Zum E-Paper
Typisches Problem im Mittelstand 13.02.2023, 14:40 Uhr

Warum sich Industrie 4.0-Projekte häufig extrem lang hinziehen

Die Digitalisierung und der Aufbau korrespondierender IT-Strukturen kommen im Mittelstand nur schleppend voran. Technische Hürden sind dabei häufig nur vorgeschoben. Wie lassen sich alle Beteiligten, von der Geschäftsführung bis zum Werker an der Maschine, gleichermaßen motivieren?

Produktionsalltag in einer Roboter unterstützten Fertigung: Aus der datentechnischen Vernetzung von Prozessen (Auftragsdaten) und Ressourcen (Prozess-/ Anlagenparameter) wird ein „Data-Lake“ gebildet. Foto: simon-kadula-8gr6bObQLOI-unsplash

Produktionsalltag in einer Roboter unterstützten Fertigung: Aus der datentechnischen Vernetzung von Prozessen (Auftragsdaten) und Ressourcen (Prozess-/ Anlagenparameter) wird ein „Data-Lake“ gebildet.

Foto: simon-kadula-8gr6bObQLOI-unsplash

Die Ursachen für die langwierige Umsetzung liegen weniger im technischen Bereich, sondern vielmehr in einem mangelnden Verständnis der Motivationslage. In Projekten der Hochschule Bochum mit Partnern aus dem produzierenden Mittelstand wurde dieser Sachverhalt analysiert und Handlungsempfehlungen entwickelt.

Potenziale von Data Analytics im Mittelstand

Der produzierende Mittelstand holt in Sachen Digitalisierung mehr und mehr auf. Die damit einhergehende Schaffung von Transparenz für zukünftige Entscheidungen wird zunehmend als Mittel zur nachhaltigen Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit gesehen. Für die operativen Bereiche im Unternehmen bedeutet dies, dass Daten eine neue, ganz andere Rolle bekommen.

Während bis dato in der Regel heuristische Optimierungsansätze aus der Lean-Welt den Alltag bestimmten, so finden jetzt daten- und damit evidenzbasierte Entscheidungen mehr und mehr Einzug in den Produktionsalltag. Die Grundlage hierzu bildet eine Konsolidierung beziehungsweise datentechnische Integration (Vernetzung) von Prozessen (Auftragsdaten) und Ressourcen (Prozess-/ Anlagenparameter), das heißt die Bildung eines die Produktion umfassenden „Data-Lakes“.

Im Zuge dessen erfahren sowohl die herkömmlichen Ansätze der Automatisierungspyramide eine Renaissance – zum Beispiel der Wechsel des Enterprise-Resource-Planning (ERP)-Systems. Aber auch neue, integrierende Informationstechnik (IT)-Projekte zum Aufbau von Datenpipelines, Data-Lake-Architekturen und der Implementierung und Nutzbarmachung KI-basierter Ansätze rücken ins Blickfeld.

Wie funktioniert die technisch-organisatorische Umsetzung?

Die Umsetzung dieser „neuen“ IT-Projekte ist jedoch unlängst schwieriger als die Implementierung früherer Stand-Alone-Lösungen. Mehr Regel denn Ausnahme ist die Integration verschiedenster Systemanbieter – vom Maschinenhersteller über Prozesssteuerungssoftware- bis hin zum ERP-Anbieter auf der einen – und vor allem auch die Involvierung der verschiedensten internen Unternehmensbereiche. Treiber ist nur noch in den seltensten Fällen die IT-Abteilung, sondern hauptsächlich die Fachabteilungen selbst, die entsprechenden Support hinsichtlich ERP, Datenbanken und Server-Architekturen bis hin zum Hardwarespezialisten zur Maschinenanbindung benötigen. Darüber hinaus erfordert es ein immer stärkeres Zusammenspiel der einzelnen Fachabteilungen untereinander sowie zwischen den verschiedenen Hierarchieebenen des Unternehmens – von der Geschäftsführung bis zum Werker an der Maschine – nicht zuletzt unter Einbezug des Betriebsrats.

Bedingungen des Verhaltens in (Change-) IT-Projekten. Grafik: Merchiers Consulting

Mit Zunahme der involvierten Parteien in die Umsetzung dieser IT-Projekte kommt es auch zu unterschiedlichen Interessens- und Motivationslagen, die sich auf die Umsetzungs-Performance solcher Projekte maßgeblich auswirken.

Menschlich-kulturelle Hindernisse in der Praxis

IT-Projekte bergen in sich schon einen hohen Komplexitätsgrad – bezogen auf die technische Lösungsentwicklung und -umsetzung. Überlagert wird diese anspruchsvolle Aufgabe dann allerdings meistens durch menschlich-kulturelle Herausforderungen in den Unternehmen. Das technisch erforderliche Zusammenspiel unterschiedlicher Funktionen und Hierarchien – von der Geschäftsführung über die IT und operative Bereiche bis hin zum Controlling – erfordert in allen Bereichen und auf allen Ebenen hohes Engagement sowie Umsetzungsmotivation. Und hier liegt aus Sicht der Verantwortlichen für solche Projekte die Haupterfolgshürde [1]. Die Gründe, warum sich Umsetzungen „ziehen, wie Kaugummi“ oder gar „im Keim erstickt werden“, sind mannigfaltig – jedoch meist dieselben:

Der Erkenntnisgewinn aus den zu gewinnenden Daten wird von mindestens einer der involvierten Parteien angezweifelt – zumindest der ROI (Return on Investment) stark in Frage gestellt. Auch wird eine fehlende unternehmerische Einstellung angeführt, bei der häufig nicht Ursachen analysiert werden, sondern schnell Schuldige gefunden werden. Die mit der Digitalisierung einhergehenden, erforderlichen Verhaltensänderungen bei Mitarbeitern (zum Beispiel konsequentes Rückmelden, Dokumentation von Problemen) und gleichzeitig auch bei den Führungskräften, diese Verhaltensänderungen durchzusetzen, wird als Problem der Führungskompetenz identifiziert. Veränderungen werden durch das „Denken“ in Problemen statt in Lösungen unterbewusst verhindert. Vieles mündet in Kritik an der Führungskultur im Unternehmen: Datenerhebung wird schnell gleichbedeutend mit Überwachung verstanden, Führungskräfte entziehen sich der Leistungstransparenz und versuchen, „harten“ Bewertungs- und Leistungskriterien auszuweichen. Vermeintliche „Macher“ scheuen strukturierte Problemvermeidung – oder sind kognitiv schlichtweg nicht dazu in der Lage.

Situations- und personenbezogene Faktoren mit einbeziehen

Während das geschilderte Situationsbild großen Konsens in der Unternehmenswelt erfährt – insbesondere im produzierenden Mittelstand – so sind die aufgeführten Ursachen doch nur augenscheinlich. Um Herr des Problems zu werden, ist eine tiefere Analyse erforderlich, was folgendes Beispiel exemplarisch verdeutlichen soll:

Aversion in geforderte Transparenz (durch Daten) – sei sie in Form des Gefühls der Überwachung oder durch Scheu des Aufwands ausgedrückt – ist Reaktion auf eine „unehrliche“ Motivation der Unternehmensführung. Warum will die Geschäftsführung die Situation über Zahlen einschätzen, die man durch kontinuierliche Präsenz im Betrieb – wie früher – auch erhalten kann? Botschaft (Zielformulierung, warum Daten erhoben werden) und Rollenverteilung (Daten ersetzen nicht den Gang der Geschäftsführung in die Produktion) sind unklar.

Zum besseren Verständnis eignet sich das Analyse-Modell der „Bedingungen des Verhaltens“ nach Rosenstiel [2]: Da Menschen sich immer auch aktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, ist ihr Verhalten nicht allein aus Persönlichkeitsmerkmalen ableitbar. Gerade situative Rahmenbedingungen verleiten Menschen auch dazu oder hemmen sie, Handlungen zu vollziehen oder zu unterlassen. Hieraus lassen sich die im Bild dargestellten Determinanten des menschlichen Verhaltens – unter anderem eben auch in IT-Projekten – wie folgt gliedern: Die situationsbezogenen (externalen) Bedingungsfaktoren „situative Ermöglichung“ und „soziales Dürfen und Sollen“ sowie die personenbezogenen (internalen) Bedingungsfaktoren „individuelles Können“ und „persönliches Wollen“.

Wenn alle Mitarbeitenden an einem Strang ziehen und das Projekt unterstützen, ist der Erfolg von IT-Projekten im Mittelstand sichergestellt.

Foto: silvia-brazzoduro-YSxcf6C_SEg-unsplash

Voraussetzung für das gewünschte Leistungsverhalten und damit die erfolgreiche Projektdurchführung ist damit: Wollen, Können und die situativen Rahmenbedingungen müssen stimmen sowie das soziale „Dürfen“ muss gegeben sein – und zwar auf allen Ebenen.

