Höher als das Ulmer Münster 02.11.2025, 13:00 Uhr

Sagrada Família: Ingenieurskunst aus Stahl, Stein und Statik

Die Sagrada Família in Barcelona ist jetzt die höchste Kirche der Welt. Wie sie dazu wurde – und warum sie noch immer nicht fertig ist.

Sagrada Familia in Barcelona

Schnappschuss von der höchsten Kirche der Welt. Seit einigen Tagen ist die Sagrada Família höher als das Ulmer Münster.

Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Emilio Morenatti

Es war nur eine Frage der Zeit und im Oktober 2025 war es dann so weit: Die Sagrada Família in Barcelona ist nun die höchste Kirche der Welt. Mit der Montage eines Kreuzsegments auf dem zentralen Turm, der Jesus Christus gewidmet ist, erreicht die Basilika 162,91 m. Damit überragt sie das Ulmer Münster um 1,41 m, dessen Hauptturm seit 1890 bei 161,5 m liegt. Doch noch ist nicht das Ende erreicht, der Turm soll noch rund 10 m höher werden.

Der höchste von 18 Türmen

Der Christusturm ist Teil eines Ensembles von 18 Türmen, die den biblischen Figuren der Apostel, Evangelisten, Maria und Christus gewidmet sind. Seine endgültige Höhe von 172,5 m soll bis Mitte 2026 erreicht werden. Die offizielle Weihe des Turms ist für den 10. Juni 2026, den 100. Todestag des Architekten Antoni Gaudí, vorgesehen. Die komplette Fertigstellung der Kirche wird – wenn keine Verzögerungen eintreten – bis 2033 erwartet.

Die Spitze des neuen Turms besteht aus einer Konstruktion aus Stahl, Glas und glasierten Keramikelementen, die Windlasten, UV-Strahlung und starke Temperaturwechsel aushalten. Gefertigt wurde das Kreuz in Bayern, in Segmenten, die auf einer Plattform über dem Mittelschiff vormontiert und anschließend mit Spezialkranen installiert wurden.

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Ursprungsidee: Ein Bau aus Spenden

Die Sagrada Família war nie ein klassisches Kirchenprojekt der Kirche, sondern von Anfang an ein Bürgerprojekt. Josep Maria Bocabella, ein Buchhändler und Gründer einer religiösen Vereinigung, initiierte den Bau 1866. Das Ziel: ein Sühnetempel, finanziert ausschließlich durch Spenden. 1881 erwarb der Verein ein Grundstück im neu geplanten Stadtteil Eixample – rund 12.800 m² groß.

Der erste Architekt, Francisco de Paula del Villar, plante eine schlichte neugotische Kirche. Doch nach internen Streitigkeiten trat er zurück. 1883 übernahm Antoni Gaudí, der damals kaum bekannt war. Er änderte alles.

Kirchenschiff der Sagrada Família

Blick ins Kirchenschiff der Sagrada Família.

Foto: picture alliance / Anadolu | Adria Puig

Gaudís Konzept: Baukunst nach Naturprinzipien

Gaudí wollte keine Kopie gotischer Kathedralen bauen. Er wollte ein Bauwerk schaffen, das natürlichen Strukturen folgt. Statt auf vertikale Schwere setzte er auf organische Leichtigkeit. Seine Pfeiler sollten wie Baumstämme wirken, die sich nach oben verzweigen und die Last gleichmäßig verteilen.

Mathematisch arbeitete Gaudí mit Regelflächen – also Formen, die sich mit geraden Linien erzeugen lassen. Dazu gehören Hyperboloide, Paraboloide und Helikoide. Diese Geometrien sind nicht nur ästhetisch, sondern auch statisch effizient. Sie verteilen Druckkräfte optimal und ermöglichen tragfähige Konstruktionen mit weniger Material.

Gaudí experimentierte mit hängenden Modellen: Ketten und Gewichte bildeten umgekehrte Bögen, die später die Form der Gewölbe bestimmten. Diese Methode – eine frühe analoge Simulation – lieferte zuverlässige Ergebnisse, die sich später digital nachweisen ließen.

Die Baugeschichte der Sagrada Família

Seit weit über 140 Jahren wird an der Sagrada Família gebaut – sie ist sicherlich eine der bekanntesten Dauerbaustellen der Welt. Schauen wir uns an, wie alles begann und wie sie zur höchsten Kirche der Welt wurde.

1882–1900: Grundstein und Krypta

Die Grundsteinlegung erfolgte am 19. März 1882. Zunächst wurde die Krypta aus Sandstein errichtet – einem widerstandsfähigen Naturstein aus dem Montjuïc-Gebirge. Gaudí übernahm 1883 und passte den Plan an: Die Kirche sollte 18 Türme umfassen, deren Höhen in einer spirituellen Hierarchie angeordnet sind – mit dem Christusturm als Zentrum.

Bis 1900 waren Krypta und Teile der Apsis fertiggestellt. Gaudí experimentierte erstmals mit geneigten Säulen und parabolischen Bögen.

