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Fachtagung „Fahrerlose-Transportsysteme (FTS)“ 2020 18.11.2020, 10:53 Uhr

Digitales Spitzentreffen der FTS-Branche

Unter dem Motto „FTS-Projekte im Spannungsfeld von Innovation, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit“ fand am 23. September die diesjährige FTS-Fachtagung mit mehr als 200 Teilnehmern am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund statt. Allerdings coronabedingt nicht als Präsenzveranstaltung, sondern rein digital.

Spannende Vorträge rund um das Thema "Fahrerlose Transportsysteme" wurden während der 15. FTS-Fachtagung geboten - erstmalig nicht als Präsenzveranstaltung sondern rein digital. Foto: panthermedia.net/chesky_w

Spannende Vorträge rund um das Thema "Fahrerlose Transportsysteme" wurden während der 15. FTS-Fachtagung geboten - erstmalig nicht als Präsenzveranstaltung sondern rein digital.

Foto: panthermedia.net/chesky_w

Bei der 15. FTS-Fachtagung – zum inzwischen fünften Mal in Dortmund ausgerichtet – war Vieles völlig anders als in den Vorjahren: kein Get-together am Vorabend, keine persönlichen Gespräche in den Pausen und auch keine tagungsbegleitende Fachausstellung. Im Hörsaal fast keine Zuhörer, dafür viel Technik, um die live gehaltenen Vorträge und die 1,5-stündige Podiumsdiskussion ins Internet zu streamen. Nach der Begrüßung der Tagungsteilnehmer im Firmen- oder Home-Office durch Dr. Günter Ullrich, Vorsitzender des VDI-Fachausschuss 309 – Fahrerlose Transportsysteme als fachlicher Träger der Tagung, machte Prof. Michael ten Hompel, geschäftsführender Institutsleiter des Fraunhofer IML, mit seinem Impulsvortrag „Innovationen in der Intralogistik“, den Auftakt. Er spannte einen weiten Bogen von Cloud Computing über Digital Platforms, Mobile Apps und Websites hin zu Big Data und dem Forschungsprojekt Silicon Economy und erläuterte die Bedeutung und das Potenzial aktueller technischer Entwicklungen, insbesondere KI-basierter Technologien, für die Intralogistik. Anhand konkreter Beispiele und Entwicklungen des Instituts wie dem LoadRunner, Lokalisierungsverfahren mit Bodenkameras und einem KI-basierten Routing-Algorithmus für autonome mobile Roboter zeigte er den aktuellen Stand von Forschung & Entwicklung. Er endete mit dem dringenden Appell – nicht nur an die Firmen der Logistik-Branche – die anstehenden Entwicklungsaufgaben nicht allein, sondern in Partnerschaften anzugehen, um bei begrenzten Personalressourcen schnell und rechtzeitig und andererseits mit vertretbarem Kostenaufwand Ergebnisse zu erzielen. Als ein geeignetes und zunehmend in der Industrie akzeptiertes Mittel zur Erreichung der Ziele nannte Prof. ten Hompel Open Source Software und erläuterte dazu die Ziele der Open Locistics Foundation.

Integration eines FTS in eine Möbelproduktionsanlage

Maximilian Held, Solution Portfolio Manager bei der Homag Automation GmbH in Lichtenberg, einem Hersteller von komplett integrierten Fertigungssystemen für die Möbelindustrie, stellte in seinem Vortrag die Vorteile des Einsatzes von Fahrerlosen Transportfahrzeugen in der Möbelproduktion vor. Diese Industrie zeichnet bereits jetzt ein hoher Automatisierungsgrad bei Bearbeitung und Handling aus. Die Verkettung der Maschinen erfolgt aber noch weitgehend durch konventionelle, d. h. fest installierte Stetigförderer. Der Einsatz von FTF bietet dagegen eine deutliche Steigerung der Flexibilität bei den Materialtransporten, was beispielsweise kurzfristige Änderungen in Bearbeitungsreihenfolgen und insgesamt Produktionsprozesse mit dem Ziel „Losgröße 1“, der sich aus immer individuelleren Kundenwünschen ableitet, ermöglicht. Unterfahr-FTF des Herstellers Grenzebach in drei unterschiedlichen Größen- und Tragfähigkeitsklassen sowie das zugehörige FTS-Leitsystem gehören nun seit zwei Jahren zum Liefer- und Angebotsspektrum von Homag.

