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Stahlguss 14.04.2025, 12:00 Uhr

Forschenden gelingt Fortschritt für Sicherheit, Nachhaltigkeit und Effizienz in der Bauteilfertigung

Ein neu entwickelter austenitischer Stahlguss mit TRIP/TWIP-Effekt vereint höchste Festigkeit mit exzellenter Verformbarkeit – ideal für Automobilbau, Luftfahrt, Medizintechnik und Bauwesen. Energieeffiziente Kaltumformung und nachhaltige Legierungsbestandteile machen den Werkstoff auch ökologisch und wirtschaftlich attraktiv.

Bei Gebirgsankern kann ins Sicherungsnetz stürzendes Gesteinsmaterial zu Schäden im Anker führen. Bei der untersuchten, kaltumgeformten Legierung bewirkt diese Belastung eine erneute Verfestigung des Materials. Foto: Fraunhofer IWU

Bei Gebirgsankern kann ins Sicherungsnetz stürzendes Gesteinsmaterial zu Schäden im Anker führen. Bei der untersuchten, kaltumgeformten Legierung bewirkt diese Belastung eine erneute Verfestigung des Materials.

Foto: Fraunhofer IWU

Das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) und die TU Bergakademie Freiberg haben gemeinsam eine neuartige Stahlgusslegierung entwickelt, die neue Maßstäbe für Sicherheit und Ressourceneffizienz in industriellen Anwendungen setzt. Der kaltumformbare, kupferlegierte austenitische Stahlguss nutzt den kombinierten TRIP/TWIP-Effekt, um eine bislang einzigartige Kombination aus hoher Festigkeit und plastischer Verformbarkeit zu erreichen. Die Innovation stellt einen bedeutenden Fortschritt in der Stahlwerkstoffforschung dar und bietet vielseitige Einsatzmöglichkeiten in sicherheitskritischen Bereichen.

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TRIP-/TWIP-Effekt: Schlüsselmechanismus für hochfeste und duktile Stahlgusslegierungen

Im Zentrum der Entwicklung steht der TRIP-/TWIP-Effekt – ein Phänomen, das die mechanischen Eigenschaften der Legierung maßgeblich beeinflusst. TRIP steht für „Transformationsinduzierte Plastizität“, TWIP für „Zwillingsinduzierte Plastizität“. Beide Mechanismen bewirken eine gezielte Mikrostrukturveränderung unter mechanischer Belastung, die sowohl Festigkeit als auch Duktilität des Stahls erhöht.

  • TRIP-Effekt: Unter Last wandelt sich ein Teil des austenitischen Gefüges in martensitische Strukturen um. Dies führt lokal zu einer Verfestigung und erhöht die Rissresistenz.
  • TWIP-Effekt: Die Bildung von Verformungszwillingen im Gefüge führt ebenfalls zu einer signifikanten Zähigkeitssteigerung.

„Durch die Kombination dieser beiden Effekte wird die Festigkeit des Werkstoffes signifikant erhöht und das Bauteilversagen unter dynamischer Belastung verzögert. Zudem verbessern sich das Umformvermögen und das Energieaufnahmevermögen im Falle eines Aufpralls erheblich“, erläutert Nadine Lehnert, die am Fraunhofer IWU die Projektleitung im DFG-geförderten Forschungsvorhaben „Kaltumformung von Stahlguss“ übernommen hat.

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Prozessroute zur Herstellung von kaltumgeformten TRIP/TWIP-Bauteilen

Die Fertigung des neuartigen TRIP/TWIP-Stahlgusses erfolgt über eine innovative Prozesskette der Kaltmassivumformung. Ausgangspunkt ist eine grobkörnige, austenitische Struktur, die durch mechanische Umformung gezielt verändert wird:

  • 1.) Das Werkstück wird in einer Fließpressmatrize im Durchmesser reduziert.
  • 2.) Die entstehenden Spannungen induzieren eine teilweise martensitische Umwandlung.
  • 3.) Eine anschließende Wärmebehandlung führt zur Rückverwandlung in Austenit und reduziert die Korngröße.
  • 4.) Bei erneuter Belastung können Anrisse auftreten, die jedoch durch martensitische Umwandlung gestoppt werden – das Bauteil versagt nicht, sondern verfestigt sich weiter.

Diese kontrollierte Mikrostrukturentwicklung bildet die Grundlage für Bauteile mit erhöhter Festigkeit und gleichzeitig verbesserter Energieaufnahme.

Herstellung von Verbindungselementen aus Drahthalbzeugen: Gegenüber der herkömmlichen Prozesskette entfallen durch die Kaltmassivumformung die Schritte Warmwalzen (2), Wärmebehandlung (3), Entzundern (4) und Kaltziehen/-walzen auf Endmaß (5).

Foto: Fraunhofer IWU/Freepik

Einsatzbereiche für den TRIP/TWIP-Stahlguss mit sicherheitskritischem Anforderungsprofil

Durch seine hohe Festigkeit, Bruchsicherheit und Kaltumformbarkeit eignet sich der innovative TRIP/TWIP-Stahlguss besonders für Anwendungen mit extremen mechanischen und sicherheitstechnischen Anforderungen:

  • Automobilindustrie: Anwendung bei Crashabsorbern, Fahrwerkselementen, Karosserieteilen und Schrauben – überall dort, wo es auf Crashverhalten und Energieaufnahme ankommt.
  • Luft- und Raumfahrt: Strukturkomponenten und Befestigungselemente profitieren von dem Verhältnis zwischen Gewicht, Festigkeit und Duktilität.
  • Medizintechnik: Verwendung für Implantate und chirurgische Werkzeuge durch hohe Biokompatibilität und mechanische Stabilität.
  • Bauwesen und Infrastrukturbau: Der Werkstoff eignet sich für hochbelastete Verankerungssysteme wie Gebirgsanker, Tunnelbefestigungen oder tragende Brückenkomponenten.

Die neue Legierung zeigt ihre Vorteile überall dort, wo eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen mechanische Extrembelastung gefordert ist.

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Energieeffiziente Kaltumformung ersetzt energieintensive Warmprozesse

Ein zentraler Vorteil des neuen Werkstoffs ist seine Eignung für die energieeffiziente Kaltmassivumformung. Im Gegensatz zu klassischen Warmumformungsverfahren erlaubt dieser Prozess die Bauteilherstellung bei Raumtemperatur. „Die Prozesskette der Kaltumformung ist deutlich kürzer und effizienter. Wir beginnen mit einem vorgegossenen Werkstück, das dann direkt umgeformt wird. Dadurch entfallen zahlreiche energieaufwendige Schritte wie das Erwärmen, Walzen und Entzundern, die bei der Warmumformung erforderlich sind“, erklärt Lehnert.

Die Möglichkeit, Stahlguss kalt umzuwandeln, reduziert nicht nur den Energieverbrauch, sondern verbessert auch die Materialausnutzung und minimiert Prozessverluste.

Nachhaltigkeit durch Materialsubstitution und Energieeinsparung

Neben den mechanischen und verfahrenstechnischen Vorteilen adressiert die neue Stahllegierung auch zentrale Aspekte der Nachhaltigkeit:

  • Ressourcenschonung: Die teilweise Substitution von Nickel durch Kupfer senkt nicht nur die Materialkosten, sondern reduziert auch den Bedarf an kritischen Rohstoffen.
  • Gesundheitsschutz: Die Verarbeitung der kupferbasierten Legierung bringt geringere gesundheitliche Risiken mit sich.
  • CO2-Reduktion: Durch Wegfall energieintensiver Fertigungsschritte sinkt der Gesamtenergieverbrauch signifikant.
  • Kosteneffizienz: Die schlanke Prozesskette, reduzierter Gasverbrauch und optimierte Ressourcennutzung führen zu einer nachhaltigen Senkung der Produktionskosten.

Diese Kombination macht den TRIP/TWIP-Stahlguss nicht nur technologisch interessant, sondern auch wirtschaftlich und ökologisch wettbewerbsfähig.

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Forschungsperspektiven: Optimierung von Umformprozessen und Materialeigenschaften

Die am Fraunhofer IWU erzielten Ergebnisse bilden die Grundlage für eine gezielte Weiterentwicklung des Umformverhaltens und der Werkstoffcharakteristik. Ziel der zukünftigen Arbeiten ist es, die Materialparameter noch besser steuerbar zu machen und die industrielle Fertigung weiter zu optimieren. „Unser Ziel ist es, die Potenziale des TRIP/TWIP-Effekts voll auszuschöpfen und die wirtschaftliche Herstellung von hochleistungsfähigen Bauteilen für eine Vielzahl von Anwendungen zu ermöglichen“, so Lehnert.

Von Text: Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU)/ RMW