Wie Herculaneums Papyrusrollen der KI ihr Wissen preisgeben
Schriftrollen, die vor fast 2000 Jahren von Lava verschüttet und „unberührt“ geblieben sind, werden nun entschlüsselt – Dank künstlicher Intelligenz! Ein unbekanntes Werk kommt ans Licht.
Mit modernster Technik und KI-Unterstützung versuchen Forschende, die verkohlten Papyrusrollen aus Herculaneum digital zu entrollen und unlesbare Texte sichtbar zu machen.
Foto: S. Bailey, EduceLab/The University of Kentucky
Im Jahr 79 nach Christus brach der Vesuv überraschend aus, nachdem er 500 Jahre lang ruhig gewesen war. Mehrfach stürzten heiße Gas- und Ascheströme den Berg hinab. Schließlich begrub eine Schlammlawine den Ort Herculaneum unter einer bis zu 20 Meter dicken Schicht. Auch die Villa dei Papiri wurde dabei zerstört. In ihr befand sich eine besondere Sammlung von Schriftrollen, die erst im 18. Jahrhundert wiedergefunden wurde. Moderne Experten setzen heute Röntgentechnik und künstliche Intelligenz ein, um die Texte auszulesen und lesbar zu machen.
Mithilfe moderner Technik und künstlicher Intelligenz wollen die Forschenden die alten Texte lesbar machen. Der Europäische Forschungsrat (ERC) unterstützt das Projekt in den nächsten sechs Jahren mit über elf Millionen Euro.
Die Schriftrollen sind komplett verkohlt
Für jemanden ohne Fachwissen sehen diese Rollen aus wie halb verbrannte Äste: Sie sind komplett verkohlt, und die einzelnen Lagen – ähnlich wie Jahresringe – kleben fest zusammen und lassen sich kaum voneinander lösen.
„Bisher wurde etwa die Hälfte der rund 1.800 in der Sammlung inventarisierten Schriftrollen und Schriftfragmente mehr oder weniger erfolgreich entrollt.“, sagt Dr. Vincent Christlein vom Lehrstuhl für Mustererkennung an der FAU. „Und selbst, wo das gelungen ist, ließen sich die Inhalte meist nur zum Teil rekonstruieren.“
Grundsätzlich kann man die verklebten Lagen der Papyrusrollen auch am Computer trennen. Dafür werden die verkohlten Rollen mit einem sogenannten Mikro-CT durchleuchtet – einem speziellen Röntgenverfahren, das sehr genaue 3D-Bilder erstellt. Mithilfe von Software kann man diese Aufnahmen dann Schritt für Schritt „entrollen“ und in eine zweidimensionale Ansicht der Schrift verwandeln.
Den Entroll-Algorithmus verbessern
Ein internationales Forschungsteam, zu dem die italienische Papyrus-Expertin Dr. Federica Nicolardi, der US-amerikanische Manuskript-Spezialist Prof. Dr. W. Brent Seales und Vincent Christlein gehören, will diese Methode weiter verbessern. Wichtiger Partner ist die Nationalbibliothek in Neapel, die fast alle erhaltenen Herculaneum-Papyri besitzt und Zugriff auf die Sammlung ermöglicht. Die EU unterstützt das gemeinsame Projekt „UnLost“ in den nächsten sechs Jahren mit etwa 11,5 Millionen Euro. „Wir wollen einerseits den Entroll-Algorithmus verbessern und erheblich beschleunigen“, kommentiert Christlein. „Zudem möchten wir erreichen, dass die KI noch treffsicherer zwischen Schrift und Hintergrund unterscheidet.“
In den Micro-CT-Scans sind die Schriftzeichen kaum vom dunklen Hintergrund zu unterscheiden. Selbst mit moderner Bildbearbeitung lässt sich der Kontrast nur selten so stark verbessern, dass die Zeichen deutlich sichtbar werden. Laut Christlein könne man auf diese Weise höchstens einzelne Buchstaben erkennen, ganze Texte aber nicht rekonstruieren. Deshalb müsse man andere Methoden einsetzen, vor allem solche aus dem Bereich des maschinellen Lernens. Dabei werde die künstliche Intelligenz mit Tausenden Papyrus-Stellen trainiert – sowohl mit Bereichen ohne Schrift als auch mit solchen, auf denen Buchstaben sicher erkannt wurden. So könne die KI lernen, Schrift von Hintergrund zu unterscheiden – selbst dann, wenn das menschliche Auge versagt.
Die Forschenden wollen auch andere Methoden zur Durchleuchtung der Papyrusrollen testen. Beim sogenannten photoakustischen Verfahren wird der Papyrus mit kurzen Laserstrahlen bestrahlt. Die entstehende Wärme erzeugt feine Ultraschallwellen, die Hinweise auf tiefere Strukturen geben können.
Manchmal passiert es beim tatsächlichen Entrollen der Rollen, dass kleine Papyrusstücke an der falschen Schicht kleben bleiben. Mit Hilfe von 3D-Mikroskopbildern will das Team solche Fehler erkennen und mit Unterstützung von Künstlicher Intelligenz Vorschläge machen, wohin diese Stücke ursprünglich gehörten.
„The Vesuvius Challenge“
Im Rahmen des Wettbewerbs (Wir haben darüber 2024 berichtet) „The Vesuvius Challenge“ gelang es Luke Farritor und Youssef Nader, zwei Informatikstudenten, den verborgenen Text zu entschlüsseln. Mit eigens trainierten KI-Modellen haben sie auf den röntgentomografischen Aufnahmen einer verkohlten Schriftrolle aus Herculaneum einzelne Buchstaben und sogar ein erstes Wort erkannt.
Wissenschaftler um den Informatiker Brent Seales von der University of Kentucky enthüllten bei einer Pressekonferenz (noch 2024) CT-Aufnahmen verkohlter Schriftrollen aus dem antiken Herculaneum.
CT-Scans mit einem Teilchenbeschleuniger aufgenommen
Die hochauflösenden CT-Scans, die Brent Seales und sein Team zuvor mit einem Teilchenbeschleuniger aufgenommen hatten, ermöglichten, auf einer winzigen Fläche mehrere Buchstaben und sogar ein vollständiges Wort zu identifizieren, berichtete Spektrum 2024. Die Studenten Luke Farritor und Youssef Nader haben unabhängig voneinander dieselbe Stelle mit KI-Algorithmen entschlüsselt und zum gleichen Ergebnis gekommen.
So wurde neben den einzelnen Buchstaben ein altgriechisches Wort sichtbar, das möglicherweise „purpurfarben“, „purpurfarbene Kleidung“ oder „Purpurfarbstoff“ bedeutet.
Der vollständige Kontext der untersuchten Schriftrolle wurde zwar noch nicht erfasst. Doch basierend auf dem bisherigen Wissen über die Bibliothek in Herculaneum, gehen die Forschenden davon aus, dass es um eine philosophische Schrift aus der Epikureischen Schule geht.
Wann und wie wurden die Rollen gefunden?
Nachdem im Jahr 1750 Bauarbeiter bei der Errichtung eines Brunnenschachts auf einen Mosaikboden der Villa gestoßen waren, beauftragte König Karl VII. von Neapel und Sizilien Arbeiter, Tunnel durch das Gebäude zu graben. Während dieser Ausgrabungen stießen die Arbeiter auch auf hunderte verkohlte Buchrollen, bei denen fast alle „Seiten“ miteinander verbacken waren. Aber bis jetzt scheiterten alle Bemühungen, die karbonisierten Papyrusrollen auseinanderzunehmen. Dadurch fiel die Hälfte der etwa 800 Buchrollen in Bruchstücke auseinander.
Die Idee, mithilfe von Röntgentechnik nach Texten zu suchen, kam im Jahr 2002. Damals begannen mehrere Forschungsgruppen, Exemplare mithilfe moderner Röntgenbildgebung zu untersuchen, allerdings immer ohne Erfolg. Grund für die Misserfolge war die Tinte, die hauptsächlich aus Kohlenstoffpigmenten bestand. Sie erzeugte auf dem verkohlten Papyrus keine erkennbaren „Schatten“ durch absorbierende Röntgenstrahlung. Brent Seales, Leiter des EDUCElab an der University of Kentucky, kämpfte gut 20 Jahre lang mit diesem Problem und fragte, ob in den tomografischen Aufnahmen, insbesondere in den hochauflösenden, möglicherweise doch eine Spur der Tinte enthalten sein könnte. Vielleicht könnte der Scan dreidimensionale Strukturen erfassen, die von der Tinte stammen. Und das hat geklappt.
Was enthüllt die Herculaneum-Schriftrolle?
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