Wie ist der Merkur entstanden? Neue Theorie trifft alte Annahme
Neue Studien zeigen: Merkur könnte durch Streifkollision entstanden sein – oder durch das Magnetfeld der Sonne. Was steckt hinter den Theorien?

Auf den ersten Blick recht unscheinbar: Merkur ist der sonnennächste Planet unseres Sonnensystems. Der große Eisenkern lässt die Forscher jedoch rätseln – wie ist er entstanden?
Foto: NASA/Johns Hopkins University Applied Physics Laboratory/Carnegie Institution of Washington
Der Merkur zählt zu den vier inneren Gesteinsplaneten des Sonnensystems – und ist zugleich der kleinste von ihnen. Dennoch weist er einen überproportional großen Kern aus Eisen auf. Rund 75 % seiner Masse und etwa 85 % seines Volumens entfallen auf diesen metallischen Anteil. Die darüberliegende Kruste ist ungewöhnlich dünn. Forschende rätseln seit Jahrzehnten über diese Besonderheiten. Zwei aktuelle Studien bieten nun neue Erklärungsansätze für den Ursprung dieses außergewöhnlichen Planeten.
Theorie 1: Eine gigantische Streifkollision im frühen Sonnensystem
Ein internationales Forschungsteam aus Brasilien, Frankreich und Deutschland hat mithilfe von Computersimulationen eine neue Hypothese entwickelt. Demnach könnte Merkur aus einer Streifkollision zweier Protoplaneten ähnlicher Größe hervorgegangen sein. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature Astronomy veröffentlicht.
Mit Hilfe eines eigens entwickelten Simulationsprogramms untersuchten die Forschenden verschiedene Kollisionsszenarien. Das Programm wurde an der Universität Tübingen im Bereich Computational Physics entwickelt und nutzt moderne Grafikkartenarchitekturen. Simulationen, die früher Monate dauerten, sind so innerhalb weniger Tage möglich.
Die Ergebnisse zeigen: Wenn zwei Protoplaneten mit einem bestimmten Aufprallwinkel und einer exakt abgestimmten Geschwindigkeit aufeinandertreffen, kann dabei ein Körper entstehen, dessen Eigenschaften sehr gut zu Merkur passen. Der Großteil des silikatreichen Mantels wird bei einem solchen Streifkontakt abgetragen, während der metallische Kern größtenteils erhalten bleibt. Das Resultat: ein kleiner Planet mit einem hohen Metallanteil im Inneren.
Dr. Patrick Oliveira Franco, Hauptautor der Studie, betont: „Die Arbeit bestärkt die Idee, dass Rieseneinschläge nicht nur Teil der Planetenbildung sind – sie könnten sogar der Hauptfaktor sein, der die endgültige Struktur der Gesteinsplaneten im Sonnensystem geformt hat.“
Hier geht es zur Originalpublikation
Theorie 2: Magnetismus als prägende Kraft im frühen Sonnensystem
Ein ganz anderes Szenario stellen William McDonough von der University of Maryland und Takashi Yoshizaki von der Tohoku Universität in Japan vor. Ihrer Theorie zufolge war kein gewaltsamer Zusammenstoß nötig, um den übergroßen Eisenkern des Merkur zu formen. Stattdessen soll das Magnetfeld der jungen Sonne verantwortlich gewesen sein.
Die Forschenden beobachteten einen auffälligen Trend: Je weiter ein Gesteinsplanet von der Sonne entfernt ist, desto geringer ist sein Metallgehalt. Während bei Merkur drei Viertel der Masse aus dem Kern stammen, sind es bei Venus und Erde nur rund ein Drittel – beim Mars sogar nur ein Viertel. Diese Abstufung brachte das Team auf die Idee, dass die Anreicherung eisenreicher Partikel durch das solare Magnetfeld beeinflusst worden sein könnte.
In der protoplanetaren Staubscheibe rund um die junge Sonne könnte das Magnetfeld dafür gesorgt haben, dass sich schwere, eisenreiche Partikel vor allem im inneren Bereich absetzten. Der dort entstehende Merkur hätte somit von Anfang an mehr Eisen aufgenommen. Als sich dann Kerne und Mantel ausbildeten, hätte sich ein deutlich größerer Kern herausgebildet als bei den weiter außen gebildeten Planeten.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Verteilung der Rohmaterialien im frühen Sonnensystem durch das Magnetfeld der Sonne kontrolliert wurde“, betont McDonough.
