Stuttgart 21 wieder verschoben: Was jetzt der Grund ist
Eröffnung von Stuttgart 21 erneut verschoben. ETCS-Probleme, steigende Kosten und neue Zeitpläne. Ein Überblick.
Blick auf die Dauerbaustelle Stuttgart Hauptbahnhof. Die Eröffnung verschiebt sich zum wiederholten Male. Vor 2027 geht nichts.
Foto: picture alliance / imageBROKER | Lilly
Seit mehr als 15 Jahren prägt ein einziges Projekt das Zentrum Stuttgarts. Baustellen bestimmen Wege, Lärm den Alltag, Zäune das Stadtbild. Stuttgart 21 sollte die Region verkehrlich modernisieren. Herausgekommen ist ein Jahrhundertvorhaben, das regelmäßig an seinen eigenen Ambitionen scheitert. Jetzt steht fest: Der neue Tiefbahnhof öffnet frühestens im Dezember 2027. Ein weiteres Jahr Verzögerung, obwohl der Termin 2026 bereits als Korrektur galt.
Quellen aus Bahn-Aufsichtsrat und Projektgremium bestätigen: Selbst die gestaffelte Inbetriebnahme, die den Betrieb entlasten sollte, ist Geschichte. Die technische Infrastruktur ist nicht bereit.
Inhaltsverzeichnis
- Digitale Leitstelle im Zeitverzug
- Die Idee einer stufenweisen Eröffnung – und ihr Ende
- Ein Bahnknoten, der weit über den Bahnhof hinausgeht
- Warum die „21“ nie das Jahr meinte
- Bekannte Risiken – aber unterschätzt
- Kosten: eine Zahl, die ständig wächst
- Zeitgewinn im Fernverkehr – aber nicht wegen des Tiefbahnhofs
- Warum Tunnelbau in Stuttgart besonders anspruchsvoll ist
- Ein Projekt, das die Stadt verändert hat – und weiter verändert
- Zeitleiste im Überblick
Digitale Leitstelle im Zeitverzug
Die Bahn verweist auf technische Probleme im Bahnknoten. Gemeint ist vor allem der vollständige Verzicht auf klassische Signale. Stuttgart 21 soll komplett auf ETCS basieren – ein digitaler Standard, der Züge per Funk führt und Geschwindigkeiten permanent überwacht. Die Vorteile liegen theoretisch auf der Hand: weniger Technik im Gleis, mehr Durchlass, ein flexibler Betrieb.
Doch die Realität bremst. Interne Unterlagen sprechen von „abgespannten Arbeiten“. Ein Hinweis darauf, dass die Digitalisierung nicht in dem Tempo vorankommt, das erforderlich wäre. Auch am eigentlichen Tiefbahnhof hakt es weiter. Die Bahn hatte selbst eingeräumt, dass der Knoten „komplexer als ursprünglich kalkuliert“ sei.
Die Idee einer stufenweisen Eröffnung – und ihr Ende
Im Sommer 2025 wollte die Bahn den Druck reduzieren. Der Plan sah drei Phasen vor:
- Fernverkehr und Teile des Regionalverkehrs sollten ab Dezember 2026 in den neuen Bahnhofsbereich rollen.
- Andere Linien wären bis Mitte 2027 im bestehenden Kopfbahnhof geblieben.
- Die Gäubahn wäre erst 2027 vollständig umgelegt worden.
DB-Infrastrukturvorstand Berthold Huber sagte damals: „Damit können wir die Beeinträchtigungen für die Fahrgäste so gering wie möglich halten.“ Dieser Ansatz sollte Chaos vermeiden. Doch heute ist klar: Er funktioniert nicht. Die digitalen Komponenten sind zu unausgereift. Ohne funktionierendes ETCS bleibt der Durchgangsbahnhof unvollständig.
Ein Bahnknoten, der weit über den Bahnhof hinausgeht
Stuttgart 21 umfasst deutlich mehr als die markanten Kelchstützen des neuen Tiefbahnhofs. Das Paket enthält:
- einen komplett neu geordneten Bahnknoten,
- den neuen Flughafenbahnhof,
- rund 60 km Tunnel,
- neue Brücken und Verknüpfungen im gesamten Stadtgebiet,
- sowie die bereits in Betrieb genommene Neubaustrecke Wendlingen–Ulm.
Der Tiefbahnhof ersetzt den bisherigen Kopfbahnhof und wird zum Durchgangsbahnhof mit acht Zufahrten statt fünf. Das Ziel: mehr Kapazität, mehr Flexibilität. Die Umsetzung zeigt jedoch, wie anspruchsvoll diese Umstellung im Bestand ist.
Warum die „21“ nie das Jahr meinte
Hartnäckig hält sich das Missverständnis, die Zahl im Projektname verweise auf das Eröffnungsjahr. Tatsächlich stammt „21“ aus einem Modernisierungsprogramm, das die Bahn ins 21. Jahrhundert führen sollte. Die ursprünglich geplante Eröffnung 2019 wirkt heute wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.
Bekannte Risiken – aber unterschätzt
Die Gründe für Verzögerungen begleiten das Projekt seit Beginn:
- langwierige Klagen, etwa zu Brandschutzkonzepten,
- Änderungen durch Umwelt- und Artenschutzauflagen,
- geologisch komplizierte Schichten wie quellfähiges Anhydrit,
- aufwendige Genehmigungen,
- und immer stärker: die schleppende Digitalisierung des Netzes.
Kritiker werfen der Bahn vor, Risiken kleinzureden. Martin Poguntke vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 sagt: „Nachmittags um drei ist ein Zug schnell geleert. Aber im Berufsverkehr lassen sich diese Haltezeiten nicht realisieren.“ Er meint damit: Der neue Durchgangsbahnhof sei zu klein geplant.
Kosten: eine Zahl, die ständig wächst
Die Kalkulationen zeigen eine klare Richtung:
- Aktueller Stand: rund 11,3 Mrd. €.
- Ursprüngliche Planung 2009: 4,5 Mrd. €.
- Der Puffer: nahezu aufgebraucht.
Ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg von 2024 legt fest: Die Bahn trägt alle Mehrkosten. Land und Stadt müssen nicht nachzahlen. Die Bahn akzeptierte die Entscheidung.
Zeitgewinn im Fernverkehr – aber nicht wegen des Tiefbahnhofs
Oft wird Stuttgart 21 mit kürzeren Fahrzeiten beworben. Tatsächlich sind diese zum großen Teil der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm zu verdanken. Beispiel: Ulm–Stuttgart reduziert sich künftig auf 27 Minuten statt 56 Minuten.
Die Vorteile des neuen Bahnhofs bleiben dennoch relevant:
- direktere Linien im Regionalverkehr,
- eine Fernverkehrsanbindung des Flughafens,
- mehr Zufahrten, die den Knoten strukturieren.
Gegner halten jedoch dagegen: Der Engpass verlagere sich nur.
Warum Tunnelbau in Stuttgart besonders anspruchsvoll ist
Ein Kernproblem liegt im Untergrund. Anhydrit gilt als heikel, weil er bei Wasserkontakt aufquillt und Schäden in Tunnelbauwerken verursachen kann. Das erfordert komplexe Abdichtungen. Zudem liegt die Innenstadt dicht bebaut über den Tunneltrassen. Jeder Fortschritt verlangt daher permanente Überwachung und angepasste Bautechnik.
Ein Projekt, das die Stadt verändert hat – und weiter verändert
Seit dem Abriss des Nordflügels 2010 prägt Stuttgart 21 das Stadtleben. Demonstrationen, politische Wendepunkte und harte öffentliche Debatten haben das Projekt begleitet. Die Volksabstimmung 2011 gab dem Bau eine politische Legitimation. Danach beruhigte sich die Lage, aber nicht die Baustelle.
Dass der vollständige Abschluss inklusive Gäubahn-Tunnel erst 2032 realistisch erscheint, zeigt: Die Verzögerung 2027 ist nicht das Ende, sondern ein weiteres Kapitel.
Zeitleiste im Überblick
- 1994 – Erste Pläne für „Netz 21“
- 1997 – „Stuttgart 21“ wird öffentlich
- 2009 – Vertrag, geplante Eröffnung: 2019, Kosten: 4,5 Mrd. €
- 2010 – Baustart, Beginn der Proteste
- 2011 – Volksabstimmung: Mehrheit für Weiterbau
- 2016–2019 – Verschiebung auf 2024
- 2022 – Schnellfahrstrecke Wendlingen–Ulm startet
- 2024 – Neuer Termin: Dezember 2026
- Juli 2025 – Teilweise Inbetriebnahme für 2026 angekündigt
- November 2025 – Auch dieser Termin fällt
- Neuer Ausblick – Vollbetrieb frühestens 2027, Projektende 2032
(Mit Material der dpa)
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