Rohmaterialversorgung einer Spritzgießfertigung mittels FTF

In einem Doppelvortrag berichteten Jochen Zimmer, Leiter des Industrial Engineering bei der A. Raymond GmbH in Weil am Rhein, und sein Mitarbeiter Julian Keller, über die Planung und Einführung eines FTS des Herstellers Agilox in der Ver- und Entsorgung von Kunststoff-Spritzgießmaschinen. Im Rahmen eines Erweiterungsprojektes der Kunststofffertigung wurde ein vollständig neuer Ansatz verfolgt, bei dem vorab kommissionierte Trocknungsbehälter in maschinennahe Behälterhubs vollautomatisch gekoppelt werden. Neben der Neuentwicklung einer entsprechenden Anlagentechnik lag die Herausforderung in der Automatisierung von Transport und Kopplungsvorgang mittels FTF. Dabei stellten die lokalen Bedingungen im Werk sehr spezifische Anforderungen: Die engen Raumverhältnisse mit Fahrwegen unter 1,6 m Breite in den bestehenden Werksteilen erfordern sehr präzise Fahrmanöver, es sind Stockwerkswechsel – mittels automatischer Lastenaufzüge – erforderlich, es sind viele unterschiedlich gestaltete Ladungsträger mit Lastgewichten bis zu einer Tonne zu transportieren, und es gibt eine Mischnutzung der Verkehrswege durch Mitarbeitende sowie Gabelstapler. Die eingesetzten Agilox-FTF navigieren mittels Umgebungsnavigation sehr präzise im Sub-Zentimeterbereich, und die Organisation der drei Fahrzeuge erfolgt auf innovative Weise durch Schwarmintelligenz, d. h. ohne eine zentrale FTS-Leitsteuerung, wie sie klassischerweise eingesetzt wird. Die gezeigten Videos aus der Produktionshalle bewiesen eindrucksvoll, wie gut diese Lösung zu den Anforderungen passt und über wieviel Autonomie die Fahrzeuge bereits verfügen, um z. B. „Nahezu-Deadlock-Situationen“ bei extremer räumlicher Enge selbstständig aufzulösen.

Innerbetriebliche Transporte von Glas- und Keramikprodukten mittels FTF

Ein FTS, bestehend aus drei Eigenbau-Gegengewichtstaplern des Hersteller DS Automotion, stellte Philipp Hübner, Automatisierungsingenieur beim Spezialglashersteller Schott AG in Mainz. vor. Seit Mitte 2018 werden dort FTF für den innerbetrieblichen Transport von Rungen und Transportpaletten für Glas‐ und Keramikprodukte eingesetzt. Dies schließt das automatische Stapeln und Entstapeln der Transportbehälter bis zu einer Höhe von vier Behältern ein. Um diese Stapelvorgänge sicher und mit hoher Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit durchführen zu können, sind die Fahrzeuge mit einer Seitenschubgabel ausgerüstet sowie mit umfangreicher und präziser Messtechnik für die Fahrzeugpositionierung und Ladungsträgervermessung. Aufgrund der hohen Anforderungen an die Wiederhol- und Positioniergenauigkeit bei Lastaufnahme und -abgabe war im Projektverlauf auch eine Sanierung bzw. Aufbereitung des Fußbodens erforderlich. Hübners Fazit fiel komplett positiv aus, d. h. alle Projektziele wurden im gesteckten Zeit- und Budgetrahmen erreicht, und das FTS läuft im 24/7-Betrieb zur völligen Zufriedenheit des Betriebs.

Retrofit eines Fahrerlosen Transportsystems

Im letzten Vortrag erläuterte Markus Schmitt, Leiter der Betriebs- und Anlagentechnik bei der Rhenus LMK GmbH in Köln, wie ein Fahrerloses Transportsystem von einem Firmenstandort zu einem anderen umzog und einer neuen Nutzung zugeführt wurde. Als industrieller Dienstleister bietet Rhenus LMK seinen Kunden aus der Automobil- und Automobilzulieferindustrie unter anderem die Planung und Implementierung von technisch anspruchsvollen Montageprozessen und Materialflusskonzepten (Just-In-Time- bzw. Just-In-Sequence-Versorgung) in der Aggregate-Fertigung, im Presswerk sowie in der Endmontage. An einem Kundenstandort in Köln wurde ein Altsystem, dessen Verfügbarkeit aus diversen Gründen stark reduziert war, durch ein System aus 83 FTF ersetzt, die allerdings nicht fabrikneu waren, sondern bereits zwei Jahre an einem Standort in Belgien im Einsatz gewesen waren. Der Lieferant MLR System passte die Fahrzeuge in einigen Details an die Anforderungen des neuen Einsatzfalls an und ermöglichte dadurch eine wirtschaftlich attraktive Nach- bzw. Neunutzung der Fahrzeugflotte. Die Inbetriebnahme aller Fahrzeuge, des induktiven Energieversorgungssystems, der in Teilen neuen optischen Spurführung sowie der Programmierung aller Abläufe in der Fertigungslinie musste und konnte in einer 3-wöchigen Betriebspause des Automobilherstellers erfolgreich durchgeführt werden.

Podiumsdiskussion

Der Nachmittag begann mit einer Podiumsdiskussion unter der Leitung von Dr. Günter Ullrich, Gründer und Geschäftsführer des Forum-FTS. Andreas Drost, Geschäftsführer MLR System, Ludwigsburg, und Vorstand in der Fachabteilung FTS im VDMA- Fachverband Fördertechnik und Intralogistik, Franz Humer, Geschäftsführer AGILOX, Vorchdorf (A), Dr. Michael Möllerfeld, Geschäftsführer AmmiCon, Wolfsburg sowie Marco Prüglmeier, Projektleiter „Innovation und Industrie 4.0 Logistik“ bei der BMW AG in München, diskutierten engagiert und durchaus kontrovers über die standardisierte Kommunikationsschnittstelle nach VDA 5050 und die Frage „Fluch oder Segen für die FTS-Branche?“

Dr. Ullrich ordnete zunächst das Themas in die aktuelle Diskussion ein: Klassischerweise besteht ein FTS aus einer FTS-Leitsteuerung und den fahrerlosen Fahrzeugen. Unter der FTS-Leitsteuerung versteht man eine zentrale Software, die Transportaufträge an die Fahrzeugflotte verteilt und das FTS in die innerbetrieblichen Abläufe integriert. Also empfängt sie von einer übergeordneten Instanz (z. B. Produktionsplanungssystem, Materialflussrechner) die Transportaufträge (Hole von – Bringe nach) und sorgt dafür, dass diese ordentlich verwaltet und von ausgewählten Fahrzeugen erledigt werden. Darüber hinaus stecken in dieser Leitsteuerung noch eine Fülle von Servicefunktionen zur Modellierung, Visualisierung, Statistik, Emulation etc. Mit WLAN ist dann die Fahrzeugflotte mit dieser FTS-Leitsteuerung verbunden.

Bis vor kurzem war klar, dass man als Kunde das FTS komplett bei einem FTS-Lieferanten kaufte. Alle wesentlichen Komponenten eines FTS ließ man vom FTS-Hersteller konzipieren, technisch auslegen, liefern und in Betrieb nehmen. Damit war auch klar, wer die Verantwortung für die Qualität, die Leistung und Verfügbarkeit trug trägt: Der FTS-Hersteller stellt sicher, dass seine Produkte, also seine proprietäre Leitsteuerung mit seinen FTF harmonieren und zu der Aufgabenstellung passen.

Automobilhersteller sind die größten FTS-Kunden

Nun hat diese Methode auch Nachteile. So ist der Kunde von einem FTS-Lieferanten abhängig, von seinem Know-how, von seinem Goodwill, seinem Produktspektrum und seiner Preispolitik. Technisch anspruchsvoll wird es, wenn man in einer Halle, also auf einem Hallenlayout mehr als ein FTS betreiben möchte, die von verschiedenen FTS-Lieferanten kommen. Dann müssen Schnittstellen, also Sonderlösungen her. Die Automobilhersteller waren immer schon die größten FTS-Kunden und haben vermehrt mit diesen Themen zu tun: Mehrere FTS-Lieferanten in einem Werk, mehrere FTS-Leitsteuerungen angebunden an das ERP-System, viel Aufwand für den reibungslosen Betrieb der Anlagen und viele Abhängigkeiten von den FTS-Herstellern.

