Resilienz 07.12.2025, 11:00 Uhr

Gas: Reale Gefahren für die Versorgungssicherheit

Mit Beginn des Ukrainekriegs schauten plötzlich viele auf die Füllstände von Erdgasspeichern. Wer heute hinschaut, wundert sich. Zu recht, macht der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches deutlich.

Gasspeicherung ist eine Methode, um den Energieträger für Spitzenlasten und Krisenzeiten zu bevorraten. Derzeit bewegt sich die Debatte um die Speicher von einer marktseitig betriebenen Anlage hin zu einer resilienzbasierten kritischen Infrastruktur. 
Foto: zorandim/Smarterpix

Gasspeicherung ist eine Methode, um den Energieträger für Spitzenlasten und Krisenzeiten zu bevorraten. Derzeit bewegt sich die Debatte um die Speicher von einer marktseitig betriebenen Anlage hin zu einer resilienzbasierten kritischen Infrastruktur.

Foto: zorandim/Smarterpix

Klirrender Frost bis -19 °C am Alpenrand – die TV-Wetterkarten zum Totensonntag-Wochenende ließen manchen im kuschelig geheizten Wohnzimmer mehr als nur wohlig erschaudern. Dass es so etwas in Deutschland gibt? Auch wenn mit Eintreffen des nächsten Tiefs die Temperaturwerte wieder nach oben gehen, wurden wir daran erinnert: Auch in Deutschland kann es kalt werden. Trotz Klimawandel.

Nur: Haben wir auch immer genug Gas, damit es uns trotzdem warm genug ist?

Wie gut, dass wir in Deutschland Vorsorge treffen. Wenn der Winter die Thermometeranzeigen in den Keller schickt, sinken folgerichtig auch die Füllstände der deutschen Erdgasspeicher. Schließlich wurden diese Reserven genau dafür angelegt. Doch entscheidet sich Versorgungssicherheit nicht genau daran, was passiert, wenn der Winter länger, kälter und es politisch frostiger wird als gedacht? Wie gut, dass die Bundesnetzagentur in Bonn in ihrem „aktuellen Lagebericht Gasversorgung“ seit Wochen schreibt: „Die Gasversorgung in Deutschland ist stabil. Die Versorgungssicherheit ist gewährleistet. Die Bundesnetzagentur schätzt die Gefahr einer angespannten Gasversorgung im Augenblick als gering ein.“

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Warum es ein Risiko für die Versorgungssicherheit mit Gas gibt

Genau da mahnt der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW) zur Vorsicht. Versorgungssicherheit, betonen die Fachleute, sei längst mehr als die Frage, ob „Strom aus der Steckdose und Gas aus der Leitung kommt“. Es gelte Versorgungssicherheit „übergreifend als Querschnittsthema“ zu denken, so der DVGW-Vorstandsvorsitzende Gerald Linke. „Versorgungssicherheit ist ein Versprechen: eines, das technologische Exzellenz mit geopolitischer Nüchternheit verbindet.“ Vom einem „Markt“ ist da nicht die Rede.

Aus Sicht des DVGW ist das Risiko real, dass Deutschland im Spätwinter schneller an die Reserven heranrutscht, als es die aktuellen Füllstände der Gasspeicher vermuten lasse. „Unsere Analysen und die der Bundesnetzagentur zur Versorgungssicherheit auf Basis der deutschen Gasspeicher liegen schon auseinander, unsere Interpretation ist dann doch eine andere“, so Linke. „Wir zeigen, dass Gefahren für die Versorgungssicherheit real sind, das können wir auf Basis eigener Tools simulieren“, betont der Physiker.

Wie sich die gesetzliche Definition von Versorgungssicherheit geändert hat

Füllstände der Erdgasspeicher in Deutschland: Die Bundesnetzagentur zeigt online unter „Aktuelle Lage Gasversorgung“ auch grafisch den Verlauf der Füllstände der Gasspeicher in Prozent. In letzter Zeit sinken die Füllstände (rote Linie) wieder. Grafik: Gudrun Schmidt/VDI nachrichten

Sollten die deutschen Gasspeicher nicht zu 90 % voll sein, wenn die Heizperiode beginnt? Ja, das war zu Beginn des Ukrainekrieges mal festgelegt worden. Aber zum 5. Mai dieses Jahres trat die „Verordnung zur Anpassung der Füllstands­vorgaben für Gasspeicheranlagen (GasSpFüllstV)“ in Kraft. Danach muss jeder einzelne Gasspeicher:

  • zum 1. November jedes Jahres einen Füllstand von 80 %,
  • zum 1. Februar des Folgejahres einen Füllstand von 30 % aufweisen,
  • hinzu kommen Regelungen und niedrigere Zielwerte für bestimmte Speicheranlagen aufgrund technischer Einschränkungen.

Warum aber schreibt die Bundesnetzagentur am 22. 11.: „Die Versorgungssicherheit ist gewährleistet“ – bei einem aktuellen deutschlandweiten Füllstand von 71,15 %? Nun, richtig brenzlig wirds für die Wächter in der Agentur erst bei weniger als 70 %. Die stehen nämlich als rechnerische Vorgabe in der entsprechenden EU-Verordnung. Und im Schnitt über alle Anlagen kommen derzeit die Bonner zum Schluss: „In der Gesamtbetrachtung führt dies zu einem Füllstand über alle deutschen Speicher von 70 %.“

Warum die gesetzliche Definition von Versorgungssicherheit nicht ausreicht

Für die Frage, wie weit die Erdgasspeicher durch den Winter tragen, reicht der Blick auf den aktuellen Füllstand nach der Gesetzesänderung zum Mai aber nicht mehr aus. DVGW-Experte Stefan Gehrmann hält den Ansatz für zu kurz gegriffen: „Um fundierte Entscheidungen treffen zu können, müssen diese Werkzeuge auf parametrierbaren Annahmen basieren, die eine flexible Szenarienbildung erlauben. Nur so lassen sich belastbare Prognosen zur Speicherreichweite ableiten und rechtzeitig geeignete Gegenmaßnahmen einleiten.“

Die Regelsetzer haben daher ein Modell entwickelt, was realistischer sein soll und Resilienzaspekte besser berücksichtigt. „Ein zentrales Element des Tools ist die Korrelation zwischen dem Gasabsatz und der bundesweiten Durchschnittstemperatur“, erklärt Gehrmann. „Dadurch lassen sich unterschiedliche Temperaturszenarien abbilden und deren Auswirkungen auf den Verbrauch realistisch einschätzen.“

Gefahr für die Versorgungssicherheit besteht vor alle gegen Ende des Winters

Wenn es auch nur 1 K (ein Grad) kälter wird als „normal“, dann, so zeigen Szenarien des DVGW, könnten die Gasspeicherfüllstände unter 31 % und damit auf den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestwert von 30 % zum Stichtag 1. 2. 2026 fallen. Grafik: Gudrun Schmidt/VDI nachrichten

Ergänzt wird dies um empirische Daten zu den Nettoimporten der vergangenen Jahre. Die Fachleute simulieren, wie sich Kombinationen aus Außentemperatur, Speicherfüllstand und Importniveau über den Winter hinweg auswirken. „Wenn man sie übereinanderlegt, findet man heraus, dass wir bei einem normalen Jahr zwar gut über den Winter kommen, allerdings im Februar die Speicher schon ziemlich leer sind“, so DVGW-Präsident Linke.

Gleichzeitig gibt es die Marke von 30 % für das Minimum des Speicherfüllstands zum 1. Februar des Jahres. So viel Gas sollte noch im Speicher sein. „Und wenn wir dann simulieren, dass es zum Beispiel im Januar oder Februar kälter wird als normal, fallen wir unter diese 30-%-Marke“, so Linke. In der Realität kommen solche Abweichungen vor, das sind keine Extremfälle, die der DVGW dort annimmt.

Wie sich reale Versorgungssicherheit wiederherstellen ließe

Linke will „alarmieren in dem Sinne, dass wir für den Winter eine straffe Importstrategie benötigen, um das Risiko einer Knappheit im Februar/März in den Griff zu bekommen.“ Konkret ließe sich nur dann (bei einem Speicherfüllstand von 70 %) unbesorgt heizen, wenn die Nettoimporte im Winter deutlich über dem Niveau der Vorjahre liegen. Und natürlich: Je kälter, desto mehr Importe müssten es sein.

Ein Ausgangsfüllstand von Anfang November von 85 % (5 % weniger als noch in der ursprünglichen Verordnung) würde die Lage „spürbar“ entspannen. Reicht aber laut DVGW „bei starkem Verbrauch ohne zusätzliche Importmengen ebenfalls nicht aus. Im Sinne der Versorgungssicherung ist eine Übererfüllung der Füllstandsvorgaben ebenso wünschenswert wie ein enges Monitoring der aktuellen Versorgungslage und der erwarteten.“

Warum die Gasspeicher zu Winterbeginn nicht pickepackevoll sind

Schließlich waren sie es in den Vorjahren. Sagen wir es so: Es ist komplex. Im Endeffekt braucht es – wieder einmal – klare politische Vorgaben, um klare Verantwortlichkeiten mit klaren Kenngrößen zu erhalten.

Gerald Linke: Der Vorstandsvorsitzende des DVGW sieht „reale“ Gefahren für die Versorgungssicherheit mit Gas.