Hier geht es zur Originalpublikation
Zwei Wege, ein Ziel – oder doch ein Drittes?
Beide Theorien unterscheiden sich grundlegend: Die eine setzt auf einen gewaltsamen Prozess, die andere auf eine geordnete Materialverteilung durch physikalische Felder. Während die Kollisionstheorie auf direkte planetare Wechselwirkungen blickt, betont das Magnetmodell die Rolle kosmischer Kräfte im frühen Sonnensystem.
Welche Theorie wahrscheinlicher ist, lässt sich bisher nicht abschließend sagen. Möglich ist auch, dass sich beide Ansätze ergänzen oder andere Faktoren eine Rolle spielten. Die Raumsonde BepiColombo, die 2026 den Merkur erreichen soll, wird mit ihren Messungen weitere Hinweise liefern – insbesondere zu Magnetfeldern, Krustenstruktur und Zusammensetzung.
Merkur auf einen Blick
• Typ: Gesteinsplanet (innerer Planet)
• Durchmesser: ca. 4.880 km
• Entfernung zur Sonne: durchschnittlich 58 Mio. km
• Umlaufzeit: 88 Erdtage
• Rotation: 59 Erdtage (3:2-Resonanz mit Umlaufzeit)
• Oberflächentemperatur: −170 °C bis +430 °C
• Atmosphäre: praktisch keine
• Magnetfeld: vorhanden, schwächer als das der Erde
• Kernanteil: ca. 75 % der Masse, rund 85 % des Volumens
• Krustendicke: ca. 400 km
• Besonderheiten: größter Metallkern im Verhältnis zur Planetengröße im Sonnensystem
Weitere Hinweise aus der Kruste: Porosität, Einschläge und Wärmetransport
Unabhängig von der Entstehungstheorie liefert die geophysikalische Erforschung des Merkur zusätzliche Erkenntnisse. Forschende des DLR, der TU Berlin, des KIT und der Karls-Universität Prag untersuchten mithilfe von Daten der NASA-Mission Messenger die thermischen und strukturellen Eigenschaften der Planetenkruste.
Die Oberfläche des Merkur zeigt eine hohe Porosität von bis zu 18 %. Diese entstand vermutlich durch Einschläge großer Himmelskörper und durch Abkühlung von Magma. Besonders hohe Porositätswerte wurden rund um das riesige Caloris-Becken gemessen – einem 1500 km großen Einschlagbecken.
Die poröse Kruste hat Einfluss auf den Wärmetransport. Während tagsüber Temperaturen von bis zu 430 °C erreicht werden, fallen sie nachts auf bis zu -170 °C. Ohne Atmosphäre verliert der Planet seine Wärme rasch. Die Kruste dient dabei als thermische Barriere für die im Inneren durch radioaktive Zerfallsprozesse erzeugte Wärme.
Hinweise auf geologische Dynamik
Weitere Untersuchungen zeigen, dass die Rotation und Umlaufbahn des Merkur sich im Laufe der Geschichte verändert haben könnten. Derzeit befindet sich der Planet in einer sogenannten 3:2-Resonanz: Drei Eigenrotationen entsprechen zwei Sonnenumläufen. Diese besondere Konstellation beeinflusst die Oberflächentemperaturverteilung und könnte auch auf dynamische Prozesse im Inneren des Planeten zurückwirken.
Forschende vermuten zudem, dass große Einschlagsereignisse nicht nur die Oberfläche veränderten, sondern auch das Schwerefeld des Planeten beeinflussten. Die Geophysikerin Claudia Szczech und ihr Team analysierten 36 große Einschlagsbecken und deren Bouguer-Kontraste – ein Maß für lokale Dichteunterschiede unter der Oberfläche. Sie fanden Hinweise darauf, dass frühere vulkanische Aktivitäten oder Änderungen in der Umlaufbahn ebenfalls Einfluss auf die Krustenstruktur nahmen.
Ein Beitrag von: