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FTS-Fachtagung 2018 01.01.2019, 00:00 Uhr

Fahrerlose Transportsysteme fahren weiter auf der Überholspur

Unter dem Motto „FTS auf der Überholspur – Bodenständig in die Zukunft“ informierten sich kürzlich 270 Teilnehmer auf der FTS-Fachtagung am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) über Best-Practice-Lösungen sowie Praxiserfahrungen rund um die Auswahl, die Einführung und den Betrieb von Fahrerlosen Transportsystemen (FTS).

Mit 270 Teilnehmern vermeldete Dr. Günter Ullrich für die FTS-Fachtagung in Dortmund einen neuen Besucherrekord.
Bild: Offenblende Dortmund

Mit 270 Teilnehmern vermeldete Dr. Günter Ullrich für die FTS-Fachtagung in Dortmund einen neuen Besucherrekord. Bild: Offenblende Dortmund

Mit 270 Teilnehmern und einer mit 32 Ständen ausgebuchten Fachausstellung verbuchte die 14. FTS-Fachtagung in diesem Jahr einen neue Rekord. Im Mittelpunkt des alle zwei Jahre stattfindenden Branchentreffs, dessen fachlicher Träger der „VDI-Fachausschuss 309 – Fahrerlose Transportsysteme“ ist, standen vor allem die massiven Veränderungen, die die FTS-Welt durch neue Marktteilnehmer und innovative Technologien erwarten.

Mensch und Maschine arbeiten partnerschaftlich zusammen

Den Auftakt zur Veranstaltung machte Prof. Dr. Michael ten Hompel, geschäftsführender Institutsleiter des Fraunhofer IML, mit seinem Impulsvortrag „Innovationen in der Intralogistik“, in dem er aktuelle technische Entwicklungen und deren Fortentwicklung in Richtung biointelligenter Eco-Systeme für künstliche Intelligenzen und einer „Social Networked Industry“ zeigte, in der Menschen und Maschinen partnerschaftlich zusammenarbeiten. Daten von Milliarden vernetzter Sensoren und Geräten werden bereits in naher Zukunft zur Verfügung stehen, deren Analyse mit Algorithmen künstlicher Intelligenz erfolgen wird. Diese Entwicklung wird die Logistik in besonderer Weise betreffen, da sie für die physische und zunehmend auch für die digitale Vernetzung in einer globalisierten Welt zuständig ist. Aus Staplern werden autonome Fahrzeuge, aus Kisten cyberphysische Systeme und die klassische Transport- und Warenwirtschaft wird zur Plattformökonomie.

FTS-Einsatz im Paletten-Block-Lager

In einem Doppelvortrag berichteten Jörn Miklas, Leiter SCM, und Harald Kirchberger, Fachassistenz / Controlling SCM, bei Welser Profile im westfälischen Unna-Bönen bzw. im österreichischen Ybbsitz, über ein neu installiertes „FTS im Paletten-Block-Lager mit 6 000 Palettenplätzen“ am Standort Gresten in Österreich. In drei Schichten werden täglich bis zu 1 500 Paletten produziert, die durch die von ROCLA gelieferten Fahrerlosen Transportfahrzeuge von Förderstrecken abgenommen, im Blocklager bis zu einer Stapelhöhe von 5,2 m eingelagert und entsprechend den Kundenabrufen auch wieder ausgelagert werden. Das FTS als verbindendes Glied zwischen Produktion, Lager und Warenausgang muss nicht nur sehr schnell auf geänderte Rahmenbedingungen reagieren, es muss vor allem auch eine sehr hohe Robustheit gegenüber Störfaktoren haben und gleichzeitig für die Benutzer und die Wartungsmannschaft möglichst einfach zu bedienen sein. Bei allen Anforderungen, die an die FTF gestellt werden, ist ein absolut sicherer Betrieb im Produktionsumfeld Pflicht und gleichzeitig größte Herausforderung, da die Verkehrswege von den FTF nicht exklusiv genutzt werden können, sondern Personen (Firmenangehörige und Externe), Stapler, externe Lkw usw. sich dort ebenfalls aufhalten können.

Neue Wege in der logistischen Systemplanung

Mario Kuhn, Projektingenieur beim Haushaltsgerätehersteller Miele, stellte ein „3D-Fabrikmodell + Simulation des FTS – Neue Wege in der Logistiksystemplanung“ seines Unternehmens vor. Am Firmensitz in Gütersloh werden täglich bis zu 5 100 Waschvollautomaten produziert. Ein Fahrerloses Transportsystem mit neun Standard-Gabelhochhubfahrzeugen der Firma EK Automation verbindet ein Elektrohängebahnhubwerk mit diversen Anlagen und Zwischenpuffern im Rohbau für Gehäuse und Aggregate und trägt zu einer wirtschaftlichen und effizienten Produktion von Premiumprodukten im Rahmen einer Industrie 4.0-Umsetzungsstrategie bei. Das Projekt wurde während der gesamten Planungs- und Umsetzungsphase von Simulationsexperimenten in virtuellen 2D- und 3D-Umgebungen begleitet. Eine besondere Herausforderung in diesem Kontext stellten die Untersuchungen zur logistischen Anbindung des zentralen Elektrohängebahnhubwerkes dar. Es musste im Vorfeld validiert werden, ob die FTF in der Lage sind, an lediglich drei eng aneinander liegenden Auf- und Abgabestationen bis zu 85 Behälterbewegungen pro Stunde zu bewältigen.

Anlagenoptimierung im laufenden Betrieb

Über „Herausforderungen und Lösungen beim Retrofit einer FTF-Anlage im laufenden Betrieb“ berichtete anschließend Pierre Alain Bigler, Projektleiter Logistik und Automation bei der Molkerei Estavayer Lait im schweizerischen Estavayer-le-Lac. Täglich werden dort bis zu 750 000 l Milch verarbeitet, pro Jahr ergibt das eine Produktionsmenge von 263 000 t, die sich auf über 600 verschiedene Artikel verteilen. Aufgabe der automatischen Fahrzeuge ist es, Kunststoffbehälter und Rollpaletten, die sich auf Europaletten befinden, aufzunehmen und zu den rund 50 Abfülllinien zu bringen. Dort erfolgen die komplett vollautomatische Depalettierung, Befüllung, Verpackung und erneute Palettierung. Den Abtransport der Waren übernehmen wieder die FTF bis zum Lagereingang. Das FTS ist so konzipiert, dass pro Stunde bis zu 300 Transporte durchgeführt werden können.

Im Rahmen eines Retrofit-Projekts wurden 15 – bis zu 17 Jahre alte, ursprünglich von der Firma Eisenmann gelieferte – Fahrzeuge Zug um Zug durch ein System des Herstellers MLR ersetzt und außerdem der alte SPS-basierte Leitrechner durch eine moderne PC-Lösung ausgetauscht. All dies geschah innerhalb der vergangenen zwei Jahre im laufenden 24/7-Betrieb – ohne Beeinträchtigungen der kontinuierlich laufenden Produktion. Aufgrund der nun höheren Durchschnittsgeschwindigkeit der Fahrzeuge und einer optimierter Ablaufsteuerung im Leitsystem konnte die Fahrzeuganzahl sogar um zwei reduziert werden.

Innerbetriebliche Prozessoptimierung mit FTS

Anschließend erläuterte Carsten Hayder, Director Supply Chain Management und Plant Manager bei Fa. MENSHEN, wie ein Fahrerloses Transportsystem den innerbetrieblichen Logistikprozess optimiert. Bei MENSHEN, einem inhabergeführten Unternehmen der Kunststoffbranche mit Hauptsitz im sauerländischen Finnentrop, produzieren täglich 130 Spritzguss- und Montagemaschinen ca. 12 – 16 Mio. Verschlüsse. Drei FTF sorgen für den Abtransport von Maschinen- und zentralen Übergabeplätzen hin zur Wickelmaschine, von wo die Paletten in den Versandbereich gefahren werden. Die FTF transportieren Standard- und Sonderladungsträger im Format 1 200 x 800 mm mit einem Gewicht von bis zu einer Tonne. Die Navigation der Fahrzeuge erfolgt mittels Lasertriangulation. Transportaufträge werden durch manuelles Scannen von Barcodelabeln oberhalb der Palettenstellplätze ausgelöst. Die Automatisierung der internen Logistik trägt nicht nur zur Entlastung der Mitarbeiter bei, sondern garantiert eine 24/7-Performance, welche sich auch wirtschaftlich trägt.

