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100. Geburtstag von Heinrich Stratmann 14.09.2023, 15:07 Uhr

Mit einem Koffer auf dem Eiffelturm

Am 14. September 2023 wäre Heinrich Stratmann, langjähriger stellvertretender Vorsitzender der Kommission Reinhaltung der Luft, 100 Jahre alt geworden. Als Experte für Gasanalytik stellte er mit den von ihm verantworteten Begasungsversuchen eine Dosis-Wirkungs-Beziehung her, die den Einfluss von Schadgasen, insbesondere Schwefeldioxid, auf das Pflanzenwachstum betraf. Für seine Arbeiten wurde er vielfach geehrt.

Heinrich Stratmann. Foto: LANUV NRW

Heinrich Stratmann.

Foto: LANUV NRW

Ausbildung und akademischer Weg

Heinrich Stratmann (siehe Bild) wurde am 14. September 1923 in Bochum geboren. Nach Abschluss der Volksschule absolvierte er beim damaligen Benzolverband eine Ausbildung zum Chemie­laboranten. Danach begann er ein Studium der Chemie an der Ingenieurschule in Essen. Dieses konnte er nicht beenden, da er zunächst zum Reichsarbeitsdienst und danach zur Wehrmacht eingezogen wurde. Eine schwere Kriegsverletzung, ein Kniegelenkdurchschuss, den er 1943 in Russland erlitt, machte Heinrich Stratmann dauerhaft wehruntauglich, sodass er sein Studium wieder aufnehmen und beenden konnte. Parallel dazu erwarb er in einem Abendlehrgang das Abitur. Bereits vor der offiziellen Wiederinbetriebnahme der Ingenieurschule nach Ende des Krieges wurde Stratmann als Lehrkraft eingestellt. Neben seiner Lehr­tätigkeit in Essen studierte er von 1947 bis 1951 Chemie an der Technischen Hochschule Aachen und promovierte dort 1955 [1]. Ab 1969 nahm er einen Lehrauftrag an der Ruhr-Universität Bochum an und wurde dort 1973 zum Honorarprofessor ernannt. Er starb im Juli 2002 in seinem 79. Lebensjahr.

Der Weg an die Spitze des Landesamtes für Immissionsschutz

Auf Initiative von Dr. Fritz Gummert, dem späteren Vorstandssprecher der Ruhrgas AG, wurde 1946 in Essen der Verein „Kohlenstoffbiologische Forschungsstation“ gegründet, der in Essen ansässig war und im Wesentlichen von der Ruhrgas AG finanziert wurde [2]. Heinrich Stratmann wurde 1950 Leiter der chemischen Abteilung des Vereins, ab 1956 unterstand ihm dann die gesamte Einrichtung. 1960 wurde er Leiter des neu gegründeten Forschungsinstituts für Luftreinhaltung. Mit der Vereinigung des Instituts mit der in Bochum ansässigen Landesanstalt für Bodennutzungsschutz zur Landesanstalt für Immissions- und Bodenschutz (LIB) des Landes Nordrhein-Westfalen im Dezember 1963 [1] wurde Stratmann deren stellvertretender Direktor und Leiter der Abteilung Luftüberwachung. 1970 wurde er Präsident dieser Einrichtung, die 1976 zur Landesanstalt für Immissionsschutz (LIS) umfirmierte, und blieb es bis an sein Dienstzeitende im Jahr 1988. Während seiner aktiven Zeit sorgte er dafür, dass durch die Veröffentlichung zahlreicher Publikationen, die von ihm und seinen Mitarbeitern erarbeiteten Forschungsergebnisse einem großen Kreis an Interessierten zugänglich gemacht wurden.

Fachmann für Gasanalytik

Heinrich Stratmann war ein begnadeter Umweltmesstechniker. Er schaffte es, die Nachweisgrenzen für die Immissionsmessung von Schwefeldioxid um Größenordnungen nach unten zu verschieben. Furore machte er bereits 1954 mit dem vorgestellten „Stratmann-Koffer“. Dieser etwas klobig wirkende Apparat war ein mobiles Messgerät zur Immissionsmessung von Schwefel­dioxid. Damit konnte die Immissionssituation vergleichsweise einfach an Stellen erfasst werden, die vorher nicht beachtet wurden oder schwer zugänglich waren. So waren beispielsweise Messungen unter anderem auch auf dem Kölner Dom und dem Pariser Eiffelturm möglich [3].

Ehrenamt

Am 7. November 1955 konstituierte sich der VDI-Ausschuss „Reinhaltung der Luft“. In diesem nahm er die Obmannschaft des Unterausschusses „Richtlinien für Messung von Gaskonzentrationen und Niederschlägen“ wahr [1]. Als auf der 16. Sitzung des Beirats der VDI-Fachgruppe „Staubtechnik“ am 15. März 1957 die Gründung einer eigenverantwortlichen Kommission Reinhaltung der Luft (KRdL) beschlossen wurde, war Heinrich Stratmann nicht mit dabei. Als sich aber am 2. Mai desselben Jahres der Arbeitsstab „Reinhaltung der Luft“ im VDI-Haus in Düsseldorf zu seiner ersten Sitzung traf, zählte er zu den anwesenden Mit­gliedern. Er war dabei nicht nur bedeutend jünger als viele seiner berufenen Fachkollegen, sondern gehörte auch zu den wenigen, die den Blick des Gremiums auf die Schadgase lenkten. Heinrich Stratmann wies schon frühzeitig darauf hin, dass die schädlichen Wirkungen von Rauchgasen auf Pflanzen von den gasförmigen Komponenten herrühren und nicht, wie bis dahin von weiten Teilen der Fachwelt angenommen, von den Partikeln. In einem Beitrag für die VDI-Zeitschrift aus dem Jahr 1958 veröffentlichte Heinrich Stratmann diese heutzutage beinahe selbstverständliche Information, sodass diese nicht nur die Luftreinhalteexperten, sondern alle VDI-Mitglieder lesen konnten [4].

Er war aktiv an der Erarbeitung zahlreicher technischer Regelwerke beteiligt, die zum Teil unmittelbar auf seinen Forschungsergebnissen beruhten. So wundert es nicht, dass Heinrich Stratmann 1966 sowohl Mitglied des Beirats als auch des Vorstands der KRdL wurde. Von 1973 bis 1988 war er dazu noch stellvertretender Vorsitzender.

Neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei der KRdL war Heinrich Stratmann auch für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) tätig.

Freilandversuch Biersdorf

Im Rahmen eines KRdL-Forschungsprogramms – unterstützt durch das Land Nordrhein-Westfalen – führte Heinrich Stratmann gemeinsam mit Forscherkollegen vor Ort Versuche durch, um Dosis-Wirkung-Beziehungen abzuleiten [5]. Das Gesamtprogramm war in zwei Abschnitte gegliedert. Zum einen wurden Forst- und Kulturpflanzen in Biersdorf untersucht, zum anderen wurden gleichartige Forst- und Kulturpflanzen im Labor ebenfalls mit Schwefeldioxid (SO2) begast. Ende der 1950er-Jahre wurden aus Schachtöfen der Eisenerzgrube Füsseberg in Biersdorf täglich ungefähr zehn Tonnen SO2 emittiert. Die Abgase wurden über acht niedrige Blechschornsteine in die Umgebung abgeleitet. Die Eisenerzgrube war im Untersuchungsgebiet die einzige Emissionsquelle von Belang, insbesondere, was den Ausstoß von SO2 betraf. Ziel war die Ableitung einer maximalen Immissionskonzentration, die für die betrachteten Pflanzen noch als tolerabel erachtet wurde [6].

Für die Vor-Ort-Untersuchung wurden insgesamt sechs standardisierte Stationen mit Nutzpflanzen und Forstgehölzen aufgestellt. Fünf davon befanden sich im Lee der Schachtöfen, die sechste war außerhalb davon und diente als Nullmessung, um andere Umwelteinflüsse ausschließen zu können. Die erfassten Immissionskonzentrationen im Lee der Schachtöfen bewegten sich auf sehr unterschiedlichem Niveau. So wurden SO2-Konzentrationen von 1 ppm bis 15 ppm gemessen [6]. Dementsprechend zeigten sich unterschiedliche Schadbilder an den in den Stationen enthaltenen Pflanzen bzw. keine Schädigung an den Pflanzen der Station, die als Nullmessung diente. Um aber exakte Dosis-Wirkungs-Beziehungen herzustellen, mussten Begasungsversuche durchgeführt werden.

