Durchbruch: Hirn-Computer-Schnittstelle für Querschnittsgelähmte
Ein Plus an Lebensqualität: Ärzte des Universitätsklinikums der TU München implantierten erstmals in Europa einem querschnittsgelähmten Patienten eine Hirn-Computer-Schnittstelle. Das neue System soll Betroffenen ermöglichen, Geräte allein durch Gedanken zu steuern. Ein Einblick in wegweisende Forschung.
In einer mehrstündigen OP setzen Ärzte einem 25-Jährigen eine Hirn-Computer-Schnittstelle ein.
Foto: SmarterPix/ArturVerkhovetskiy
Michael Mehringer ist seit einem schweren Motorradunfall im Alter von 16 Jahren vom Hals abwärts gelähmt. Doch der heute 25-Jährige gibt nicht auf: „Ich bin immer positiv. Ich habe immer viel Hoffnung. Das ist mein Antrieb“, sagt er. Über einen Zeitungsartikel erfuhr Mehringer von der Studie „Künstliche Intelligenz für Neurodefizite“ am Klinikum der Technischen Universität München (TUM). Als Teilnehmer erhielt er nun als erster Patient in Europa eine spezielle Hirn-Computer-Schnittstelle. Das Ziel: Mithilfe seiner Gedanken soll er künftig sein Smartphone und einen Roboterarm steuern können. „Ich erhoffe mir, dass ich wieder selbständig essen und trinken kann und etwas weniger Hilfe im Alltag benötige“, erklärt Mehringer.
Der Eingriff zur Implantation der Hirn-Computer-Schnittstelle dauerte über fünf Stunden und erforderte höchste Präzision. Bernhard Meyer, Direktor der Neurochirurgie am TUM Klinikum, erläutert: „Die größte Herausforderung bestand darin, die Elektroden sehr genau zu implantieren. Nur so erhält man hinterher exakte Ableitungen und kann Hirnsignale präzise messen.“ Das eigens gefertigte Gerät verfügt über 256 Mikroelektroden, die Signale aus dem Hirnbereich ableiten, der für komplexe Greifbewegungen zuständig ist. Für Mehringer bedeutet die Operation einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstständigkeit und Teilhabe am Leben.
Europaweit erstmalige Implantation bei Querschnittslähmung
Simon Jacob, Experte für Translationale Neurotechnologie, hebt die Bedeutung des Eingriffs hervor: „Mit der Operation wurde erstmals in Europa eine Hirn-Computer-Schnittstelle bei einer Querschnittslähmung eingesetzt. Wir sind stolz, die erste akademische Einrichtung in ganz Europa zu sein, die inzwischen schon zwei Hirn-Computer-Schnittstellen implantiert hat.“ Bereits 2022 hatte das TUM-Team einer Schlaganfallpatientin mit Sprachstörung eine solche Schnittstelle eingesetzt und damit die Sprachverarbeitung in der gesunden rechten Hirnhälfte kartiert. Nun eröffnet die Forschung neue Möglichkeiten für Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen, die oft jahrzehntelang mit ihrer Erkrankung leben und auf Unterstützung angewiesen sind.
Nach der erfolgreichen Implantation begann die eigentliche Forschungsarbeit: Mehrmals wöchentlich trifft sich Michael Mehringer mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Labor. Über einen Messkopf wird die Hirn-Computer-Schnittstelle mit einem Computer verbunden, der die übertragenen Signale auswertet und die Nervenzellaktivität extrahiert. Mithilfe dieser Daten trainieren die Forschenden KI-Algorithmen darauf, den Zusammenhang zwischen neuronalen Signalen und beabsichtigten Bewegungen zu erkennen. Ziel ist es, dass Mehringer zunächst einen Cursor auf einem Bildschirm und ein Mausklick-Signal kontrollieren und später einen Roboterarm bewegen und Gegenstände greifen kann.
KI-gestützte Systeme zur Erkennung menschlicher Absichten bei Querschnittslähmung
Das Team des Munich Institute for Robotics and Machine Intelligence (MIRMI) an der TUM arbeitet daran, die decodierten Hirnsignale nutzbar zu machen. „Anstatt von Menschen zu erwarten, dass sie sich anpassen und den Umgang mit Robotersystemen erlernen, liegt unser Schwerpunkt darauf, Systeme zu entwickeln, die menschliche Absichten erkennen“, erläutert Teamleiterin Melissa Zavaglia. Erste Erfolge zeigen sich bereits: Wenn Michael Mehringer auf einem Bildschirm die Bewegungen eines Cursors beobachtet und in Gedanken nachahmt, können die Forschenden aus den neuronalen Daten ablesen, welche Bewegungen er sich vorstellt. Ein vielversprechender Schritt auf dem Weg zu mehr Autonomie für Menschen mit Querschnittslähmung.
In Deutschland leben etwa 140.000 Menschen mit Querschnittslähmung, jährlich kommen rund 2.400 Betroffene hinzu. Viele von ihnen sind jahrzehntelang auf die Unterstützung von Angehörigen und Pflegekräften angewiesen – eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Um neue Lösungen zu finden, sehen sich die Münchner Forschenden im internationalen Wettbewerb, vor allem mit Einrichtungen in den USA. „Unser Ziel ist, den Rückstand Europas und Deutschlands aufzuholen, indem wir Projekte durchführen, die anderswo nicht möglich sind“, sagt Jacob. Die TU München biete dafür ideale Voraussetzungen, da sie Medizin, Neurowissenschaften inklusive KI und Ingenieurwissenschaften auf höchstem Niveau vereine.
Münchner Forschungsteam sucht weitere Teilnehmende mit Querschnittslähmung
Um in den kommenden Jahren weitere Durchbrüche zu erzielen, sucht das Münchner Forschungsteam engagierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer wie Michael Mehringer. Gefragt sind junge Erwachsene aus dem Raum München mit hoher Querschnittslähmung, beispielsweise infolge eines Bade- oder Verkehrsunfalls. „Wir suchen Menschen mit Pioniergeist und einer positiven Lebenseinstellung“, sagt Jacob. Er betont jedoch auch: „Für unsere Studienteilnehmer ist wichtig zu verstehen, dass sie an Forschung teilnehmen, nicht an Heilung. Forschung ist nicht so planbar wie eine Kopfschmerztablette zu schlucken, die seit unzähligen Jahren entwickelt und erprobt ist.“ Dennoch könnte die Studie langfristig dazu beitragen, die Lebensqualität von Menschen mit Querschnittslähmung entscheidend zu verbessern.
Ein Beitrag von: