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Richtlinienreihe VDI 6010 01.03.2018, 00:00 Uhr

Sicherheitstechnische Anlagen

Bei der Planung, Errichtung und im Gebäudebetrieb gab es bisher keine Vorgaben zur Standardisierung von Brandfallmatrizen oder zur Ausprägung von Übertragungswegen nach dem „Koppler“ der Brandmeldeanlage. Auch hinsichtlich möglichen Standardisierungen und Umfängen von Gebäudetests oder der Ausprägung von technischen Anlagen in Gebäuden in Verbindung mit funktionaler Sicherheit nach DIN EN ISO 61508 fehlten in der Vergangenheit eindeutige Direktiven. Die Überarbeitung der Richtlinienreihe VDI 6010 soll diese Lücken schließen.

Bild: panthermedia.net/franckito

Bild: panthermedia.net/franckito

Für den Nutzer soll ein Gebäude „nicht spürbar“ funktionieren. Er möchte es lediglich seiner Bestimmung gemäß nutzen. Was einfach klingt, erfordert jedoch effektive Bauprozesse und stetige Kontrollen, die die beschriebenen Ziele im Fokus haben. Eine Vielzahl von technischen Systemen sind in der Nutzfläche (also im Raum) um den Menschen herum installiert, um für ihn die ideale Umgebung mit hoher Behaglichkeit zu gewährleisten.

Nutzer in ihrer Umgebung mit technischen Systemen. Bild: Balow

Nutzer in ihrer Umgebung mit technischen Systemen. Bild: Balow

Gebäudefunktionen bestehen aus normalen Nutzungsfunktionen und Sicherheitsfunktionen, die für die Nutzungsfreigabe zwingend erforderlich sind.

Gebäudefunktionen. Bild: Balow

Gebäudefunktionen. Bild: Balow

Beide sind für die behagliche und bestimmungsgemäße (normale Nutzungsfunktionen) sowie die genehmigte Nutzung (erforderliche Sicherheitsfunktionen) eines Gebäudes vollumfänglich einzuhalten.

Um diese Gesamtfunktionalität zu erreichen, ist eine Vielzahl von Gewerken zur Bereitstellung der Funktionen beteiligt. So existieren für den normalen Nutzungsfall und den Sicherheitsfall zahlreiche Schnittstellen zwischen den Gewerken.

Beispiel für das Zusammenwirken von Teilsystemen im Gebäude innerhalb eines Gesamtsystems. Bild: Balow

Beispiel für das Zusammenwirken von Teilsystemen im Gebäude innerhalb eines Gesamtsystems. Bild: Balow

Die Gebäudefunktionen sowie die Schnittstellen sollten dabei so einfach wie möglich und nur so komplex wie nötig ausgeprägt sein.

Gefahrenfallmatrizen – die neue VDI 6010 Blatt 1

Um die notwendigen Funktionen in den Schnittstellen zu planen, zu errichten und zu prüfen wurden in der neuen VDI 6010 Blatt 1 (der Entwurf ist 11/ 2017 erschienen) standardisierte Matrizen entwickelt. Diese Matrizen werden im fortlaufenden Planungsprozess erweitert und fortgeschrieben, so dass sie als Grundlage für den Prüfplan gemäß VDI 6010 Blatt 3 dienen können.

Von der Risikoanalyse über die Gefahrenfallsteuermatrix bis zum Prüfplan. Bild: VDI 6010 Blatt 1; Wiedergegeben mit Erlaubnis des Vereins Deutscher Ingenieure e.V.

Von der Risikoanalyse über die Gefahrenfallsteuermatrix bis zum Prüfplan. Bild: VDI 6010 Blatt 1; Wiedergegeben mit Erlaubnis des Vereins Deutscher Ingenieure e.V.

Mit diesem Standardisierungsvorschlag für Gefahrenfallmatrizen ist die durchgängige Verfeinerung der Darstellung von Steuerungszusammenhängen für alle Gefahrenfälle möglich. Die Fortschreibung bis hin zu einem Prüfplan für den Prüfsachverständigen im Rahmen von Prüfungen nach Prüfverordnung ist mit diesem Vorschlag problemlos möglich.

Wechselwirkungen und Übertragungswege – VDI 6010 Blatt 2

Der vorliegende Weißdruck der VDI 6010 Blatt 2 beschreibt mögliche Wechselwirkungen von sicherheitstechnischen Anlagen in einem Gebäude/ Bauwerk und gibt Hinweise zum Aufbau von Übertragungswegen zwischen Brandmeldeanlagen und anderen sicherheitstechnischen Anlagen ergänzend zur DIN 14674 und VDE 0833.

Schema zur Auswahl des Übertragungsweges in Anlehnung an DIN 14674 (STE: elektrische Steuerrichtung, ÜW: Übertragungsweg). Bild: VDI 6010 Blatt 2; Wiedergegeben mit Erlaubnis des Vereins Deutscher Ingenieure e.V.

Schema zur Auswahl des Übertragungsweges in Anlehnung an DIN 14674 (STE: elektrische Steuerrichtung, ÜW: Übertragungsweg). Bild: VDI 6010 Blatt 2; Wiedergegeben mit Erlaubnis des Vereins Deutscher Ingenieure e.V.

Die Ausprägung von Übertragungswegen nach dem „Koppler“ der Brandmeldeanlage ist nach Erscheinen der VDI 6010 Blatt 2 in der Branche ausgiebig diskutiert worden, da dieses Richtlinienblatt erstmalig die Anforderungen an Übertragungswege über den „Koppler“ der Brandmeldeanlage hinaus betrachtet und wo dieser am besten zu installieren ist. Anforderungen gab es bis zum Zeitpunkt des Erscheinens des Richtlinienblattes nur bei Sprachalarmierungs- und Löschanlagen.

Vollprobetest – die neue VDI 6010 Blatt 3

Um ein Gebäude aufgrund der Baugenehmigung der Nutzung zuführen zu dürfen, ist die fehlerfreie Funktion aller Sicherheitsfunktionen für die Nutzungsfreigabe eine zwingende Notwendigkeit. Bauordnungsrechtliche Sicherheitsfunktionen sind zum Beispiel Szenen nach einem Brandereignis. Diese Szenen – und Szenen anderer Gefahrenfälle – können im Rahmen des Vollprobetests als Prüfszenario nach VDI Richtlinie 6010 Blatt 3 getestet werden. Die Nichtfunktion eines solchen Prüfszenarios kann im Gefahrenfall Folgen für „Leib und Leben“ nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) Paragraf 823 haben: „(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. (2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.“

Bauordnungsrechtliche Sicherheitsfunktionen müssen fehlerfrei sein und werden unter anderem im Rahmen von Prüfungen für die Nutzung notwendiger Funktionen auf ihre Funktion geprüft und die Ergebnisse dabei dokumentiert.

Mögliche Bestandteile eines Vollprobetests. Bild: Balow

Mögliche Bestandteile eines Vollprobetests. Bild: Balow

Im Gebäude sind neben den für die Nutzung notwendigen Sicherheitsfunktionen auch Funktionen vorhanden, die bauordnungsrechtlich nicht gefordert, für die Nutzung oder dem Nutzer des Gebäudes aber wichtig sind. Dies sind Funktionen im normalen Nutzungsfall des Gebäudes.

Alle normalen Nutzungsfunktionen sind nicht nur ein Wunsch, sondern gehören nach Abstimmung über Art und Umfang mit dem Bauherrn zum Inhalt der Planungsleistung der Fachplaner. Sie sind als Beschreibung des Leistungssolls des Bauunternehmers ein Bestandteil im Bauvertrag.

Eine Teilmenge von Nutzungsfunktionen können für den Nutzer oder Eigentümer sehr wichtige Funktionen sein. Zum Beispiel müssen in Einkaufszentren Kassensysteme eine unterbrechungsfreie Stromversorgung besitzen und bei Glasfassaden der Sonnenschutz oder auch Systeme, die für die Behaglichkeit im Gebäude verantwortlich sind, funktionstüchtig sein. Wenn also einem Nutzer spezielle Funktionen in einem Gebäude sehr wichtig sind, sollten diese auch, im Zuge eines Tests, geprüft werden.

Die tägliche Praxis zeigt, dass die Sicherstellung der Funktionen nicht von allein vorhanden ist. Um die für die Nutzung erforderlichen Sicherheits- und die normalen Nutzungsfunktionen in einem Gebäude ab der Errichtung über den gesamten Lebenszyklus zu gewährleisten, ist eine stetige und durchgehende Kontrolle der Planungsschritte, der Bauausführung und der Funktion in der Nutzung notwendig.

Allgemeine Lebenszyklusphasen von Gebäuden. Bild: Balow

Allgemeine Lebenszyklusphasen von Gebäuden. Bild: Balow

Diese Kontrolle muss Gewerke übergreifend stattfinden, da die Funktionen nicht nur durch ein Gewerk realisiert werden. Den Mittelpunkt für das Zusammenspiel der Gewerke zu übergreifenden Funktionen bilden meist für die bauordnungsrechtlichen Sicherheitsfunktionen die Brandmeldeanlage und für die normalen Nutzungsfunktionen die Gebäudeautomation. Auch autarke Anlagen – sowohl bauordnungsrechtlich erforderliche Anlagen als auch Anlagen für die normalen Nutzungsfunktionen – können Teile des geforderten Zusammenspiels (Szenario) sein, indem sie:

  • Funktionen vollständig erfüllen,
  • nur eine Meldung eines vorgelagerten Systems bekommen (zum Beispiel Feststellanlagen von Türen) oder eigenständig innerhalb des Gebäudes bauordnungsrechtliche Funktionen wahrnehmen (zum Beispiel Sprinkleranlagen ohne Vorsteuerung).

Ohne die ständige periodische Überprüfung, ob die geforderten Zusammenhänge zwischen den Gewerken die gewünschte Funktionalität im Gebäude erreichen, wird das Ziel des Nutzers – eine mangelfreie Gebäudefunktionalität – nicht erreicht. Diese Funktionsnachweise können durch einen Vollprobetest gemäß VDI 6010 Blatt 3 durchgeführt und dokumentiert werden.

Um den genannten Anforderungen gerecht zu werden, wurde im Blatt 3 der VDI 6010 der Begriff „Vollprobetest“ entwickelt, der alle für die Nutzungsfreigabe geforderten und weitere Prüfungen, zum Beispiel für den Nutzer wichtige Tests (für die „normalen Nutzungsfunktionen“), beinhaltet. Der Vollprobetest ist ein über alle Gewerke greifender Funktionsnachweis für sicherheitsrelevante Anlagen oder Anlagen mit hohem Verfügbarkeitsanspruch sowie Anlagen mit benutzerspezifischen Anforderungen. Das Richtlinienblatt empfiehlt einen vereinheitlichten Prüfablauf und eine für jedes Bauvorhaben und Gebäude vereinheitlichte Dokumentation dieser Prüfungen.

Das Blatt 3 der Richtlinienreihe VDI 6010 gibt Eigentümern und Nutzern ein Werkzeug in die Hand, Gebäude standardisiert auf Funktionsfähigkeit zu prüfen und eine einheitliche Dokumentation über die Funktionsfähigkeit zu erhalten.

Nur ein durchgehender Kontrollprozess und die Prüfung der Gebäudefunktionen vor der Nutzung sichert die fehlerfreie Funktion des Gebäudes. Die Dokumentation dieser Prüfung ist für den Nutzer und Betreiber eine wesentliche Grundlage, das Gebäude zu nutzen und zu betreiben. Bei Änderungen der Nutzung in Gebäudeteilen können auf Grundlage der vorgenannten Dokumentation alle notwendigen Informationen in die bestehende Dokumentation übernommen werden, so dass wieder eine fehlerfreie und aktuelle Grundlage für die Nutzung und den Betrieb vorhanden ist. Es wird empfohlen, alle Prüfungen nach erster Nutzungsübernahme – wiederkehrend beziehungsweise nach Änderungen- nach VDI 6010 Blatt 3 festzuhalten, um eine einheitliche und fortgeschriebene Dokumentation für das Gebäude zu erhalten.