1900–1926: Geburtsfassade und Gaudís Lebenswerk

Ab 1908 begann der Bau der Geburtsfassade, die Szenen aus der Kindheit Jesu zeigt. Sie wurde mit über 400 plastischen Elementen versehen, die Gaudí aus Gipsabgüssen realer Pflanzen und Tiere entwickelte.

Ab 1914 lebte Gaudí dauerhaft auf der Baustelle. 1925 vollendete er den ersten Turm der Fassade (107 m hoch). Ein Jahr später kam er bei einem Unfall ums Leben.

1926–1936: Weiterbau durch Schüler

Gaudís Schüler Domènec Sugrañes i Gras führte die Arbeiten fort. Bis 1930 waren alle vier Türme der Geburtsfassade abgeschlossen. Danach stagnierte der Bau aus finanziellen Gründen.

Sagrada Família im Jahr 1925

Baustelle der Sagrada Família im Jahr 1935.

Foto: picture alliance / Heritage-Images | –

1936–1950: Bürgerkrieg und Wiederaufbau

Während des Spanischen Bürgerkriegs wurden Werkstätten und Modelle zerstört. Nur Bruchstücke blieben erhalten. In den 1940er-Jahren begannen ehemalige Mitarbeiter Gaudís mit der mathematischen Rekonstruktion seiner Geometrien anhand von Restteilen und Fotos.

1950–1980: Passionsfassade und neue Baustoffe

Ab den 1950er-Jahren verlagerte sich der Fokus auf die Passionsfassade. Architekt Josep Maria Subirachs entwarf kantige Figuren, die die Leidensgeschichte Jesu darstellen.

Technisch begann die Ära des Betonbaus: Betonfertigteile und Stahlanker ersetzten schwere Steinquader. Moderne Krananlagen verkürzten die Bauzeit erheblich.

1980–2010: Digitaler Wandel

Ab den 1980er-Jahren wurde die Sagrada Família zum Pilotprojekt für digitale Planung. Jordi Bonet Armengol führte CAD-Systeme und 3D-Modellierung ein. Laserscans und digitale Topografie ermöglichten erstmals eine präzise Erfassung aller Strukturen.

2001 begann der Bau des Mittelschiffs, dessen Säulen aus verschiedenem Gestein – Basalt, Porphyr und Granit – bestehen, je nach Traglast.

2010 wurde der Innenraum durch Papst Benedikt XVI. geweiht und die Kirche zur Basilica minor erhoben.

2010–2025: Der Weg zum Rekord

Seit 2012 leitet Jordi Faulí i Oller die Arbeiten. Unter seiner Leitung entstanden die Türme der Evangelisten und der Marienturm, der 2021 mit einem zwölfzackigen Glasstern gekrönt wurde.

Die Bauweise ist heute hybrid: Digitale Modellierung trifft auf handwerkliche Präzision. Laserscanner, Robotersägen und 3D-gedruckte Schablonen sorgen für millimetergenaue Passformen.

2024 begann die Montage des Christusturms. Das Kreuz aus Glas und Edelstahl wurde im Oktober 2025 aufgesetzt – und brachte die Kirche auf ihre Rekordhöhe von 162,91 m.

Geplanter Abschluss bis 2033

Bis 2033 soll die Glorienfassade, der künftige Haupteingang, fertiggestellt werden. Sie wird auf eine Länge von rund 90 m ausgelegt und aus vorgefertigten Modulen bestehen, die per Robotermontage installiert werden.

Statik und Tragwerk: Warum die Sagrada Família ohne Strebepfeiler auskommt

Die Statik der Sagrada Família unterscheidet sich grundlegend von der traditioneller Kathedralen. Während gotische Kirchen wie in Ulm oder Köln auf vertikale Pfeiler und äußere Strebebögen setzen, basiert Gaudís Tragwerk auf einem System aus geneigten Säulen, Parabelbögen und Regelflächen, die alle Druckkräfte nach unten und außen ableiten.

Geneigte Säulen als Kraftlinien

Die zentralen Pfeiler im Inneren der Basilika stehen nicht senkrecht, sondern in einem Winkel von bis zu 15 Grad geneigt. Sie folgen damit den Kraftlinien, die Gaudí mit hängenden Modellen experimentell ermittelte. Jeder Strang einer aufgehängten Kette zeigte den Verlauf der Druckkräfte im späteren Bauwerk. Spiegelte man das Modell, ergab sich die optimale Form für Bögen und Stützen.

Durch diese Neigung wirken keine nennenswerten Querkräfte. Alle Lasten werden in reine Druckkräfte umgewandelt – ein Prinzip, das Material spart und die Stabilität erhöht. Selbst bei Erdbeben oder Windlasten bis zu 180 km/h bleibt die Struktur weitgehend spannungsneutral.

Gewölbedecke der Sagrada Familia

Blick auf die gewaltige Gewölbedecke der Sagrada Família.

