Neue Materialklasse bricht alte physikalische Grenzen
Forschende entwickeln erstmals eine Flüssigkeit, die zugleich magnetisch und elektrisch reagiert – und das stabil bei Raumtemperatur.
Dr. Hajnalka Nádasi, Alexander Jarosik und Prof. Alexey Eremin (von links nach rechts) von der Abteilung Nichtlineare Phänomene der Uni Magdeburg im Labor. Sie haben eine neue Materialklasse entwickelt, die zugleich magnetisch und elektrisch reagiert.
Foto: Uni Magdeburg / Jana Dünnhaupt
Manche Entdeckungen klingen im ersten Moment verwirrend. Eine Flüssigkeit, die gleichzeitig magnetisch und elektrisch geordnet ist, gehört sicher dazu. Physikerinnen und Physiker der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg haben genau das geschafft – sie sprechen von „multiferroischen Flüssigkeiten“. Damit ist es ihnen gelungen, zwei eigentlich unvereinbare Welten zu verbinden: Magnetismus und elektrische Polarisation in einem flüssigen Medium.
Dr. Hajnalka Nádasi, die das Projekt gemeinsam mit Prof. Alexey Eremin leitet, beschreibt es so: „Dass sich in einem flüssigen System stabile magnetische und elektrische Zustände gleichzeitig bilden können, galt lange als nahezu ausgeschlossen.“
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Was steckt dahinter?
Multiferroische Materialien sind keine völlige Neuheit – bisher kannte man sie allerdings nur in fester Form, etwa bei speziellen Kristallen. Sie vereinen mindestens zwei sogenannte ferroische Eigenschaften. Zum einen Ferromagnetismus: Ein Material bleibt auch ohne äußeres Magnetfeld magnetisch. Zum anderen Ferroelektrizität: Eine Substanz kann dauerhaft elektrische Ladung speichern, ähnlich wie ein winziger Kondensator.
In Flüssigkeiten ist das normalerweise unmöglich, weil ihre Moleküle zu ungeordnet sind. Die Magdeburger Forschenden lösten dieses Problem, indem sie zwei ganz unterschiedliche Komponenten miteinander kombinierten: eine ferroelektrische Flüssigkristallphase und winzige ferrimagnetische Plättchen aus Bariumhexaferrit. Das Ergebnis: eine stabile Flüssigkeit, in der elektrische und magnetische Ordnung gleichzeitig auftreten – und das bei Raumtemperatur.
Ein Hybrid, der beides kann
Im Labor mischte das Forschungsteam die magnetischen Nanoplättchen in die Flüssigkristallmatrix. Die winzigen Teilchen lagern sich dabei selbstorganisiert in der geordneten Struktur des Flüssigkristalls an. So entsteht ein hybrides Material, das auf Magnetfelder reagiert und zugleich elektrische Polarisation zeigt.
Die Mischung verhält sich dabei keineswegs träge. Legt man ein Magnetfeld an, richten sich die magnetischen Plättchen aus – und das beeinflusst gleichzeitig die elektrische Ordnung in der Flüssigkeit. Umgekehrt erzeugt eine elektrische Spannung messbare magnetische Effekte. Damit wird sichtbar: Magnetismus und Elektrizität sind hier direkt gekoppelt.
Strom aus dem Magnetfeld
Besonders eindrucksvoll wird das im Experiment. Fährt ein kleiner Magnet über eine Probe dieser Flüssigkeit, registrieren Elektroden plötzlich einen Strompuls. Rotiert das Magnetfeld, fließt der Strom rhythmisch mit – ganz so, als würde die Flüssigkeit die Bewegung in elektrische Signale übersetzen.
Dreht man die Richtung des Magnetfelds um, kehrt sich auch die Polarität des Stroms um. Das zeigt, dass es sich nicht um einen zufälligen Effekt handelt, sondern um eine echte magnetoelektrische Kopplung.
Der umgekehrte Weg funktioniert ebenfalls: Legt man eine elektrische Spannung an, entsteht ein messbares Magnetfeld. Noch ist das Signal klein, aber eindeutig vorhanden. Damit ist erstmals eine wechselseitige Wirkung in einem flüssigen System nachgewiesen.
Eine fließende Struktur
Unter dem Mikroskop zeigt sich das Innere der Hybrid-Flüssigkeit wie ein feines Fadennetz. Es besteht aus winzigen Linien, sogenannten Disclinationen, in denen sich die magnetischen Nanoplättchen bevorzugt sammeln. Verändert man das elektrische oder magnetische Feld, ordnet sich dieses Netz neu – ein faszinierendes Schauspiel, bei dem sich ganze Bereiche der Flüssigkeit bewegen, verdrehen und wieder stabilisieren.
Solche selbstorganisierten Strukturen machen die Flüssigkeit nicht nur besonders flexibel, sondern auch reparaturfähig. Sie kann kleine Störungen selbst ausgleichen, ohne an Funktion zu verlieren – ein Vorteil, den feste Materialien kaum bieten.
Energieeffizient und vielseitig
„Weil flüssigkristallbasierte Systeme nur sehr wenig Energie benötigen, könnten sie künftig zu energieeffizienteren Materialien und Komponenten beitragen“, erklärt Dr. Nádasi.
Tatsächlich sind die potenziellen Anwendungen vielfältig. In der Sensorik könnten die empfindlichen Flüssigkeiten Magnetfelder sichtbar machen, die bisher unterhalb der Nachweisgrenze lagen. In der Aktorik – also bei Materialien, die sich unter Einfluss von Feldern bewegen – eröffnen sie neue Möglichkeiten für weiche Roboter oder adaptive Oberflächen. Auch in der Photonik, wo Licht mit elektrischen oder magnetischen Signalen gesteuert wird, sind Einsatzszenarien denkbar.
Entstanden ist die neue Materialklasse in enger Zusammenarbeit mit dem Jožef-Stefan-Institut in Ljubljana, der Technischen Universität Braunschweig und Merck Electronics in Darmstadt. Das Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt und ist Teil einer Initiative, die Studierenden Einblicke in aktuelle Materialforschung gibt.
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