstraße vollständig simulieren wollen, reicht es nicht, einfach nur die Sterne zu zählen. Sie müssen die Gravitation berücksichtigen, die Verteilung des Gases, die Geburt neuer Sterne und die Wucht gewaltiger Supernovae. Und das alles über Millionen bis Milliarden Jahre hinweg.
Lange galt dieses Ziel als unpraktikabel. Rechnermodelle waren entweder grob oder langsam – meistens beides. Kleine Zeitschritte bremsten die Simulationen aus. Einzelne Supernovae rissen das Zeitraster auf und machten große Galaxienmodelle schwer berechenbar. Wer die Milchstraße darstellen wollte, musste zu großen Pauschalwerten greifen: Ein „Teilchen“ entsprach schon mal einem ganzen Sternhaufen.
Diese Grenze ist jetzt gefallen.
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Etwas geschafft, was kaum für möglich gehalten
Ein Forschungsteam um Keiya Hirashima vom RIKEN Center for Interdisciplinary Theoretical and Mathematical Sciences (iTHEMS) hat etwas geschafft, das bisher als kaum machbar galt: eine Milchstraßen-Simulation, die mehr als 100 Milliarden Sterne einzeln berechnet. Und das nicht nur mit einer höheren Auflösung – sondern auch deutlich schneller als bisherige Modelle.
Die Forschenden kombinierten klassische numerische Simulationen mit einem Deep-Learning-Modell, das wie eine Art Abkürzung arbeitet. Der Trick: Die KI übernimmt die Berechnung besonders langsamer Prozesse, etwa die komplexe Ausbreitung einer Supernova. Normalerweise zwingt eine Supernova die Simulation zu winzigen Zeitschritten. Das Team umgeht diese Bremse, indem die KI die Entwicklung von 100.000 Jahren Supernova-Evolution vorhersagt, ohne dass der Hauptrechner dafür rechnen muss.
Dadurch bleibt die große Simulation im Takt und muss nicht ständig „warten“, bis die kleinsten Strukturen fertig berechnet sind.
Warum klassische Simulationen scheitern
Ein paar Zahlen zeigen das Problem:
- Die Milchstraße hat über 100 Milliarden Sterne.
- Moderne Simulationen schaffen üblicherweise nur bis zu 1 Milliarde „Teilchen“.
- In diesen Modellen steht ein Teilchen für rund 100 Sonnenmassen – also kein einzelner Stern, sondern ein ganzer Haufen.
- Supernovae zwingen zu Zeitschritten im Bereich von wenigen hundert Jahren.
- Eine Milliarde Jahre galaktische Entwicklung würde mit herkömmlichen Methoden rund 36 Jahre Echtzeit rechnen.
Viel zu langsam, um komplexe Theorien über die Dynamik unserer Galaxie überhaupt testen zu können.
Hirashima sagt: „Ich glaube, dass die Integration von KI in Hochleistungsrechner einen grundlegenden Wandel in der Art und Weise darstellt, wie wir multiskalige, multiphysikalische Probleme in den Computerwissenschaften angehen.“
Die Forschenden setzen genau hier an – mit einem Ersatzmodell, das physikalische Detailprozesse „vorhersagt“, statt sie mit kleinen Zeitschritten nachzurechnen.
Wie KI die Milchstraße schneller macht
Das Prinzip ist überraschend pragmatisch: Sobald das System eine bevorstehende Supernova erkennt, schickt der Hauptrechner die betroffene Region an einen separaten KI-Knoten. Dieser berechnet die Ausbreitung des Schockfronts in einem Würfel von 60 Parsec Kantenlänge.
Das dauert wenige Sekunden.
Währenddessen läuft die Hauptsimulation weiter, als wäre nichts passiert. Sobald die KI ihr Ergebnis liefert, ersetzt das Modell einfach die betroffene Region durch das von der KI vorhergesagte Gas- und Energieprofil.
Die Forschenden vergleichen es damit, einem extrem langsamen Arbeitsschritt eine rasante Expressspur zu geben.
In Zahlen ausgedrückt, sieht das dann so aus:
- 1 Million Jahre Simulation dauern nur 2,78 Stunden.
- 1 Milliarde Jahre wären damit in 115 Tagen berechenbar – statt in 36 Jahren.
- Die Simulation verwendet bis zu 300 Milliarden Partikel (inklusive Gas und Dunkler Materie).
Damit liegt die Auflösung deutlich über allen bisherigen Galaxienmodellen.
Was sich damit erforschen lässt
Die neue Methode ermöglicht Fragen, die bislang jenseits der Simulationsgrenzen lagen:
- Wie verteilen Supernovae die chemischen Elemente über Milliarden Jahre?
- Warum bilden manche Galaxien stabile Scheiben und andere nicht?
- Wie verändert sich der Sternentstehungszyklus über die Zeit?
- Welche Rolle spielt die Wechselwirkung zwischen Gas, Sternen und Dunkler Materie?
Die Simulation könnte sogar helfen, Modelle in der Klimaforschung oder Ozeanphysik zu beschleunigen. Denn viele dieser Systeme haben dasselbe Grundproblem: schnelle, kleinskalige Ereignisse bremsen das Gesamtsystem aus.
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