Podiumsdiskussion

Der Nachmittag begann mit einer Podiumsdiskussion unter der Leitung von Dr. Günter Ullrich, Unternehmensberater aus Voerde sowie Gründer und Geschäftsführer des Forum-FTS. Eugen Vogt (Daimler AG), Andreas Forster (MLR System), Stefan David (Siemens AG) und Dr. Hubertus Wabnitz (EK-Automation) diskutierten engagiert und zuweilen durchaus kontrovers über „Schlüsselfaktoren für erfolgreiche FTS-Projekte“.

Die beiden Vertreter der FTS-Hersteller Forster und Dr. Wabnitz leiteten aus ihrem Erfahrungsschatz Empfehlungen für Endanwender ab. Sie gaben Hinweise für eine erfolgreiche Planung und Projektleitung, wobei Andreas Forster die Bedeutung der offenen Zusammenarbeit zwischen Kunden und Lieferant betonte. Dr. Wabnitz ging auf das ganzheitliche Verständnis der Logistikaufgabe ein und zeigte auf, dass immer häufiger eine dynamische Simulation zur Planung dazugehört. Dr. Ullrich moderierte die Runde und verwies auf die besondere Bedeutung eines möglichst genauen und lückenlosen Lastenheftes.

Die beiden Vertreter der großen FTS-Anwender brachten völlig neue Aspekte in die Diskussion. Eugen Vogt erklärte, dass die zukünftigen Aufgaben für die Fördertechnik-Planungen in Kombination mit den riesigen Umfängen neue Wege bei der Planung und eine nie dagewesene Flexibilität bei den Herstellern verlange. So könne es sein, dass während der Planung noch gar nicht im Detail feststehe, welche Güten und welche Mengen zu transportieren seien. Die genaue Bestimmung von Fahrzeugtypen, Materialflüssen und Lastaufnahmepunkten würde sich erst im Laufe des Projektes ergeben und wahrscheinlich mehrfach ändern – und trotzdem müssten die FTS-Lösungen termingerecht umgesetzt werden. Die Hersteller haben mit dieser neuen Sichtweise heute noch ihre Probleme.

Stefan David bestätigte diese Aussagen und begründete sie mit der zukünftigen Vielfalt von Automatisierungslösungen. So müssen Fahrzeuge unterschiedlicher Hersteller für unterschiedlichste Transportgüter zusammen funktionieren. Der Mischbetrieb mit Staplern und anderen Transportmitteln muss noch selbstverständlicher werden und die Flexibilität bei Nutzungsänderungen der Produktionsflächen muss vorbehaltlos möglich sein. Dabei komme es aber auch auf sehr gute Projektteams an, die vor allem in der IT kompetent sein müssen.

Von den Diskussionsteilnehmern wurden einerseits möglichst exakte Spezifikationen zu Beginn des Projektes als ein Schlüsselfaktor für ein erfolgreiches FTS-Projekt genannt, andererseits aber von den FTS-Lieferanten gefordert, zukünftig auch bei lückenhaften Lastenheften verlässliche Partner für die großen Anwender zu sein. Dr. Ullrich machte deutlich, dass aufgrund dieser neuen Anforderungen große Veränderungen auf die FTS-Welt zukommen werden. Diese Veränderungen betreffen die Rolle der klassischen FTS-Hersteller, die Anbieterszene an sich und die Standardisierung im Bereich der Leitsteuerung. Die lebhafte und kurzweilige Podiumsdiskussion wird vielen noch lange in Erinnerung bleiben.

Flexible Materialversorgung per FTF

Kata Simon ist Projektleiterin bei der Audi AG im ungarischen Györ, wo seit kurzem die Materialversorgung einer Montagelinie für Pkw-Dieselmotoren durch 22 Unterfahr-FTF der Firma Grenzebach übernommen wird. Ziel der Logistikplanung war es, eine innovative und flexible Materialversorgung einzuführen, die in die vorhandene Werkstruktur integrierbar ist. Fünf verschiedene Materialversorgungsmethoden wurden – abhängig von den Verpackungskonzepten der Materialen und der Kundenwünsche – mit technischen Innovationen eingeführt. Dazu war es erforderlich, fünf Lastaufnahmekonzepte zu entwickeln und in Serie einzusetzen. Die Fahrzeuge fahren in jeder Schicht ca. 100 km und erledigen dabei 345 Transporte aus zwei verschiedenen Hallen an die Montagelinie. Besonders innovativ ist auch ein gemeinsam mit Grenzebach entwickeltes Verkehrskonzept, durch das die Fahrzeuge einander unter bestimmten Randbedingungen überholen können.

FTF-System in mehreren Stufen ausgebaut

Im anschließenden Vortrag von Dr. Matthias Wiegand, stellvertretender Leiter der Logistikplanung am Standort Kassel der Volkswagen AG, wurde ebenfalls eine FTS-Anlage in der Automobilindustrie vorgestellt. Auch hier werden Unterfahr-FTF – in Summe 18 Stück des Lieferanten DS Automotion – zur Linienversorgung eingesetzt.

Beginnend im Jahr 2012 wurde in mehreren Stufen ein FTS aufgebaut, das elf Beladestationen aus einem Leergutspeicher automatisch mit Behältern für die Formhärteteile versorgt und die befüllten Behälter zur Versandanlage bringt. Alle Behälter werden auf einheitlichen Untersatzwagen bewegt, das Transportvolumen beträgt bis zu 800 Behälter je Tag. Die FTF befahren einen ca. 800 m langen Rundkurs, auf dem sie mithilfe von Magnetpunkten navigieren. Die NiCd-Batterien der Fahrzeuge werden bei jedem Umlauf an automatischen Ladestationen nachgeladen. Hervorzuheben ist, dass der Fahrkurs eine ampelgesteuerte Kreuzung enthält, die vom FTS geschaltet wird und so kreuzende Fremdverkehre bei Passage eines FTF anhält. Weiter ist das System an die Brandmeldeanlage angeschlossen, sodass die FTF im Alarmfall Flucht- und Rettungswege räumen können.

Automatisierte Hochhubwagen optimieren Materialfluss

Im letzten Vortrag des Tages erläuterte Carlos Ramos, Head of Supply Chain Management bei der Continental Automotive am Standort Dortmund, die „Materialflussoptimierung durch die Einführung eines FTS für den Palettentransport“. Im Werk Dortmund werden Kraftstofffördermodule, Füllstandsensoren und weitere Standardkomponenten der Division Powertrain hergestellt. Die FTF – automatisierte Hochhubwagen der Fa. Linde – dienen zum Palettentransport innerhalb der Produktion und hin zum Versandbereich sowie zum Transport von Leergut zurück in die Produktion. Als Navigationsmethode kommt die Umgebungsnavigation (also ohne Reflektoren, Magnetstreifen oder andere Bodeninstallationen) zum Einsatz, neben dem Automatikbetrieb ist durch einfaches Herunterklappen der Deichsel ein manueller Betrieb des Gabelhubwagens weiterhin möglich.

Nach einer Installationszeit von ca. 3 Wochen wird nun der komplette Palettentransport von zwei Fahrzeugen in 18 Schichten je Woche übernommen. Die Einführung des FTS diente im Übrigen gleichzeitig als Pilotprojekt für die Entwicklung von Standards bei der Einführung von FTS für den Palettentransport konzernweit bei Continental.

Vielfältige Einsatzgebiete in unterschiedlichen Branchen

Die insgesamt sechs Vorträge „aus der Praxis für die Praxis“, in denen aus Betreibersicht konkrete Fahrerlose Transportsysteme vorgestellt wurden, haben erneut gezeigt, welch vielfältige Einsatzfelder in den unterschiedlichsten Branchen möglich sind und welche Optimierungspotenziale sich im innerbetrieblichen Materialfluss durch FTS realisieren lassen. Die überaus lebendige Podiumsdiskussion hat gezeigt, in welch aufregenden Zeiten sich die automatisierte Intralogistik befindet. Die sich stark verändernden Anforderungen der großen Märkte und die enorme Nachfrage nach FTS erzeugt schon jetzt Vorfreude auf die nächste FTS-Fachtagung im Herbst nächsten Jahres.

Von Dipl.-Ing. Thomas Albrecht, Dr.-Ing. Günter Ullrich

Dipl.-Ing. Thomas Albrecht - Leiter Fahrerlose Transportsysteme am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, Dortmund.
Dr.-Ing. Günter Ullrich - Er ist Berater und Planer im Bereich Fördertechnik, Materialfluss, Logistik sowie Leiter des VDI-Fachausschusses FA 309 „Fahrerlose Transportsysteme (FTS)“, Geschäftsführender Gesellschafter des Forum-FTS (www.forum-fts.com) mit Sitz inVoerde sowie Autor der FTS-Fibel (www.fts-fibel.de). Zudem ist er Mitglied des Beirates der VDI-Gesellschaft Produktion und Logistik (GPL), Düsseldorf.