Medizintechnik in der Antike: So arbeiteten römische Chirurgen
Römische Chirurgie im Detail: Werkzeuge, Eingriffe und der Alltag antiker Mediziner – faszinierend nah am Heute.
Diese Skalpelle aus der Römerzeit wurden in einem Arztgrab in Bingen gefunden.
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Medizin ohne Narkose, Chirurgie ohne sterile Instrumente – und trotzdem erstaunlich erfolgreich: Die Heilkunst im alten Rom war weit mehr als ein Sammelsurium aus Kräutern und Gebeten. Römische Chirurgen schnitten, nähten und bohrten mit Präzision – ausgestattet mit Instrumenten, die modernen Werkzeugen verblüffend ähneln. Archäologische Funde wie das „Haus des Chirurgen“ in Rimini oder das Arztgrab von Bingen zeigen, wie fortschrittlich die Medizintechnik der Antike war. Schauen wir sie uns genauer an.
Das Haus des Chirurgen in Rimini
Rimini, 1989. Bei der Neugestaltung eines Parks hakt ein Bagger in ein Wurzelwerk. Statt weiterer Erde kommen Stuckfragmente ans Licht. Der Routineeinsatz stoppt, Archäologinnen und Archäologen übernehmen. Was folgt, ist eine kleine Sensation: Unter der Piazza Ferrari liegt das Haus des Chirurgen – eine römische Stadtvilla mit Praxisräumen, Mosaiken und einer Ausstattung, die ein ganzes Kapitel antiker Medizin greifbar macht.
Rimini hieß in römischer Zeit Ariminum, ein Knotenpunkt mit Hafen, Stadtmauern, dem Augustusbogen und der Tiberiusbrücke. Hier kreuzten sich Verkehrsadern, hier kamen Waren, Menschen – und Wissen – zusammen. Aus genau dieser Mischung erklärt sich, warum in einem Wohnhaus aus dem 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. eine Praxis steckte, die wir heute als taberna medica bezeichnen würden: Empfang, Behandlungsräume, Arbeitszimmer, eine Latrine, ein Obergeschoss mit Küche – und mitten darin ein Zimmer mit Orpheus-Mosaik, in dem die meisten Werkzeuge lagen.
Die Ausgrabungen liefen bis 1997. Insgesamt wurden etwa 700 m² freigelegt. Am Ende stand fest: Hier lebte und arbeitete ein Chirurg. Sein Name hat sich in einer eingeritzten Botschaft erhalten:
„Eutyches homo bonus hic habitat. Hic sunt miseri.“
„Hier lebt Eutyches, ein guter Mann. Hier sind die Elenden.“
„Elende“ bedeutete in der Antike: Kranke, Verletzte, Menschen mit Schmerzen. Eutyches behandelte sie – offenbar mit einem Instrumentarium, das es in sich hatte.
Werkzeugkoffer auf Bronze: Was römische Chirurgen nutzten
Im Haus des Chirurgen kamen rund 150 Instrumente zutage, gefertigt zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert n. Chr., aus Bronze und Eisen. Ein Drittel davon: Knochenchirurgie. Dazu Tools für Leistenbrüche, Augenkrankheiten oder die Tonsillektomie (Mandelentfernung). Die Bandbreite reichte von Haken und Skalpellen bis zu Trepanationsgerät – also Werkzeugen für Schädelöffnungen.
Auffällig ist, was fehlte: spezielle gynäkologische Instrumente. Das passt zu der These, dass Eutyches viele seiner Fertigkeiten im Militär gelernt hatte. Feldärzte versorgten „Traumata“ – also Wunden durch Waffen, Stürze, Brüche –, weniger Geburten.
Zwischen den Instrumenten standen Mörser und Gefäße. Sie dienten als Minilabor: Medikamente anrühren, Salben mischen, Tinkturen abfüllen. Damit waren Diagnose, OP und Therapie unter einem Dach – ein Praxisbetrieb im urbanen Alltag.
Ein zweiter Blick nach Bingen: Arztgrab mit 67 Teilen
Springen wir an den Rhein, nach Bingen. Dort stießen Arbeiter in den 1920er Jahren auf einen Urnenfriedhof – darunter ein Grab, das seitdem durch Fachliteratur geistert. In einer großen Bronzeschüssel lagen 67 Instrumente: 13 Skalpelle mit Bronzegriffen und austauschbaren Stahlklingen, Pinzetten, scharfe Löffel, Wundhaken, Meißel für Knochen, Schröpfköpfe – und ein kompletter Satz für die Trepanation: leicht konische Bohrer mit Führungsdorn, Andruckschale, ein zusammenklappbares Antriebsinstrument, dazu ein gewinkelter Hebel zum Anheben eingedrückter Knochen.
Die Bronzeschüssel hatte eine Doppelfunktion: Im Alltag fing sie beim Aderlass Blut auf. Im Tod bewahrte sie die Werkzeuge ihres Besitzers. Die Botschaft des Grabes ist eindeutig: Der Mann war Medicus chirurgus – ein Chirurg.
Vergleicht man zehn antike mit zehn modernen Instrumenten, fällt die Formähnlichkeit auf. Vieles hat sich kaum verändert. Nur das Material: früher Bronze/Eisen, heute Edelstahl.
Was konnten römische Chirurgen – und was nicht?
Zunächst das, was Sie vermutlich vermuten: Anästhesie gab es nicht. Schmerzmittel schon, aber begrenzt. Opium, Bilsenkraut – das machte schläfrig, erhöhte die Toleranz, ersetzte aber keine Vollnarkose. Sterilität im modernen Sinn war unbekannt. Dennoch organisierten Chirurgen ihre Arbeit mit Regeln, die erstaunlich vernünftig wirken.
Der römische Enzyklopädist Aulus Cornelius Celsus (30 v. Chr. – 50 n. Chr.) beschrieb ein Praxisbuch für Operationen. Er riet, Blutungen zu vermeiden, Gefäße zu schonen und „nötigenfalls zu unterbinden“. Und er warnte davor, Frakturen zu häufig zu mobilisieren. Sein Satz ist knapp – und klingt wie aus dem Lehrbuch der Unfallchirurgie:
„Wenn der Verband oft gewechselt und die Bruchstücke oft bewegt wurden, heilen die Knochen nicht.“
Das römische Spektrum war breit: Wundversorgung, Fremdkörper entfernen (Pfeilspitzen, Steine), Bisswunden behandeln, Luxationen (Verrenkungen) reponieren, Frakturen einrichten und schienen. Unterschenkel ruhte in Hohlschienen. Abszesse, Furunkel, Karbunkel wurden eröffnet oder mit Glüheisen behandelt, die man auch zur Blutstillung nutzte. Brüche der Bauchwand (Leisten-, Nabelbrüche), Hydro- und Varikozelen, Varizen und Hämorrhoiden kamen ebenfalls auf den Tisch.
Bauchoperationen? Selten und heikel. Ohne keimfreie Bedingungen endeten sie oft mit Infektionen. Kaiserschnitte wurden durchgeführt – aber meist als Notmaßnahme, häufig tödlich für die Mutter. Celsus empfahl, Operationsindikationen streng zu stellen und Hautentzündungen zu meiden. Klingt nach Grundregeln, die bis heute gelten.
Trepanation: Wenn der Kopf geöffnet werden musste
Klingt drastisch, war aber manchmal lebensrettend: die Trepanation. Das ist das Bohren oder Fräsen eines Lochs in den Schädel. In den Texten Celsus ist die Indikation sehr klar: Erbrechen, Blutungen aus Nase und Ohren, Sprachverlust, Lähmungen, Krämpfe, Bewusstlosigkeit – nach Kopfverletzung.
Ohne CT oder Röntgen suchte man den Bruch am Patienten: Anamnese, Inspektion, Sondierung. War keine offene Wunde vorhanden, setzte der Arzt eine X-förmige Inzision, spreizte die Ränder, entfernte Splitter. Fand sich eine Impressionsfraktur (eingedrückter Knochen), bohrte man knapp neben der Fraktur ein Loch, löste die Dura (Schutzhaut), hob das eingedrückte Segment an. Wenn die Dura intakt blieb, standen die Chancen nicht schlecht.

Im Haus des Chirurgen in Pompeji wurden diese Intstrumente gefunden.
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Aus heutiger Sicht überrascht, wie spezialisiert die Tools waren: Führungsdorne gegen Abrutschen, Andruckschale als Lager, Bogenantrieb für gleichmäßige Rotation. In Rimini fand sich sogar ein Trepan, der genau dem entspricht, was der griechische Arzt Galen im 2. Jahrhundert n. Chr. beschrieb.
Die paläopathologische Spur bestätigt, dass Patientinnen und Patienten solche Eingriffe überlebten: an rundgeschliffenen, überwachsenen Kanten der Bohrlöcher. Trepanationen sind übrigens viel älter als Rom. Sie sind aus der Steinzeit belegt – die Römer perfektionierten nur das Handwerk.
Klinik im Legionslager: Das Valetudinarium
Medizin und Militär gehörten in Rom zusammen. Spätestens seit Augustus waren Valetudinaria fester Teil der Legionslager – Krankenhäuser mit standardisiertem Grundriss: umlaufender Hauptkorridor, abgehende Nebengänge, Kammerpaare mit Platz für bis zu vier Patientinnen und Patienten, Fenster für Licht und Luft, ein Innenhof, oft mit Brunnenring. In Xanten gab es zusätzlich Badeanlagen.
Das Konzept folgt einer einfachen Logik: Frische Luft, sauberes Wasser, Trennung von Ansteckenden – also Isolation. Schon Hippokrates betonte die Bedeutung reiner Luft. Später dachten die „Pneumatiker“ (1. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr.) Gesundheit als Frage des pneuma – der Luft, die den Körper durchdringt.
Militärärzte hielten sich in der Hierarchie eher im Mittelfeld. Ein „medicus castrensis“ heilte, befehligte aber nicht. Es gab Spezialisierungen: medicus chirurgus für Eingriffe, medicus clinicus am Bett, medicus veterinarius für Pferde und Maultiere.
Zwischen Tempel und Tinktur: Religion, Alltag und Hygiene
Medizin war nicht losgelöst von Religion. Menschen vertrauten auf Asklepios/Aesculapius und Hygieia. Heiligtümer boten Bäder, Sport, Theater, Bibliotheken – und Ärzte. Man suchte im Tempelschlaf Rat der Götter, bekam aber zugleich Therapieangebote, die wir heute „Kur“ nennen würden.
Parallel organisierte Rom Wasser und Abwasser technisch: Aquädukte wie die Leitung aus der Eifel nach Köln (annähernd 100 km), Thermen als Hygienezentren, Brunnen für Trinkwasser, Kanalisation für Abflüsse. In Rom mündete die Cloaca Maxima in den Tiber. Sauberes Wasser war kein Luxus – es war kommunale Technik.

Wandmalerei in Pompeji: Ein Chirurg verarztet den verwundeten Äneas.
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Vier Säfte und klare Regeln: Wie Diagnosen gedacht wurden
Die antike Medizin dachte Krankheiten über die Vier-Säfte-Lehre: Blut, Schleim, helle und dunkle Galle. Im Gleichgewicht: Gesundheit. Im Ungleichgewicht: Krankheit. Therapeutisch galt „Das Gegenteil heilt das Gegenteil“ – also Fieber (heiß/trocken) mit kühlenden/feuchten Maßnahmen begegnen.
Wichtig: Das ist nicht Homöopathie. Dort gilt „Gleiches mit Gleichem“. In Rom setzte man auf Diätetik, Bewegung, Rhythmus. Galen systematisierte das und dachte einen Tagesablauf als Wechsel von Aktivität und Erholung – im Takt des römischen Tages, der in zwölf Sonnenstunden eingeteilt war.
Er und Celsus schöpften aus älteren Quellen. Hippokrates lieferte die Basis, inklusive ethischer Leitlinie – der berühmte Eid mit Schweigepflicht. Galen las, kommentierte, korrigierte. Er wusste aber auch: Ohne Praxis bleibt alles Theorie. Sein Rat:
„Ich möchte, dass du dich zuvor oft an Affen geübt hast, damit du, wenn du auch einmal zum Sezieren eines menschlichen Körpers kommen solltest, leicht jeden einzelnen Körperteil freilegen kannst.“
Leichenöffnungen waren kulturell heikel. Darum übte man an Tieren – mit allen Folgen für die Anatomie: Manches stimmte, manches nicht.
Studium? Beruf? – Wie man Arzt wurde
Ein geregeltes Studium gab es nicht. Wer Geld hatte, reiste nach Athen oder Alexandria. Viele lernten im Betrieb – von Familienmitgliedern, in Werkstätten, in Militärlagern. Der Status war gemischt: eher handwerklich, privatgewerblich, im Militär. Galen klagte darüber:
Es sei „für jeden, der auf leichte Art Arzt werden will, bequem, Zugang zu finden. Deshalb machen sich schon Schuster, Zimmerleute, Färber und Schmiede über die Aufgaben der Heilkunst her.“
Wir haben bislang nur von Ärzten, Chirurgen und Medizinern geschrieben – also Männern. Und doch: In den Städten lassen sich Medicae belegen – Ärztinnen. Häufig in der Frauenmedizin, aber nicht nur dort.

Weitere chirurgische Werkzeuge aus der Römerzeit.
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Über 100 Arztgräber aus dem Imperium bekannt
Wir haben exemplarisch das Arztgrab von Bingen und das Haus des Chirurgen in Rimini genannt. Es gab jedoch wesentlich mehr davon. Mehr als 100 Arztgräber sind im Imperium bekannt – die meisten aus dem 2./3. Jahrhundert. Und die allermeisten werden noch unter Schutt und Asche verborgen sein.
Da lohnt sich ein Blick nach Pompeji, wo alles noch so ausgegraben werden kann, wie es der Vesuvausbruch 79 n. Chr. hinterlassen hat. Hier zeigt sich, wie verbreitet chirurgische Praxis war: An 25 Fundpunkten fanden sich über 240 Instrumente. Oft noch griffbereit in der jeweiligen Arztpraxis.
Apotheke aus Kräutern – und ein paar Warnungen
Die römische „Naturapotheke“ war umfangreich. Dioskurides listete in „De materia medica“ Pflanzen und Anwendungen: mit Wein, Honig, Essig, Meerwasser – oder pur. Meerwasser galt als Abführmittel, als Klistier, als Wundpflaster.
Dosierungen? Nicht immer eindeutig. Scribonius Largus nennt in „Der gute Arzt“ teils Gewichtsanteile – aber nicht durchgehend. Problematisch bei giftigen Pflanzen wie Bilsenkraut. Das wurde gegen Zahnschmerzen empfohlen, birgt aber Risiken.
Kurz: Die Pharmakologie war erfahrungsbasiert. Sie funktionierte oft pragmatisch, konnte aber Nebenwirkungen haben, die man noch nicht verstand.
Krankheiten, die kursierten – und was das mit Technik zu tun hat
Große Urbanität, Handel, Militärbewegungen – das bedeutet auch: Erreger bewegen sich mit. Die „Antoninische Pest“ (vermutlich Pocken) zog im 2. Jahrhundert durchs Reich. Später, im 6. Jahrhundert, suchte die Justinianische Pest das Oströmische Reich heim, eine frühe Variante von Yersinia pestis.
Im Alltag sah man Arthritis, Karies, Knochenbrüche – erkennbar an Skeletten. In Krefeld-Gellep wiesen 5,4 % der untersuchten Bevölkerung pathologische Knochenveränderungen auf. Die Lebenserwartung lag im Schnitt bei etwa 40 Jahren. Ein kleiner Teil wurde nur älter als 60. Paläopathologische Methoden – DNA-Spuren in Zähnen und Knochen, Analysen von Latrineninhalten – zeichnen heute ein genaueres Bild: Mangelerscheinungen, Parasiten, Infektionen – und eben auch Spuren der Therapien.
Zurück nach Rimini: Eine antike Zeitkapsel
Warum blieb in Rimini so viel erhalten? Im 3. Jahrhundert erfasste ein Brand die Stadt, vermutlich im Zusammenhang mit Überfällen zur Zeit des Kaisers Gallienus. Das Dach stürzte ein, Lehmwände begruben Inventar und Instrumente. Danach wechselten die politischen Karten – Byzanz, Franken, später die Wirren der Renaissance. Doch die Schuttschicht blieb dicht. Erst 2007 öffnete die Stadt die Türen zum Domus del Chirurgo für Besucherinnen und Besucher.
Zwischen Orpheus-Mosaik, Mörsern und feingliedrigen Skalpellen lässt sich der Alltag von Eutyches fast anfassen: ein Ärztetag ohne Narkose, mit guten Händen, klaren Regeln – und Werkzeugen, die vertraut wirken.
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