Warum Frauen in Krisenzeiten die Top-Jobs bekommen
Frauen an der Spitze in Krisenzeiten: Chancen, Risiken und die Theorie der Gläsernen Klippe im Überblick.
Die "Gläserne Klippe": Frauen übernehmen in Krisenzeiten häufiger riskante Führungspositionen – ein Muster in Wirtschaft und Politik.
Foto: PantherMedia / Andriy Popov
Nach Daimler Truck und der Commerzbank setzte auch die Deutsche Bahn in Krisenzeiten erstmals auf eine Frau als Chefin. Wissenschaftler sahen darin ein Muster – und nannten einen klaren Grund.
Hartmut Mehdorn, Rüdiger Grube, Richard Lutz – und jetzt erstmals Evelyn Palla: Die neue Bahn-Chefin bricht die lange Männerreihe an der DB-Spitze. Fachleute sehen darin ein typisches Beispiel für die „Gläserne Klippe“. Die Idee dahinter: Frauen bekommen öfter dann Top-Jobs, wenn Firmen in der Krise stecken – sei es wegen Geldproblemen oder Skandalen. Laut dem Mannheimer BWL-Professor Max Reinwald ist die Chance in solchen Zeiten etwa 50 Prozent höher. Klingt viel, bleibt aber insgesamt gering: Normal sind es nur 5 Prozent, in Krisen immerhin 7,6.
„Die Bahn ist seit Jahren in der Krise. Es ist auch nicht absehbar, dass eine spürbare Besserung sehr schnell eintritt“, zitiert die dpa Reinwald. „Und das Verkehrsministerium war natürlich auch unter Druck und möchte zeigen: ,Okay, wir sind dran, wir ändern da was.’“
Die „Gläserne Klippe“
Die „Gläserne Klippe“ (englisch: Glass Cliff) ist ein Begriff aus der Sozialpsychologie und Organisationsforschung. Er bezeichnet ein Phänomen, bei dem Frauen (und teilweise auch andere Minderheiten) häufiger in Führungspositionen befördert werden, wenn die Organisation oder das Unternehmen sich bereits in einer Krise oder schwierigen Lage befindet.
Das bedeutet:
- Frauen (oder andere unterrepräsentierte Gruppen) werden eher in riskanten Führungsrollen eingesetzt, in denen das Scheitern wahrscheinlicher ist.
- Dadurch steigt die Gefahr, dass ihre Amtszeit kürzer ist oder sie für das Scheitern verantwortlich gemacht werden.
- Im Gegensatz dazu übernehmen Männer Führungsrollen statistisch gesehen häufiger in stabilen oder erfolgreichen Phasen.
Der Begriff wurde 2004 von den britischen Psychologinnen Michelle K. Ryan und Alexander Haslam geprägt. Sie stellten fest, dass Frauen nach Unternehmenskrisen eher in den Vorstand berufen wurden – also genau dann, wenn die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns hoch war.
Verwandt ist das mit dem „Gläsernen Deckel“ (Glass Ceiling), der die unsichtbaren Barrieren beschreibt, die Frauen am Aufstieg in Führungspositionen hindern.
Die „Gläserne Klippe“ geht einen Schritt weiter: Selbst wenn Frauen den Aufstieg schaffen, sind sie oft größerem Risiko und mehr Kritik ausgesetzt.
Ein Signal nach außen
Laut Reinwald setzen Unternehmen in der Krise oft auf eine Veränderung, um ein Signal nach außen zu senden. Besonders gut funktioniere das, wenn das Unternehmen zuvor fast nur männliche Chefs hatte – wie bei der Deutschen Bahn.
Der Effekt der „Gläsernen Klippe“ wird zudem stärker, je sichtbarer ein Unternehmen in den Medien ist: Je mehr Aufmerksamkeit ein Unternehmen bekommt, desto deutlicher zeigt sich dieser Effekt.
Gläserne Klippe: Studie zu Führungswechseln
Reinwald und zwei Kollegen von der Universität Konstanz haben 26.156 Führungswechsel in börsennotierten US-Unternehmen zwischen 2000 und 2016 untersucht. Nur 7,4 Prozent dieser Wechsel betrafen Frauen. Trotz des geringen Anteils sei das Ergebnis aufgrund der großen Datenmenge aussagekräftig, sagt Reinwald. Er geht davon aus, dass die Ergebnisse grundsätzlich auch auf Deutschland übertragbar sind.
Die Vermutung, dass Unternehmen Frauen nur deshalb ernennen, weil Männer in Krisen nicht übernehmen wollen, hält Reinwald für unwahrscheinlich. „Ich würde mal vermuten, dass es bei der Bahn einige Männer gegeben hat, die bereitgestanden wären.“
Wirkung hängt vom gesellschaftlichen Kontext ab
Jürgen Wegge, Arbeits- und Organisationspsychologe an der Technischen Universität Dresden, sieht das Phänomen der Gläsernen Klippe auch in Deutschland. Allerdings sei der Effekt abhängig vom gesellschaftlichen Umfeld. In den Jahren 2011 bis 2015, als in den Medien viel über Frauenquoten und Frauen in Führungspositionen berichtet wurde, sei der Effekt schwächer gewesen. Wegge erklärt, dass die Ernennung einer Frau in dieser Zeit nicht mehr dieselbe Signalwirkung gehabt habe, um zu zeigen, dass ein Unternehmen aus der Krise Veränderungen vorantreibt.
Weitere Erklärung für die Gläserne Klippe
Die Organisation „Frauen in die Aufsichtsräte“ (Fidar) sieht einen weiteren möglichen Grund für die Gläserne Klippe: „In Krisensituationen müssen oft harte Entscheidungen getroffen werden, die sich auch gegen die etablierten Strukturen im Unternehmen richten“, kommentierte Präsidentin Anja Seng. „Vielleicht traut man Frauen eine Sanierung eher zu, weil sie weniger in diese bestehenden und gegebenenfalls hemmenden Netzwerke eingebunden sind.“
Die Theorie der Gläsernen Klippe gibt es schon seit 20 Jahren. Laut Reinwald ist unklar, wie Frauen in Krisensituationen langfristig abschneiden. Studien zeigen jedoch, dass Frauen in solchen Positionen oft deutlich kürzer im Amt bleiben als ihre männlichen Kollegen. „Wenn dann eine Frau sozusagen von der Gläsernen Klippe stürzt, dann folgte meistens wieder ein Mann nach“, sagte der Experte. (mit dpa)
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