Foto: DVGW/Tatiana Kurda

Warum also die niedrigen Gasspeicherfüllstände? Linke nennt den Grund dafür „Dysfunktionalität“, es gebe getrennte Aufgaben mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Die Gasspeicher gehören den Gasspeicherbetreibern. Das Gas darin nicht. Das ist nicht ungewöhnlich, es entspricht auch anderen Infrastrukturprodukten. Die sollten über marktbasierte Produkte und Preise angeboten werden, worauf die europäische Händlervereinigung Energy Traders Europe hinweist. „Das ultimative Ziel sollte sein, dass alle Speicher in der EU kommerziell betrieben werden und der Zugang auf Wettbewerbsbasis erfolgt“, so die Organisation Efet laut einem grundlegenden Positionspapier „Gas Storage in Europe – Adding security through flexibility“.

Warum die bisherigen Marktmechanismen nicht mehr ausreichen, um Versorgungssicherheit herzustellen

Bisher befüllten die Gashändler im Sommer die Speicher mit preiswertem Gas, das sich dann im Winter rentierlich veräußern ließe. „Wir haben im Frühjahr gesehen, dass die Händler im Wissen darauf, dass der Trading Hub Europe (THE) im Zweifelsfall die Speicher befüllen muss, im Prinzip Wetten abgeschlossen haben“, erklärt Linke. THE ist der Marktgebietsverantwortliche für den deutschen Gasmarkt. Im Endeffekt also die Nase, woran zu ziehen wäre, wenn etwas schiefgeht.

Die Folge war eine Preisumkehr: Statt billigem Gas gab es im Sommer teures, die Gasspeicher füllten sich in Folge kaum. Der DVGW fordert daher, der Versorgungssicherheit mehr Vorfahrt zu gewähren. „Aus unserer Sicht muss das Thema Versorgungssicherheit im europäischen Kontext neu betrachtet werden und wir müssen anderen Ländern folgen, konkret Frankreich. Wir sehen die Lösung darin, so wie es in Frankreich auch ist, dass die Händler, die eine bestimmte Menge Gas in Deutschland absetzen, auch ratierlich zu ihrem Marktanteil Speicherkapazität verbindlich buchen und befüllen müssen“, so Linke.

Real aber scheint es so, dass in Deutschland Gasspeicher kaum mehr wirtschaftlich betreibbar sind.

Braucht Versorgungssicherheit eine Notbremse oder nur einen funktionierenden Markt?

Eine prophylaktische Notbremse für mehr Versorgungssicherheit erhält heute schon Gegenwind von den Gashändlern. „Ein marktbasierter Ansatz für die Befüllung der Speicher sollte der bevorzugte Ansatz sein, um das gewünschte Lagerniveau zu fördern. Speicherverpflichtungen sollten nur als letztes Mittel angesehen werden“, so schrieb die Händlervereinigung im März dieses Jahres, als es um die Bekämpfung der Gaskrise in den Benelux-Ländern ging.

Dahinter steht die Überzeugung von Energy Traders Europe, dass starre Speicherpflichten Liquidität und Preistransparenz mindern. Und gerade so würde jene Flexibilität beschädigt, die die Gasspeicher eigentlich liefern sollten. Würden regulatorische Zwänge statt ökonomischer Signale dominieren, würde dies als Folge Arbitrage, Portfoliooptimierung und grenzüberschreitende Energieflüsse einschränken.

Es prallen zwei Lesarten, was Versorgungssicherheit ist, aufeinander

„Es ist dringend erforderlich, dass wir wieder zu einer Synchronisation des Marktverhaltens kommen, entsprechend den Preiskurven und entsprechend der technischen Notwendigkeit, im Sommer die Speicher zu befüllen“, betont Linke. Akteure wie der DVGW sehen Speicher als kritische Infrastruktur mit klar zugewiesenen Pflichten. Für sie ist die Politik in der Verantwortung, Mindestfüllstände verbindlich zu machen, notfalls über Speicherpflichten.

Die Energiemärkte setzen auf Diversifikation, Handel und Preissignale in einem integrierten europäischen Gasmarkt. In dem erzeugen Speicher Sicherheit durch Flexibilität – nicht gegen sie.

Die Debatte ist alles andere als akademisch. Bei Industriebetrieben, Stadtwerken und anderen Großabnehmern hängen davon Investitionsentscheidungen ab. Linke nennt das Thema nicht umsonst „Querschnittsthema“. Wie viel Resilienz uns kosten darf und wie sie zustande kommen soll, das muss die Bundesregierung entscheiden. Spätestens wenn die Gasheizungen irgendwann kalt bleiben sollten.

Ein Beitrag von:

  • Stephan W. Eder

    Stephan W. Eder

    Stephan W. Eder ist Technik- und Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Energie, Klima und Quantentechnologien. Grundlage hierfür ist sein Studium als Physiker und eine anschließende Fortbildung zum Umweltjournalisten.

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