Begasungsversuche

Die Begasungsversuche fanden in den Räumlichkeiten der Kohlenstoffbiologischen Forschungsstation statt. Das von Heinrich Stratmann und seinen Mitarbeitern erdachte System war sehr ausgeklügelt. So fand beispielsweise die Aussaat von Getreide zeitversetzt über mehrere Tage in derselben Neubauer-Schale statt, sodass die Keimlinge in unterschiedlichen Wachstumsperioden mit identischer Schadgaskonzentration begast wurden. Damit konnte er unter anderem feststellen, dass die Empfindlichkeit der Pflanzen gegenüber dem Schadgas von vielen Faktoren abhing. Eine Erkenntnis war, dass die untersuchten Pflanzen bei für ihr Wachstum optimalen physiologischen Bedingungen während eines Tages am empfindlichsten gegenüber SO2 waren; die Schadwirkung war somit tageszeitabhängig. Eine Begasung führte in bestimmten Wachstumsphasen der untersuchten Pflanzen zur Verzögerung ihres Wachstums. Auch führte dieselbe Gasmenge zu unterschädlichen Schädigungen, je nach Zeitpunkt der Begasung. Es konnte auch festgestellt werden, dass die Schadwirkung bei einer Pflanze von ihrer Wachstumsphase abhing. Darüber hinaus wurde beobachtet, dass eine gute Nährstoffversorgung die Resistenz gegenüber SO2 steigerte. Ebenso war eine Überver­sorgung mit Wasser nachteilig für die Resistenz.

Heinrich Stratmann konnte auch Unterschiede zwischen Konzentrationen und Frachten beobachten. Bestimmte Gaskonzentrationen führten zum Totalverlust, auch wenn sie nur kurzzeitig erfolgten. Die gleiche Fracht über einen längeren Zeitraum verteilt konnte hingegen ohne unmittelbar sichtbare Folgen bleiben.

Auch Aussagen zur Fortpflanzungsfähigkeit der begasten Pflanzen konnte Heinrich Stratmann beobachten. Mit der Erkenntnis, dass Wild- und Honigbienen Gebiete mit höherer SO2-Beaufschlagung mieden, war es allein nicht getan. Die Begasung führte auch zu einer Schädigung der Pollen [7].

Würdigungen

Heinrich Stratmanns Verdienste um die Luftreinhaltung wurden vielfach gewürdigt. Mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande 1973 und dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse 1980, dem Internationalen Rheinlandpreis für Umweltschutz des TÜV Rheinland 1976 sowie der VDI-Ehrenmedaille 1978 und dem VDI-Ehrenzeichen 1989. Letzteres wird seit 1931 – dem 75-jährigen Vereinsjubiläum – für Verdienste auf dem Gebiet der technisch-wissenschaftlichen Gemeinschaftsarbeit vergeben und fügt Heinrich Stratmann in eine Reihe mit Technikgrößen wie Axel Fredrik Enström, August Horch, Adolf Messer, Otto Petersen oder Carl Sulzer-Schmid ein [8].

Danksagung

Der Autor dankt dem Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW für die Bereitstellung von Literatur und Bildmaterial.

Literatur

  1. Beier, E.: Heinrich Stratmann 14.9.1923–9.7.2002. In: Ingenieur forum Westfalen-Ruhr. Nr. 3/2002, 2002, S. XV.
  2. Koch, E.: Der Weg zum blauen Himmel über der Ruhr, VGB-Kraftwerkstechnik GmbH, Essen 1983, S. 18.
  3. Stiftung Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Unser Land – 75 Jahre Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2021 ISBN 978-3-9823564-0-2, S. 59.
  4. Stratmann, H.: Staub- und Gasimmissionen von Kohlefeuerungen, ihr Einfluss auf die Vegetation und ihre Messung, VDI-Z. 100 (1958), Nr. 4, 1. Februar 1958, S. 132.
  5. Guderian, R.; Stratmann, H.: Freilandversuche zur Ermittlung von Schwefeldioxydwirkungen auf die Vegetation. 1. Teil: Übersicht zur Versuchsmethodik und Versuchsanordnung. Forschungsberichte des Landes NRW Nr. 1118, Westdeutscher Verlag, Köln 1962.
  6. Spiegelberg, F.: Reinhaltung der Luft im Wandel der Zeit, VDI-Verlag, Düsseldorf 1984, S. 62-64.
  7. van Haut, H.; Stratmann, H.: Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung von Schwefeldioxyd auf die Vegetation, Westdeutscher Verlag, Köln 1960.
  8. Verein Deutscher Ingenieure (Hrsg.): Mitglieder-Verzeichnis 1954. Hoppenstedts Wirtschaftsverlag, Essen 1954.
Von C. Sager

Dr.-Ing. Christoph Sager,
Verein Deutscher Ingenieure (VDI), Düsseldorf.