SIL in Anlagen der Technischen Gebäudeausrüstung – die neue VDI 6010 Blatt 4

Die DIN EN 61508 bietet einen Ansatz zur Risikobeurteilung und zum notwendigen Nachweis der Wirksamkeit von sicherheitsgerichteten Anlagen. Sie definiert vier Sicherheitsstufen: SIL1 bis SIL4 (SIL bedeutet Safety Integrity Level). Diese Risikobeurteilung wird auch in der Technischen Gebäudeausrüstung bei komplexen sicherheitstechnischen Systemen angewendet.

Da bei der Verwendung eine Vielzahl von anerkannten Regeln der Technik, Verordnungen etc. je nach Anforderung an die technische Anlage berücksichtigt werden müssen, wurde das Blatt 4 der Richtlinienreihe VDI 6010 entwickelt. Diese VDI-Richtlinie bietet Werkzeuge und Methoden an, mit denen eine solche Risikobewertung in Gebäuden durchgeführt werden kann.

Risikominimierung Bild: Balow

Risikominimierung Bild: Balow

Sie ist eine Konkretisierung zur DIN EN 61508, um eine Risikobewertung in Gebäuden anzuwenden und zu vereinheitlichen. Darüber hinaus sind für sicherheitstechnische Anlagen in der TGA bauordnungsrechtliche Anforderungen zu beachten, für deren Berücksichtigung diese Richtlinie wichtige Hinweise gibt. Das Blatt 4 der Richtlinienreihe VDI 6010 wird voraussichtlich im 3. Quartal 2018 als Gründruck erscheinen.

Durchgängige Prozesse – Nutzen für alle

Die Richtlinienreihe VDI 6010 stellt für die Planung, die Errichtung und den Betrieb Werkzeuge und Hilfsmittel zur Verfügung, die am Ende eine vollständige Dokumentation der Gebäudefunktionen sicherstellt. Anwendung und Umsetzung nutzen allen Beteiligten, vor allem einem zufriedenen Nutzer und Eigentümer.

 

 

Literatur:

[1] Geprüfter Gebäudenutzen. CCI 03/2017, S. 12-14

[2] Gebäude vor ihrer Nutzung testen, In: TAB 11/2013.

[3] Balow, J., Borrmann, D., Ernst,A., Lucka, F. (2015): Wirk- Prinzip- Prüfungen und Vollprobetest für Gebäude. Kommentar zu VDI 6010 Blatt 3. Beuth Verlag GmbH, Berlin.

[4] Systeme der Gebäudeautomation. 9/2016, cci Dialog GmbH.

[5] Komplex heißt nicht kompliziert, In: IKZ Fachplaner 10/ 2016, S. 12-14.

[6] VDI 6010 Blatt 3 (2015), Sicherheitstechnische Einrichtungen für Gebäude – Vollprobetest und Wirkprinzipprüfung, Beuth Verlag GmbH, Berlin.

Von Jörg Balow

Jörg Balow VDI, Associate Director, Arup Deutschland GmbH, Berlin. Autor der Bücher „Systeme der Gebäudeautomation“, „Kommentar zu VDI 6010 Blatt 3“ und „Kommentar zu DIN 18386 VOB Teil C für Gebäudeautomation“ sowie langjähriger Schulungsleiter beim VDI Wissensforum. Vorsitzender der VDI-Richtlinien 6010 Blatt 1 bis Blatt 4 und VDI 3814 Blatt 4.1. Er ist Mitglied im Fachbeirat TGA sowie im Fachausschuss Elektrotechnik und Gebäudeautomation des VDI und Beiratsmitglied der Gesundheitstechnischen Gesellschaft in Berlin.