Papyrusrollen 12.12.2025, 10:30 Uhr

Wie Herculaneums Papyrusrollen der KI ihr Wissen preisgeben

Schriftrollen, die vor fast 2000 Jahren von Lava verschüttet und „unberührt“ geblieben sind, werden nun entschlüsselt – Dank künstlicher Intelligenz! Ein unbekanntes Werk kommt ans Licht.

Papyros

Mit modernster Technik und KI-Unterstützung versuchen Forschende, die verkohlten Papyrusrollen aus Herculaneum digital zu entrollen und unlesbare Texte sichtbar zu machen.

Foto: S. Bailey, EduceLab/The University of Kentucky

Im Jahr 79 nach Christus brach der Vesuv überraschend aus, nachdem er 500 Jahre lang ruhig gewesen war. Mehrfach stürzten heiße Gas- und Ascheströme den Berg hinab. Schließlich begrub eine Schlammlawine den Ort Herculaneum unter einer bis zu 20 Meter dicken Schicht. Auch die Villa dei Papiri wurde dabei zerstört. In ihr befand sich eine besondere Sammlung von Schriftrollen, die erst im 18. Jahrhundert wiedergefunden wurde. Moderne Experten setzen heute Röntgentechnik und künstliche Intelligenz ein, um die Texte auszulesen und lesbar zu machen.

Mithilfe moderner Technik und künstlicher Intelligenz wollen die Forschenden die alten Texte lesbar machen. Der Europäische Forschungsrat (ERC) unterstützt das Projekt in den nächsten sechs Jahren mit über elf Millionen Euro.

Zwei neue FAU-Projekte erhalten Fördermittel von etwa 300.000 Euro

Und nun geht es mit dem Vorhaben weiter: In zwei neuen Projekten wollen Informatiker der FAU Erlangen-Nürnberg KI-Technologien entwickeln, die den Zugang zu solchen Quellen erleichtern. Gefördert werden die Projekte in den nächsten drei Jahren vom Schmidt Sciences Humanities and AI Virtual Institute (HAVI) mit knapp 770.000 Euro – ein Teil dieses Geldes geht an die FAU.

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KI soll verlorene Stenografie lesbar machen

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden viele Manuskripte in der seltenen Gabelsberger-Stenografie geschrieben – darunter Aufzeichnungen von Kurt Gödel, Erwin Schrödinger, Carl Schmitt, Erich Kästner und Kardinal Faulhaber. Dr. Vincent Christlein von der FAU erklärt, dass die Texte historisch und intellektuell sehr wertvoll seien, heute aber kaum noch jemand sie lesen könne, weshalb viele Archivbestände praktisch unzugänglich blieben. Zusammen mit Nikolaus Weichselbaumer von der Universität Mainz arbeitet Christlein daran, eine KI zu entwickeln, die diese alten stenografischen Schriften erkennen und lesen kann.

KI hilft bei der Rekonstruktion beschädigter Manuskripte

Viele antike Manuskripte sind schwer lesbar, weil sie stark beschädigt sind. Und gerade hier sind das bekannte Beispiel dafür die Papyrusrollen und Holztafeln aus Herculaneum nahe Pompeji, die beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 verkohlt, aber nicht völlig zerstört wurden. Vincent Christlein erklärt, dass moderne Bildverfahren wie Multispektralaufnahmen oder Röntgentomographie die verbliebenen Tintenreste sichtbar machen können. Das größte Problem sei jedoch, dass das Material Löcher und Risse aufweist und sich einzelne Papyrusschichten oft nicht ohne Schaden voneinander lösen lassen. Ähnliche Schwierigkeiten gebe es bei den manichäischen Codices aus Medinet Madi in Ägypten, die ebenfalls Teil des Projekts sind. Forschende aus Erlangen, den USA und Italien entwickeln deshalb eine KI, die nicht nur Texte erkennt, sondern auch Schäden analysiert und fehlende Passagen sinnvoll ergänzt.

„Wir arbeiten von Anfang an mit Expertinnen und Experten aus den Geisteswissenschaften zusammen, die Rückmeldung zu den Trainingsdaten geben“, sagt Christlein. „So entwickeln wir valide Bewertungsmaßstäbe, die Methoden der Informatik mit humanistischer redaktioneller Praxis verbinden.“

Die Schriftrollen sind komplett verkohlt

Für jemanden ohne Fachwissen sehen diese Rollen aus wie halb verbrannte Äste: Sie sind komplett verkohlt, und die einzelnen Lagen – ähnlich wie Jahresringe – kleben fest zusammen und lassen sich kaum voneinander lösen.

„Bisher wurde etwa die Hälfte der rund 1.800 in der Sammlung inventarisierten Schriftrollen und Schriftfragmente mehr oder weniger erfolgreich entrollt.“, sagt Dr. Vincent Christlein vom Lehrstuhl für Mustererkennung an der FAU. „Und selbst, wo das gelungen ist, ließen sich die Inhalte meist nur zum Teil rekonstruieren.“

Grundsätzlich kann man die verklebten Lagen der Papyrusrollen auch am Computer trennen. Dafür werden die verkohlten Rollen mit einem sogenannten Mikro-CT durchleuchtet – einem speziellen Röntgenverfahren, das sehr genaue 3D-Bilder erstellt. Mithilfe von Software kann man diese Aufnahmen dann Schritt für Schritt „entrollen“ und in eine zweidimensionale Ansicht der Schrift verwandeln.

Mehr Informationen

Papyrus aus Herculaneum

Dieser Papyrus aus Herculaneum konnte entrollt werden, weist aber starke Zerstörungen auf. Die 3D-Aufnahme wurde aus Einzelaufnahmen zusammengesetzt und entstand mithilfe der Photogrammetrie. Diese Methode erlaubt es, die räumliche Struktur des Papyrus besser zu erkennen. Bild: Biblioteca Nazionale di Napoli „Vittorio Emanuele III“/EduceLab, University of Kentucky

Den Entroll-Algorithmus verbessern

Ein internationales Forschungsteam, zu dem die italienische Papyrus-Expertin Dr. Federica Nicolardi, der US-amerikanische Manuskript-Spezialist Prof. Dr. W. Brent Seales und Vincent Christlein gehören, will diese Methode weiter verbessern. Wichtiger Partner ist die Nationalbibliothek in Neapel, die fast alle erhaltenen Herculaneum-Papyri besitzt und Zugriff auf die Sammlung ermöglicht. Die EU unterstützt das gemeinsame Projekt „UnLost“ in den nächsten sechs Jahren mit etwa 11,5 Millionen Euro. „Wir wollen einerseits den Entroll-Algorithmus verbessern und erheblich beschleunigen“, kommentiert Christlein. „Zudem möchten wir erreichen, dass die KI noch treffsicherer zwischen Schrift und Hintergrund unterscheidet.“

In den Micro-CT-Scans sind die Schriftzeichen kaum vom dunklen Hintergrund zu unterscheiden. Selbst mit moderner Bildbearbeitung lässt sich der Kontrast nur selten so stark verbessern, dass die Zeichen deutlich sichtbar werden. Laut Christlein könne man auf diese Weise höchstens einzelne Buchstaben erkennen, ganze Texte aber nicht rekonstruieren. Deshalb müsse man andere Methoden einsetzen, vor allem solche aus dem Bereich des maschinellen Lernens. Dabei werde die künstliche Intelligenz mit Tausenden Papyrus-Stellen trainiert – sowohl mit Bereichen ohne Schrift als auch mit solchen, auf denen Buchstaben sicher erkannt wurden. So könne die KI lernen, Schrift von Hintergrund zu unterscheiden – selbst dann, wenn das menschliche Auge versagt.

Die Forschenden wollen auch andere Methoden zur Durchleuchtung der Papyrusrollen testen. Beim sogenannten photoakustischen Verfahren wird der Papyrus mit kurzen Laserstrahlen bestrahlt. Die entstehende Wärme erzeugt feine Ultraschallwellen, die Hinweise auf tiefere Strukturen geben können.

Manchmal passiert es beim tatsächlichen Entrollen der Rollen, dass kleine Papyrusstücke an der falschen Schicht kleben bleiben. Mit Hilfe von 3D-Mikroskopbildern will das Team solche Fehler erkennen und mit Unterstützung von Künstlicher Intelligenz Vorschläge machen, wohin diese Stücke ursprünglich gehörten.

Mehr zum Projekt

„The Vesuvius Challenge“

Im Rahmen des Wettbewerbs (Wir haben darüber 2024 berichtet) „The Vesuvius Challenge“ gelang es Luke Farritor und Youssef Nader, zwei Informatikstudenten, den verborgenen Text zu entschlüsseln. Mit eigens trainierten KI-Modellen haben sie auf den röntgentomografischen Aufnahmen einer verkohlten Schriftrolle aus Herculaneum einzelne Buchstaben und sogar ein erstes Wort erkannt.

Wissenschaftler um den Informatiker Brent Seales von der University of Kentucky enthüllten bei einer Pressekonferenz  (noch 2024) CT-Aufnahmen verkohlter Schriftrollen aus dem antiken Herculaneum.