Der VDMA hat sich vor diesem Hintergrund vor vier Jahren des Themas angenommen: Man hat eine Fachabteilung FTS eingerichtet und zusammen mit dem VDA an der Standardisierung der Kommunikationsschnittstelle zwischen der FTS-Leitsteuerung und den Fahrzeugen gearbeitet. Das derzeit aktuelle Ergebnis ist die Version 1.1 der VDA 5050 mit Stand vom Juni 2020.

In der Podiumsdiskussion sollte geklärt werden, was diese VDA 5050 kann und wie sie von verschiedenen Seiten eingeschätzt wird. Ganz maßgeblich war dabei die Frage, ob die Aufteilung der Lieferkomponenten Leitsteuerung und Fahrzeuge auf unterschiedliche Lieferanten Auswirkungen auf die FTS-Projekte haben wird. Was es also bedeutet, wenn die Leitsteuerung von IT-Abteilungen oder IT-Firmen programmiert wird und die Fahrzeuge ganz beliebig, gerne auch in China, eingekauft werden können.

FTS-Welt wird bunter

Die Diskussion dauerte 90 Minuten, in denen die Experten genügend Zeit und Gelegenheit hatten, ihre unterschiedlichen Positionen zu erläutern. Sie machte klar, dass die FTS-Welt bunter wird und sich neu erfinden muss. Neben den etablierten Herstellern, die mit ihrer FTS-Kompetenz in der Lage sind, vollständige FTS-Lösungen zu liefern, wird es viele zum Teil neue Anbieter geben, die sich auf Teillösungen wie z. B. Fahrzeuge, Leitsteuerungen oder technische Komponenten und Systeme beschränken. Es wurde deutlich, dass in dem Maße, wie neue Spieler Marktanteile erobern, die Verantwortung des FTS-Betreibers ebenfalls steigt.

Wenn nach der Inbetriebnahme des FTS der Gefahrenübergang vom FTS-Lieferanten auf den FTS-Betreiber stattfindet, übernimmt der Betreiber die Verantwortung für den Betrieb der Anlage. Das war nach bewährtem Strickmuster allerdings einfacher, weil der FTS-Hersteller – wenn er die komplette Anlage konzipiert und geliefert hat – mit seiner Risikobeurteilung maximale Vorarbeit geleistet hat. Wenn der Betreiber sich zukünftig auf die neuen Angebote und Wege einlässt, muss er einerseits vertraglich aufpassen und außerdem seine Gefährdungsanalyse mit noch mehr Sorgfalt und eigener Kompetenz durchführen.

Eine Mitschrift der gesamten Podiumsdiskussion zum Download findet sich https://www.fts-fachtagung.org/.

Vielfältige Einsatzgebiete in unterschiedlichen Branchen

Die insgesamt vier Vorträge „aus der Praxis für die Praxis“, in denen aus Betreibersicht konkrete Fahrerlose Transportsysteme vorgestellt wurden, haben erneut gezeigt, welch vielfältige Einsatzfelder in den unterschiedlichsten Branchen möglich sind und welche Optimierungspotenziale sich im innerbetrieblichen Materialfluss durch FTS realisieren lassen. Die überaus lebendige Podiumsdiskussion hat deutlich gemacht, in welch aufregenden Zeiten sich die automatisierte Intralogistik befindet. Die sich stark verändernden Anforderungen der großen Märkte und die enorme Nachfrage nach FTS erzeugt schon jetzt Vorfreude auf die nächste FTS-Fachtagung im Herbst 2022.

Vorankündigung

Die 16. FTS-Fachtagung wird am 21. September 2022 erneut am Fraunhofer IML in Dortmund stattfinden – dann hoffentlich wieder als Präsenzveranstaltung. Bereits am 22. September 2021 findet in der Filderhalle in Leinfelden-Echterdingen das 9. „Technologieforum Fahrerlose Transportsysteme (FTS) und mobile Roboter“ statt, organisiert durch das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart.

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Von Thomas Albrecht und Dr. Günter Ullrich