Foto: picture alliance / Anadolu | Adria Puig

Paraboloide und Hyperboloide

Die Gewölbedecken und Türme bestehen aus parabolischen Bögen und Rotationshyperboloiden. Diese mathematisch beschreibbaren Flächen verteilen Lasten gleichmäßig und erzeugen stabile Hohlräume mit geringem Eigengewicht.

Ein Beispiel ist das Mittelschiff, dessen Dach in einer Höhe von 45 m liegt. Die elliptische Krümmung der Decke bewirkt, dass Druckkräfte radial zur Mitte verlaufen. Dadurch wird kein zusätzlicher äußerer Strebebogen benötigt – das Dach trägt sich selbst.

Materialien und Lastpfade

Gaudí verwendete ursprünglich massiven Naturstein aus dem Montjuïc-Gebirge, später ergänzt durch Kalkstein aus Girona. Heute wird eine Kombination aus hochfestem Beton und Edelstahlbewehrung genutzt.

Jeder der 36 Hauptpfeiler besteht aus mehreren Materialzonen:

  • Untere Segmente: Basalt und Porphyr für hohe Druckfestigkeit
  • Mittlere Abschnitte: Beton mit Quarzanteil
  • Obere Teile: Leichtbeton mit Gesteinsmehl

Dieses Materialkonzept sorgt dafür, dass sich die Druckzonen entlang der Lastpfade verjüngen – ähnlich wie bei natürlichen Baumstrukturen.

Wind- und Eigenfrequenzanalyse

Da der Christusturm mit geplanten 172,5 m eine schlanke Struktur aufweist, spielt die Schwingungsanalyse eine zentrale Rolle. Ingenieurinnen und Ingenieure des Instituto de Ciencias de la Construcción Eduardo Torroja führten Messungen durch, um die Eigenfrequenzen der Türme zu bestimmen.

Die Grundfrequenz liegt bei etwa 0,28 Hz, was deutlich unter den durch Windböen ausgelösten Frequenzen liegt. Damit werden Resonanzeffekte vermieden. Im Inneren absorbieren poröse Steine und Hohlräume Schall und Schwingungen zusätzlich – ein Effekt, der auch akustisch zur charakteristischen Raumwirkung beiträgt.

Fundament und Setzungsverhalten

Das Fundament ruht auf einer Schicht aus kalkhaltigem Mergel und Sandstein, die über Pfahlgründungen stabilisiert wurde. Aufgrund der ungleichmäßigen Belastung – vor allem durch die schrägen Türme – überwachen Sensoren permanent mögliche Setzungen.

Seit 2010 sind im Boden über 120 Messpunkte installiert, die Bewegungen im Millimeterbereich registrieren. Die Daten fließen in ein digitales Strukturmodell, das Abweichungen frühzeitig anzeigt.

Tragwerksüberwachung in Echtzeit

Zur Kontrolle der gesamten Konstruktion arbeitet das Bauteam mit einem  BIM-System (Building Information Modeling), das die Geometrie, das Materialverhalten und die Belastungssituation in Echtzeit abbildet.

Sensoren messen:

  • Temperatur und Feuchtigkeit im Beton
  • Schwingungen bei Windlast
  • Mikrobewegungen der Säulen

So entsteht ein digitaler Zwilling der Sagrada Família, der nicht nur für den Bau, sondern auch für die langfristige Instandhaltung genutzt wird.

Bau ohne öffentliche Gelder

Seit über 140 Jahren wird die Sagrada Família ausschließlich durch Spenden und Eintrittsgelder finanziert. 2024 zählte sie rund 4,9 Mio. Besucherinnen und Besucher, was Einnahmen von fast 134 Mio. € brachte. Öffentliche Mittel fließen bis heute nicht.

Die Baugesellschaft arbeitet gemeinnützig. Einnahmen fließen direkt in neue Bauabschnitte, Restaurierungen und Forschungsarbeiten. Zwischen 2019 und 2023 stiegen die Baukosten wegen gestiegener Materialpreise auf rund 400 Mio. €. Das entspricht der Kostenstruktur eines mittleren Großprojekts im Hochbau – allerdings über eine Bauzeit von fast eineinhalb Jahrhunderten.

Nicht alle sind und waren vom Bau begeistert

Trotz der globalen Anerkennung ist der Bau nicht unumstritten. Bereits in den 1960er-Jahren kritisierten Architekten wie Oriol Bohigas die Fortführung als „anachronistisch“. Auch die Tageszeitung La Vanguardia forderte damals einen Baustopp.

Heute stehen eher städtebauliche Fragen im Fokus. Der geplante Ausbau der Glorienfassade erfordert Flächen, die derzeit von Wohnhäusern belegt sind. Schätzungen zufolge müssten bis zu 3000 Menschen umgesiedelt werden. Die Stadt verhandelt über Kompromisslösungen, etwa geänderte Zugangswege oder reduzierte Treppenanlagen.

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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