Das „Individuelle Wollen“ ist erfüllt, wenn der Mitarbeiter oder die Führungskraft den Nutzen der Maßnahme erkennt – und zwar nicht nur für die Unternehmensführung, sondern auch für sich selbst. Wie im oben genannten Beispiel sind häufig sowohl das übergeordnete Ziel als auch ganz konkrete Operationalisierungen nicht klar formuliert – was wiederum in mangelnder Akzeptanz mündet.

„Persönliches Können“ wird dadurch adressiert, dass Menschen wissen, dass sie etwas tun sollen und hierbei unterstützt werden. Gerade die Unterstützung, das „Mitwirken“ der Führungskraft macht Betroffene zu Beteiligten. Erforderliche Verhaltensveränderungen, zum Beispiel das konsequente Rückmelden von Aufträgen, sind im Mitarbeiter-Führungskraft-Tandem effektiver umzusetzen.

Dies geht stark einher mit der Schaffung erfolgreicher „Situativer Rahmenbedingungen“. Die Führung ist verantwortlich für die Bereitstellung erforderlicher Ressourcen (IT, Manpower) sowie geeigneter, an die neue Situation angepasster Strukturen und Prozesse und muss die erforderlichen eigenen Kapazitäten zur Unterstützung vorhalten.

Schließlich kommt es auf das „Soziale Dürfen“ an. Wer hat welche Rolle inne und passt das, was er tun soll, auch zu seiner Rolle? Ein Meister, von dem die Mitarbeiter das Verteilen von Arbeit erwarten, wird sich sehr schwertun, neue Arbeitsweisen und Aufgaben zu akzeptieren.

Überlagert wird diese Gemengelage häufig durch ein weiteres Phänomen, dem fundamentalen Attributionsfehler [3]: Einschätzungen wie zum Beispiel „Mitarbeiter ‚bunkern‘ das Wissen und wollen weiterhin gefragt sein“ beinhalten persönliche Wertungen; die Ursachen für das Verhalten werden bereits in der Person verortet, bevor überhaupt eine Prüfung situativer Gegebenheiten stattgefunden hat. Personale Faktoren bei der Erklärung des Verhaltens anderer werden damit überbewertet, während dem Einfluss situativer Bedingungen auf das Verhalten weniger Bedeutung beigemessen wird. (Nicht nur) Führungskräfte neigen dazu, das Fehlverhalten anderer internal zu attributieren, während das eigene Fehlverhalten extern attributiert wird. Erfolg anderer wird im Umkehrschluss external attributiert, während der eigene Erfolg internal attributiert wird. Geführte spüren in der Regel sehr deutlich, wie sie eingeschätzt werden, was wiederum ein echtes Miteinander bei der Problemlösung deutlich erschwert.

Erfolgsfaktoren und Ansätze

Für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0-Projekten über Bereichs- und Hierarchiegrenzen hinweg ist die Kenntnis über die Bedingungen des Verhaltens und den fundamentalen Attributionsfehler essenziell. Vordergründige Beobachtungen münden häufig in falschen Rückschlüssen. Deshalb ist es im ersten Ansatz wichtig, alle Projektinvolvierten so zu behandeln, als ob sie wollen und können. Ziele sind klar zu formulieren und deren Benefits richtig zu kommunizieren – es gilt das „Wozu“, also eine zukunftsbezogene Perspektive, zu vermitteln. Ein vergangenheitsbezogenes „Warum“ hingegen birgt die Gefahr, dass Mitarbeiter denken könnten, sie hätten etwas nicht richtig gemacht, und jetzt kontrolliert werden müssen. Dies mündet zwangsläufig in Widerstand und Vorbehalten [4].

Mitarbeiter sollten von den Führungskräften ohne persönliche Wertungen beurteilt werden, um den Erfolg von Change-IT-Projekten nicht zu gefährden – nach [4]. Grafik: Michael Simmons

Der langfristige Benefit vieler IT-Projekte ist offenkundig groß – insbesondere, wenn es sich um die Einführung großer Systeme wie ERP oder MES handelt; allerdings auch der damit verbundene Initial-Aufwand, sowohl an Mitarbeiterkapazitäten als auch finanzieller Natur. Die Bereitschaft für diese unternehmerisch nachhaltige Investition ist in den Chefetagen des Mittelstands klar gegeben. Allerdings ist ein begleitetes Change-Management, welches die aufgeführten, verhaltensbedingten Hemmnisse klar adressiert, in den wenigsten Fällen fester Bestandteil verfolgter Lösungen – obwohl dies mit ca. 2–5 Prozent des Projektvolumens nur einen Bruchteil der Systemeinführung ausmacht. Im Gegenzug trägt es aber einen maßgeblichen Anteil am Projekterfolg bei – wenn nicht sogar der Projektstart überhaupt erst möglich wird. Und dieses kann nicht ausschließlich zugekauft werden; es muss seitens der Führung verstanden und (vor-) gelebt werden.

