Fachkräftemangel selbstgemacht? Wenn alte Regeln junge Talente blockieren
Deutschlands Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften – doch warum bleiben viele Stellen unbesetzt? Eine neue Studie zeigt: Zu hohe Anforderungen, veraltete Jobprofile und der Einsatz von KI könnten den Einstieg für junge Talente zusätzlich erschweren.
Veraltete Kriterien, leere Stellen – deutsche Unternehmen im Dilemma.
Foto: PantherMedia / Devon
Neue Studie wirft Fragen auf: Ist der Fachkräftemangel in Deutschland selbst verschuldet?
Rund 78 % der Unternehmen erreichen laut dem diesjährigen Global Workforce Report des HR-Tech-Unternehmens Remote wichtige Ziele nicht mehr – und machen dafür einen anhaltenden Mangel an Talenten verantwortlich. Doch ein genauer Blick zeigt: Oft liegen die Ursachen nicht nur am Arbeitsmarkt, sondern auch an veralteten Vorstellungen, wie gute Bewerber auszusehen haben.
Bis Ende 2026 planen fast zwei Drittel (62 %) ihrer neuen Mitarbeitenden im Ausland zu rekrutieren. Doch ob diese Strategie aufgeht, ist fraglich: 80 % der Unternehmen sagen, dass die Suche nach internationalen Fachkräften heute deutlich schwerer ist als noch vor einem Jahr.
Unrealistische Voraussetzungen und veraltete Anforderungen
Der Kampf um Fachkräfte bleibt für viele Unternehmen eine große Herausforderung. Oft machen sie es sich selbst schwer, weil sie, wie bereits erwähnt, zu hohe Anforderungen stellen. Laut einer Remote-Umfrage verlangen inzwischen 59 % der deutschen Firmen für neue Stellen einen Masterabschluss.
In anderen Ländern wie dem Vereinigten Königreich (51 %) oder den USA (52 %) ist das jedoch nicht überall üblich. Wer also weltweit die besten Talente sucht, stößt mit solchen unrealistischen Voraussetzungen schnell an Grenzen. Vor allem, was die Einstiegsmöglichkeiten betrifft.
Auch der Executive Recruiter Oliver Kempkens sprach mit ingenieur.de über die hohen und oft zu abstrakten Anforderungen in Unternehmen. Er erklärte, dass gerade im C-Level-Bereich die Anforderungen häufig zu allgemein oder schwammig formuliert seien, was die Suche nach passenden Kandidaten erschwere. „In mehr als 50 % der Fälle, in denen wir initiale Briefings bekommen, ist das Anforderungsprofil extrem, zu generisch, zu unpräzise, nicht die konkreten Problemfelder abdeckend“, sagte er im Interview.
Einstiegshürden und KI erschweren den Karrierestart
Hinzu kommt, dass Unternehmen immer weniger klassische Einstiegspositionen anbieten. Wir haben bereits berichtet, dass KI zunehmend Aufgaben übernimmt, die früher junge Absolventen übernommen hätten, und dadurch den Einstieg zusätzlich erschwert. Laut dieser Umfrage sagen 80 % der Unternehmen, dass der Einsatz von KI die Zahl der Einstiegsrollen schon reduziert hat. Wer neben hohen Abschlüssen auch noch jahrelange Erfahrung verlangt, verengt seinen Talentpool noch weiter. Der Mangel an Einstiegschancen dürfte die Lage in den kommenden Jahren noch verschärfen.
Genau diesen Punkt hatten wir auch in einem Interview mit Irene Bader, der Vorständin von DMG Mori angesprochen. Sie betonte, dass die Aussage, KI ersetze den Menschen, zu kurz greife. Wichtig sei vielmehr, dass die Entwicklung von KI aktiv von Menschen mitgestaltet werde.“ Wir als Unternehmen müssen dafür sorgen, dass diese jungen Menschen tatsächlich zu den Gestaltern der Zukunft werden. Die Absolventinnen und Absolventen von heute, die gut ausgebildet sind, neu denken und frische Perspektiven einbringen, sollten in der Industrie anders eingesetzt werden – nicht für irgendwelche Routineaufgaben, sondern für Aufgaben, die ihre Fähigkeiten wirklich nutzen und Innovation fördern“, sagte sie gegenüber ingenieur.de.
„Das Problem sind die zu hohen Erwartungen“, kommentiert Job van der Voort, CEO von Remote. „Wenn Unternehmen stur an engen, klassischen Anforderungen festhalten, wird der Talentpool zwangsläufig kleiner – im Inland wie im Ausland. Firmen müssen ihre Einstiegshürden überdenken, statt sie einfach nur höher zu schrauben, und stärker nach Fähigkeiten und Entwicklungspotenzial einstellen.“
Alte Regeln, neue Herausforderungen
Mit anderen Worten: Deutsche Unternehmen hängen weiter an alten Vorstellungen von Qualifikation – und das wirkt sich auf ihre Attraktivität und Innovationskraft aus.
- Wettbewerb um Talente: Weltweit wird es immer schwerer, Fachkräfte zu gewinnen.
- Formale Titel im Fokus: 57 % der deutschen DAX-Vorstände haben einen MBA oder Doktortitel, international sind es nur 37 %.
- Praktische Erfahrung zählt weniger: Während andere Länder auf Fähigkeiten und Lernbereitschaft setzen, dominieren in Deutschland weiterhin akademische Abschlüsse.
- Promotionsquote sinkt: Bei DAX-Vorständen fiel der Anteil von Promovierten in 15 Jahren von rund 50 % (2008) auf 30 % (2023) – ein Zeichen, dass sich selbst in Führungsetagen langsam etwas ändert.
Fähigkeiten statt Titel: Deutschlands Unternehmen im Umdenken
Traditionelle Bildungsanforderungen prägen noch immer die deutsche Unternehmenslandschaft, doch ein Umdenken zeichnet sich ab.
„In einer technologiegetriebenen Wirtschaft taugen ein Masterabschluss oder ein lückenlos geradliniger Lebenslauf längst nicht mehr als verlässlicher Leistungsindikator. Wichtiger sind Fähigkeiten, Lernvermögen und Anpassungsfähigkeit – nicht formale Titel. Arbeitgeber, die offen für unkonventionelle Profile sind und auf Potenzial setzen, werden den Fachkräftemangel am ehesten nachhaltig in den Griff bekommen”, kommentiert Job van der Voort.
Die Studie wurde im August 2025 von Censuswide im Auftrag von Remote durchgeführt. Befragt wurden 3.650 Führungskräfte mit Personalverantwortung aus neun Ländern, darunter das Vereinigte Königreich, die USA, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Spanien, Australien, Singapur und Südkorea. In Deutschland nahmen 500 Verantwortliche teil.
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