CT-Scans mit einem Teilchenbeschleuniger aufgenommen

Die hochauflösenden CT-Scans, die Brent Seales und sein Team zuvor mit einem Teilchenbeschleuniger aufgenommen hatten, ermöglichten, auf einer winzigen Fläche mehrere Buchstaben und sogar ein vollständiges Wort zu identifizieren, berichtete Spektrum 2024. Die Studenten Luke Farritor und Youssef Nader haben unabhängig voneinander dieselbe Stelle mit KI-Algorithmen entschlüsselt und zum gleichen Ergebnis gekommen.

So wurde neben den einzelnen Buchstaben ein altgriechisches Wort sichtbar, das möglicherweise „purpurfarben“, „purpurfarbene Kleidung“ oder „Purpurfarbstoff“ bedeutet.

Der vollständige Kontext der untersuchten Schriftrolle wurde zwar noch nicht erfasst. Doch basierend auf dem bisherigen Wissen über die Bibliothek in Herculaneum, gehen die Forschenden davon aus, dass es um eine philosophische Schrift aus der Epikureischen Schule geht.

Wann und wie wurden die Rollen gefunden?

Nachdem im Jahr 1750 Bauarbeiter bei der Errichtung eines Brunnenschachts auf einen Mosaikboden der Villa gestoßen waren, beauftragte König Karl VII. von Neapel und Sizilien Arbeiter, Tunnel durch das Gebäude zu graben. Während dieser Ausgrabungen stießen die Arbeiter auch auf hunderte verkohlte Buchrollen, bei denen fast alle „Seiten“ miteinander verbacken waren. Aber bis jetzt scheiterten alle Bemühungen, die karbonisierten Papyrusrollen auseinanderzunehmen. Dadurch fiel die Hälfte der etwa 800 Buchrollen in Bruchstücke auseinander.

Die Idee, mithilfe von Röntgentechnik nach Texten zu suchen, kam im Jahr 2002. Damals begannen mehrere Forschungsgruppen, Exemplare mithilfe moderner Röntgenbildgebung zu untersuchen, allerdings immer ohne Erfolg. Grund für die Misserfolge war die Tinte, die hauptsächlich aus Kohlenstoffpigmenten bestand. Sie erzeugte auf dem verkohlten Papyrus keine erkennbaren „Schatten“ durch absorbierende Röntgenstrahlung. Brent Seales, Leiter des EDUCElab an der University of Kentucky, kämpfte gut 20 Jahre lang mit diesem Problem und fragte, ob in den tomografischen Aufnahmen, insbesondere in den hochauflösenden, möglicherweise doch eine Spur der Tinte enthalten sein könnte. Vielleicht könnte der Scan dreidimensionale Strukturen erfassen, die von der Tinte stammen. Und das hat geklappt.

Was enthüllt die Herculaneum-Schriftrolle?

Unmittelbar nachdem die ersten Abschnitte entziffert worden waren, verfassten die Papyrologen, die an der Vesuvius Challenge teilnahmen, eine erste Übersetzung des Textes – mit aufregenden Ergebnissen. „Wir wissen nun, dass diese Schriftrolle keine bloße Kopie eines schon existierenden Werks ist. Sie enthält einen nie zuvor gesehenen antiken Text“, hieß es aus den Kreisen von Vesuvius Challenge,  die bis zum Ende 2023 lief.

Medienberichten zufolge handelt es sich um Fragmente eines philosophischen Werks, in dem über Genuss und Freude nachgedacht wird. Der antike Autor, höchstwahrscheinlich der Philosoph Philodemus, stellt die Frage, ob Dinge, die schwer zu erlangen sind, mehr Freude bereiten als solche, die leicht und reichlich verfügbar sind. Der antike Philosoph zieht den Schluss: „Ähnlich wie im Fall von Nahrung glauben wir nicht, dass seltene Dinge per se mehr Genuss bereiten…“, berichtet scinexx.de in Bezug auf Vesuvius Challenge. In einem weiteren Abschnitt der Schriftrolle soll demnach eine Person namens Xenophantus erscheinen – es wird vermutet, dass es sich um einen antiken Musiker handelt, den Philodemus auch in seinem Werk „Über Musik“ erwähnt.

In der Mitteilung der Vesuvius Challenge wird erwähnt, dass man erwartet, dass in der Sammlung noch viele weitere Texte von Philodemus vorhanden sein werden. Es wird spekuliert, dass auch andere Texte möglicherweise enthalten sind – beispielsweise ein Dialog von Aristoteles, eine verlorene Geschichte von Homer oder ein Gedicht von Sappho.

Ein Beitrag von:

  • Alexandra Ilina

    Alexandra Ilina ist Diplom-Journalistin (TU-Dortmund) und Diplom-Übersetzerin (SHU Smolensk) mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung im Journalismus, in der Kommunikation und im digitalen Content-Management. Sie schreibt über Karriere und Technik.

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