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Neue Wege zur Qualifikation 10.09.2020, 15:27 Uhr

Training und Ausbildung mit Virtual Reality

Top-qualifiziertes Personal in Produktion und Service ist bereits heute eine knappe Ressource. Training und Weiterbildung sind jedoch oftmals teuer, und die Schulung an Produkt oder Produktionsanlage ist oft nur sehr eingeschränkt möglich. Virtual Reality (VR) ist ein entscheidender Baustein zur Lösung dieser Probleme: Service- und Produktionsprozesse werden realistisch am virtuellen 1:1-Objekt trainiert, mit und ohne Unterstützung durch einen erfahrenen Instruktor und an beliebigen Orten. Letzteres ist gerade in der durch das Corona-Virus bedingten Situation des Jahres 2020 von besonderer Bedeutung.

Bild 1. Übersicht Virtual Reality (VR)-Training. Bild: Fraunhofer IAO

Bild 1. Übersicht Virtual Reality (VR)-Training. Bild: Fraunhofer IAO

Ausgabe 7/8-2020 / S. 572

1 Von der Ausbildungswerkstatt zum virtuellen Trainingsraum

Die fortschreitende Digitalisierung bringt es mit sich, dass die Aufgaben der Mitarbeiter in der Produktion immer anspruchsvoller werden. Gleichzeitig werden dadurch auch die Produkte immer komplexer, die beim Kunden zu installieren, zu warten und zu reparieren sind. Digitale Assistenzsysteme sind hier ein Lösungsansatz, sie können jedoch ein breites und ständig aktualisiertes Know-how der Mitarbeiter nicht ersetzen. Aus- und Weiterbildung sind allerdings zeit- und kostenaufwendig, insbesondere wenn es um praktische Kenntnisse und Fähigkeiten geht, die sich nur am realen Objekt richtig vermitteln lassen. Die heute verfügbare VR-Technik kann einen wesentlichen Beitrag zur Lösung dieser Probleme leisten: Durch die Kombination aus realistischer, räumlicher 1:1-Darstellung und der direkten räumlichen Interaktion, beispielsweise dem Greifen und Bewegen von Teilen einer Maschine wird es möglich, das Training am physischen Objekt ins Virtuelle zu verlagern, mit allen damit verbundenen Vorteilen:

  • Virtualisierung: An Objekten, die physisch nicht oder noch nicht verfügbar sind
  • Flexibilität: An beliebigen Orten, zu beliebigen Zeitpunkten und in indivduellem Tempo
  • Skalierbarkeit: Trainingskapazität unabhängig von der Anzahl der Ausbilder

2 Von der Demo zur produktiven Nutzung

Zahlreiche eindrucksvolle VR-Demos auf Messen und anderen Veranstaltungen machen das enorme Potenzial der VR gerade für Training und Ausbildung sehr anschaulich. Die meisten dieser Demonstratoren werden mit den Autorenwerkzeugen der gängigen VR-Plattformen (zum Beispiel Unity Editor oder Unreal Editor) erstellt, was umfangreiche Spezialkenntnisse in der Nutzung dieser komplexen Softwarewerkzeuge voraussetzt. Änderungen an den durchzuführenden Aufgaben oder den 3D-Modellen sind dementsprechend aufwendig und können nur von geschulten Spezialisten vorgenommen werden.

Für eine wirtschaftliche Nutzung in der Industrie kommt es jedoch darauf an, den zusätzlichen Aufwand für den Einsatz von VR zu minimieren, sowohl für die Erstellung der Inhalte als auch für den Roll-Out im Unternehmen. Zwei Erfolgsfaktoren sind entscheidend:

  • Nutzerzentrierung: Die VR-Anwendung und die notwendige Technik sollten durch die Lernenden einfach zu handhaben sein, um einen sofortigen Einstieg in die Lerninhalte zu ermöglichen und das Medium VR als attraktiv zu erleben – auch wenn der Reiz des Neuen nachgelassen hat.
  • Prozessintegration: Die 3D-Daten der Trainingsobjekte sollten ohne manuellen Zusatzaufwand aus den existierenden Produkt- oder Anlagendaten übernommen werden können. Ebenso sollten Fachexperten und Ausbilder die VR-Lerninhalte selbst erstellen können, ohne dazu VR-Spezialkenntnisse zu benötigen; der Aufwand zur Erstellung sollte dabei mit demjenigen für andere Schulungsmaterialien vergleichbar sein.

3 VR-Training in der Praxis

Im Rahmen des Forschungsprojektes „Glassroom“, das zum Ziel hatte, die Potenziale der VR und AR für die berufliche Bildung im Maschinen- und Anlagenbau nutzbar zu machen, wurde „VRcademy“ entwickelt, das ein Gesamtsystem für VR-basiertes Training bildet [1]. Dieses adressiert die in Abschnitt 2 dargestellten Erfolgsfaktoren (Bild 1).

3.1 Prozessintegration und Authoring

Um eine Trainingssession in VR durchführen zu können, werden zwei Klassen von Informationen benötigt: zum einen die 3D-Daten der Produkte und/oder Anlagen, die Gegenstand des Trainings sind, zum anderen die logische Beschreibung der zu trainierenden Aufgabe. Die 3D-Daten liegen meist als CAD-Modelle vor; diese können mittels eines speziell für diese Funktion optimierten Konverters in der Regel ohne manuellen Aufwand (zum Beispiel Entkernen, Polygonreduzierung) in eine VR-taugliche Repräsentation überführt werden. Dieser Konverter verarbeitet verschiedene Eingangsdatenformate, darunter das im CAD-Bereich verbreitete, ISO-standardisierte Format JT [2].

Die zweite Klasse von Informationen ist die semantische Beschreibung der zu trainierenden Tätigkeiten; diese müssen in einer Form erzeugt werden, die vom VR-Client in Form einer interaktiven Aufgabe dargestellt werden kann. Diese Informationen sind im Kern ja Prozessbeschreibungen, weshalb sich zu deren Repräsentation standardisierte Prozessbeschreibungssprachen eignen. In VRcademy wird hierfür BPMN (Business Process Model Notation) in der Version 2,0 verwendet. BPMN verfügt über die notwendigen Sprachelemente zur Beschreibung von Prozessen und der daran beteiligten Entitäten. Seit der Version 2.0 ist zur Speicherung und Verarbeitung von BPMN-Modellen ein XML-Format spezifiziert. Im Jahr 2013 wurde BPMN als ISO-Standard [3] veröffentlicht und wird von verschiedenen, sowohl freien als auch kommerziellen Prozessmodellierungs-Werkzeugen verwendet.

Das Autorenwerkzeug von VRcademy erlaubt über eine einfache graphische Oberfläche die Erstellung der Beschreibungen für die Trainingsabläufe, (Bild 2).

Bild 2. „VRcademy“-Workflow. Bild: Fraunhofer IAO

Dazu werden die einzelnen Schritte zum Beispiel Schraube lösen) textuell beschrieben und mit weiteren Informationen annotiert. Die wichtigste Information ist jeweils die Identifikation der Objekte (Teile oder Baugruppen) im 3D-Modell, die im jeweiligen Prozessschritt bearbeitet werden. Das Autorenwerkzeug (Bild 3) integriert dazu eine 3D-­Ansicht des Modells, in der die jeweiligen Objekte direkt selektiert werden können.

Bild 3. Autorenwerkzeug Bild: Fraunhofer IAO

Weitere Annotationen sind Informationen über die gegebenenfalls zu verwendenden Werkzeuge, Hinweise zur Ausführung (zum Beispiel Anzugsmoment einer Schraube) sowie Warn- und Sicherheitshinweise. Auch Bilder und Video­sequenzen können als Annotationen verwendet werden.

3.2 VR-Client

Der VR-Client ist die Software-Applikation, mit der die Lernenden die Trainingslektionen durchführen. Dieser kann mit gängigen VR-Headsets (Oculus Rift, HTC Vive, Windows Mixed Reality-Geräte) eingesetzt werden. Die Interaktion erfolgt derzeit mittels der jeweiligen Controller des VR-Headsets. Das Anwender­feedback bei Vergleichen anhand von Ein-/Ausbau­vorgängen zwischen der Interaktion mit Controllern und direkter Interaktion mit den Händen (Erfassen durch Handtracking) ergaben eine klare Präferenz für Controller.

Bild 4 zeigt die Sicht des VR-Anwenders.

Bild 4. Sicht des Lernenden in Virtual Reality. Bild: Fraunhofer IAO

Darin wird deutlich, dass die visuelle Darstellung nicht auf Photorealismus ausgelegt ist. Diese Art der Darstellung wurde nach Nutzerbefragungen zum notwendigen Grad an visuellem Realismus gewählt.

Analog zum erstmals von Wood et al. beschriebenen „Scaf­folding“-Ansatz [4] können die Trainingslektionen jeweils mit unterschiedlichen Graden von Unterstützung durchlaufen werden. In der höchsten Unterstützungsstufe sind dabei Reihenfolge und Position der ein- oder auszubauenden Objekte vorgegeben; zusätzlich ist ein Informationspanel verfügbar (Bild 2 rechts), das vom Nutzer jederzeit aufgerufen werden kann; auf diesem werden die im Autorenwerkzeug erfassten Hinweistexte und gegebenenfalls Bilder dargestellt. Die niedrigste Unterstützungsstufe ist die vollständig selbständige Durchführung der Aufgabe.

4 Fazit und Ausblick

Die Erfahrungen und Evaluationsergebnisse [5] im industriellen Praxiseinsatz zeigen, dass VR-basiertes Training das Potenzial hat, die Aus- und Weiterbildung in Produktion sowie Service wesentlich zu verbessern, indem viele Einschränkungen der heute üblichen Methoden des Trainings überwunden werden können. Für einen produktiven Einsatz kommt es dabei darauf an, die Erstellung der Lerninhalte nahtlos in die Unternehmensprozesse zu integrieren. Dies erfordert einerseits die notwendigen Workflows zur Konvertierung der 3D-CAD-Daten und andererseits ein leistungsfähiges und einfach zu handhabendes Autorenwerkzeug.

Das System VRcademy ist ein Beispiel für eine in der Industrie eingesetzte Lösung, mit der bereits ein großer Bereich von Aufgaben trainiert werden kann. Ansätze zur Weiterentwicklung zielen darauf, einerseits den Anwendungsbereich weiter zu vergrößern und andererseits durch noch weitergehende Prozessintegration den Einsatz noch effizienter zu machen. Folgende Aspekte stehen dabei im Vordergrund:

  • Funktionalität/Anwendungsbereich:

1. Erweiterung zur Mehrbenutzerfähigkeit, um Trainer/Trainee-Szenarien zu ermöglichen und kooperative Aufgaben trainieren zu können. Dies erfordert auch die Unterstützung komplexere Prozessbeschreibungen mit mehreren Beteiligten.

2. Aufgaben jenseits reiner Mechanik: Im Vordergrund stehen dabei derzeit Elektroinstallation und Elektronik.

  • Prozessintegration:

1. Erweiterte Authoring-Möglichkeiten: Die derzeitige, abstrakte Erstellung der Prozessbeschreibungen soll ergänzt werden durch einen „Authoring-by-Doing“-Modus, in dem der Trainer die Aufgabe in VR selbst durchführt. Die dabei durchgeführten 3D-Interaktionen werden erfasst und danach durch den Trainer nur noch zu einer vollständigen Prozessbeschreibung ergänzt.

2. Import existierender Prozessbeschreibungen aus anderen, bereits im Unternehmen eingesetzten Prozessmodellierungswerkzeugen. Diese werden dann im VRcademy-Autorenwerkzeug nur noch um die für den VR-Einsatz notwendigen Informationen (Bezug zu 3D-Objekten) ergänzt. Auch dieser Ansatz lässt eine weitere deutliche Reduzierung des Erstellungsaufwandes für die VR-Trainingslektionen erwarten.

Das Projekt Glassroom wurde vom BMBF gefördert. Teile der Weiterentwicklung erfolgen im Projekt Applikationszentrum V/AR, das vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg gefördert wird.

Literatur

  1. Bues, M.; Schultze, T.; Wingert, B.: Konzeption und Implementierung einer VR-Lernumgebung für technische Dienstleistungen. In: Thomas, O.; Metzger, D.; Niegemann, H. M. (Hrsg.): Digitalisierung in der Aus- und Weiterbildung. Virtual und Augmented Reality für Industrie 4.0. Berlin: Springer Gabler 2018, S. 113–123
  2. International Organization for Standardization: ISO 14306:2017. Industrial automation systems and integration — JT file format specification for 3D visualization. 11/2017
  3. International Organization for Standardization: ISO/IEC 19510:2013. Information technology — Object Management Group Business Process Model and Notation. Geneva 15.7.2013
  4. Wood, D.; Bruner, J. S.; Ross, G.: The role of tutoring in problem solving. Journal of child psychology and psychiatry, and allied disciplines 17 (1976) 2, pp. 89–100
  5. Schultze, T.; Bues, M.: Evaluation digitaler Aus- und Weiterbildung im virtuellen Raum. In: Thomas, O.; Metzger, D.; Niegemann, H. M. (Hrsg.): Digitalisierung in der Aus- und Weiterbildung. Virtual und Augmented Reality für Industrie 4.0. Berlin: Springer Gabler 2018, S. 157–167
Von M. Bues, T. Schultze

Dr.-Ing. Matthias Bues; Tobias Schultze, M. Sc. –Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, Nobelstr. 12, 70569 Stuttgart, Tel. +49 (0)711 / 970-2232, matthias.bues@iao.fhg.de, www.iao.fraunhofer.de

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