Erfolgsfaktoren aus internationalen Studien [5] belegen dies: In partizipativen Ansätzen gilt es, das „Wozu“, also die Zielvorstellung durch harte Fakten – möglichst mit Best-Practice-Beispielen untermauert – in den Gesamtkontext eines „need for change“ im Unternehmen zu verorten: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer“ (Antoine de Saint-Exupéry).

Dies geht einher mit einer starken und durchgängigen Kommunikation. Darin einzubetten sind die aus der Lean-Welt bekannten Erfolgsmessungen in Form von KPI (Key Performance Indicators), die zeigen, dass der Aufwand auf jeder Unternehmensebene gewertschätzt wird und für Entscheidungen genutzt wird. Neben „harten“ KPI wie zum Beispiel der Anzahl von Gestaltungs-/ Änderungsvorschlägen oder den Abarbeitungsgrad von Aufgaben sind in diesem Kontext aber insbesondere die eher „weicheren“ KPI wie eine „geeinte Führung“ essenziell. In einer (zu erzeugenden) offenen Kultur, in der andere Meinungen akzeptiert werden, ist die Uneinigkeit (in der Führung) eben ein klarer Indikator für Handlungs- und Nachschärf-Bedarf.

Darüber hinaus gilt es, eine „Awareness“ bei der Führung für die Phasen im Veränderungsprozess zu erzeugen: Schock, Verneinung, Einsicht, Akzeptanz, Ausprobieren, Erkenntnis, Integration. Mit einer realistischen Terminierung muss den Mitarbeitenden Zeit gegeben werden, zu lernen und zu adaptieren. Das bedeutet aber auch, die Beteiligten bewusst auch mal „jammern“ zu lassen, gleichzeitig aber erreichte Zwischenziele transparent zu machen, ja gar zu feiern.

Fazit

Der Erfolg von IT-Projekten im Mittelstand ist eng mit der Führungsstruktur im Unternehmen verbunden. Technische Hürden sind häufig nur vordergründig die Ursache für das Stocken in Projekten. Grundlegende Kenntnisse der Verhaltenspsychologie bei den Führungskräften und deren Berücksichtigung im Projektverlauf sind daher die Basis für die kontinuierliche Anpassung an die sich immer schneller ändernden (technischen und organisatorischen) Anforderungen in der Industrie.

Literatur

  1. Forsa, Horvath & Partners (2016). Digitalisierung – Der Realitäts-Check, Studie.
  2. Rosenstiel, L. von, Molt, W. Rüttinger, B. (2005). Organisationspsychologie (9. Aufl.). Stuttgart: Verlag Kohlhammer, S. 259ff.
  3. Berry, Z./Frederickson, J.: Explanations and implications of the fundamental attribution error: A review and proposal, in: Journal of Integrated Social Science, . 5 (2015), Nr. 1, S. 44–57.
  4. Michael Simmons: Fundamental Attribution Error: This Cognitive Bias Destroys Relationships. In: medium.com, Dec 19, 2018.
  5. Harlander, Thomas. Entwicklung Eines Change Management Screening Instruments Für Die Einführung Von IT-Systemen: Eine Implementierungsunterstützung Für Die IT-Consultingpraxis. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2015.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wie nachhaltig ist mein Unternehmen eigentlich?

Wie beeinflusst das Image der Personalabteilung das Recruiting?

Handlungshilfen für eine menschenzentrierte KI-Einführung

Von Andreas Merchiers, Lisa Krelhaus

Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Andreas Merchiers lehrt und forscht im Bereich Produktionsmanagement, Industrie 4.0 und Data Analytics an der Hochschule Bochum. Zusätzlich ist er als Industrieberater tätig. Foto: Autor
Diplom-Psychologin Lisa Krelhaus ist als Unternehmensberaterin mit den Arbeitsschwerpunkten Managementdiagnostik und Persönlichkeitsentwicklung aktiv und Autorin des Buches „Wer bin ich, wer will ich sein?“.