Die Natur als Vorbild: Wozu Bionik studieren?
In diesem Studium ist „Abgucken“ ausdrücklich erwünscht: In der Bionik lernen Studierende, wie sich funktionierende Prinzipien biologischer Systeme auf technische Innovationen übertragen lassen.
Bionik-Studium: Von der Natur lernen – und technische Innovationen entwickeln, die so effizient sind wie die Vorbilder aus Millionen Jahren Evolution.
Foto: PantherMedia / IgorVetushko
„Die Idee, von Bestehendem auf diesem Planeten zu lernen, ist nicht die schlechteste“, findet auch Prof. Dr. Antonia Kesel. Zugegeben, die VDI-Fachbereichsleiterin Bionik ist von Berufs wegen befangen. Doch: „Die Prinzipien der Natur haben sich über Millionen Jahre hinweg entwickelt – sie haben ihren ‚Proof of Concept‘ längst erbracht“, formuliert sie einen Punkt, der nur schwer von der Hand zu weisen ist.
Ein bionisches Erfolgsmodell aus dem Alltag ist der Klettverschluss. Dessen Erfinder, George de Mestral, kam buchstäblich im Vorbeigehen auf die Idee, als er sich über die vielen Früchte der Klette wunderte, die sich im Fell seiner Hunde verfangen hatten. Das war allerdings nur der Anstoß. Von der mikroskopischen Entdeckung des Haftgeheimnisses der Klette über die Entwicklung des Verschlusssystems bis zum Patent vergingen zehn Jahre – und bis zur Marktreife dauerte es beinahe noch einmal eine Dekade.
Der Transfer natürlicher Prinzipien auf die Technik ist also alles andere als trivial. Zumal nicht jede Entdeckung wie die Klette einfach so am Hosenbein klebenbleibt. Die Bionik hat es vielfach mit hochspezialisierten Fragestellungen zu tun: Sie optimiert Strömungsprofile nach dem Vorbild der Haifischhaut, entwickelt flexible Roboter mit der Wendigkeit eines Kraken und synthetisiert wundheilenden Bio-Klebstoff inspiriert von der Haftkraft des Schneckenschleims.
Potenzielle Lösungen in der Natur müssen nicht nur entdeckt, sondern auch entschlüsselt werden, bevor sie sich für den technischen Gebrauch „übersetzen“ lassen. Häufig passiert das auf biochemischer Ebene, im Zusammenspiel der Moleküle und Zellen. Die Grundlagen dieser Dolmetscherarbeit vermittelt das Studium der Bionik.
Welchen Reiz übt ein Studium der Bionik aus?
„Die Bionik bietet eine unglaubliche Mischung aus naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen. Man kann sich frei in einem sehr großen Umfeld tummeln“, führt Antonia Kesel aus. Ihr eigener Weg in die Bionik führte über die Biologie – ihre Dissertation widmete sie der aquatischen Lokomotion, also der Fortbewegung von Fischen. Als Professorin baute sie an der Hochschule Bremen den ersten Internationalen Studiengang Bionik auf, der im Wintersemester 2002/03 startete.
Seitdem ist das Forschungsfeld gewiss nicht kleiner geworden. „In der Bionik gibt es für jede und jeden etwas, in das man sich vertiefen kann“, ist Studiengangsleiterin Kesel überzeugt.
Wo kann man Bionik in Deutschland studieren?
Bionik ist ein vergleichsweise junges Fach. In Deutschland ist die Hochschule Bremen bislang der einzige Hochschulstandort, an dem Bionik sowohl im Bachelor- als auch im Master (mit Schwerpunkt „Mobile Systems“) gelehrt wird.
Bachelorstudiengänge gibt es in Nordrhein-Westfalen an der Westfälischen Hochschule, Campus Bocholt, sowie an der Hochschule Hamm-Lippstadt, wo Bionik mit dem Fach Materialwissenschaften kombiniert ist. Die Hochschule Rhein-Waal in Kleve (ebenfalls NRW) bietet einen Masterstudiengang „Bionics“ an. In einem Fernstudium der HTW Saar in Saarbrücken können Studierende einen Masterabschluss in Konstruktionsbionik absolvieren.
An anderen Hochschulen ist Bionik ein Bestandteil spezialisierter Fachrichtungen oder vertiefender Module. Eine Übersicht von Fakultäten mit bionischer Prägung findet sich auf der Homepage des Bionik Kompetenz Netzwerkes BIOKON.
Was lernen Studierende in der Bionik?
Vor allem eines: gedankliche Flexibilität. „Sie müssen mental umschalten können – beispielsweise von der Biologie in die Werkstoffwissenschaften“, betont Antonia Kesel. Denn in den Naturwissenschaften werde anders gedacht und gesprochen als in den Ingenieurwissenschaften. Während Ingenieurinnen und Ingenieure häufig bestehende Systeme optimieren, steht in der Biologie oft eine bereits beeindruckende Lösung im Mittelpunkt.
Um fachliche Brücken zu schlagen, erwerben Studierende zunächst Grundlagen in Mathematik, Informatik, Biologie, Chemie, Physik und technischer Mechanik. Neben Fachwissen und einer hohen Methodenkompetenz werden gezielt bionische Soft Skills vermittelt. Bionikerinnen und Bioniker arbeiten interdisziplinär und die meisten Forschungsprojekte verfolgen ambitionierte Ziele, die einen langen Atem erfordern.
Teamfähigkeit und Frustrationstoleranz entwickeln Studierende in praxisorientierten Projekten, die in hochschuleigenen Instituten oder in Kooperation mit Unternehmen stattfinden. Oft ergeben sich daraus anwendungsnahe Themen für Bachelor- oder Masterarbeiten. In Bremen bestehen traditionell enge Verbindungen zur Luftfahrttechnik und Hafenindustrie. „Außerdem ist ein verbindliches Auslandssemester vorgesehen, damit unsere Studierenden die Welt kennenlernen“, ergänzt Kesel für den Standort Bremen.
Was sollten Studierende mitbringen?
Ratsam ist eine realistische Erwartungshaltung: „Bionik ist kein einfaches Studium“, bringt Antonia Kesel auf den Punkt. Die vielen Grundlagen verlangen eine intensive Einarbeitung, die überfordern können. Umgekehrt gebe es auch Studierende, „die sich unterfordert fühlen, weil ihnen die Einblicke in die einzelnen Disziplinen nicht tief genug gehen“.
In beiden Fällen entstehe jedoch häufig die Gewissheit, für welches Fach – naturwissenschaftlich oder technisch – man wirklich brennt. „Wir stellen nicht erst seit Corona verstärkt fest, dass junge Menschen die Bionik zur Orientierung nutzen.“
Unabhängig vom persönlichen Einstieg gilt: Wer in der Bionik erfolgreich sein will, braucht eine offene Haltung. „Neugierig sein, genau hinschauen – und das ohne Vorurteile. Das befähigt uns, überraschende Lösungen zu finden“, so Kesel.
Wo arbeiten Bionikerinnen und Bioniker – und wie stehen ihre Karrierechancen?
Die Karrierewege sind vielfältig. Viele Absolventinnen und Absolventen gehen für ein Masterstudium ins Ausland oder schließen direkt eine Promotion an. „Sehr viele ehemalige Studierende arbeiten in den unterschiedlichsten Forschungs- und Entwicklungsabteilungen weltweit, die sie nach zehn Jahren durchaus auch selbst leiten“, berichtet Antonia Kesel.
Ihr systemisches, interdisziplinäres Denken macht sie in zahlreichen Branchen gefragt: von der Werkstofftechnologie über die Bauteiloptimierung bis hin zu Leichtbaustrukturen, funktionalisierten Oberflächen und innovativen Transportsystemen. Weitere Einsatzmöglichkeiten bestehen in Robotikunternehmen, der Automobil- und Luftfahrtindustrie, in der Mikro- und Nanotechnologie, der Energietechnik sowie in Ingenieurbüros sowie Beratungsunternehmen.
Das Zukunftspotenzial schätzt Antonia Kesel als „sehr groß“ ein – vor allem dort, wo es Optimierungsbedarf gibt. Die Bionik ist schließlich den effizienten, ressourcenschonenden Prinzipien der Biologie auf der Spur. Kesel: „Vor diesem Hintergrund gibt es in vielen Branchen Luft nach oben – und dementsprechend ganz viel Entwicklungs- und Gestaltungsspielraum für Bionikerinnen und Bioniker.“
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