Bauen mit Bakterien: Werkstoff lebt und speichert CO₂ doppelt
ETH-Forschende entwickeln ein lebendes Baumaterial, das CO₂ durch Algen bindet – als Biomasse und in Form von stabilen Mineralien.

3D-gedruckte „Ananas“, in deren Innern Blaualgen wachsen, nach einer Entwicklungszeit von 60 Tagen. Die grüne Farbe stammt vom Chlorophyll der photosynthetischen Bakterien.
Foto: Yifan Cui / ETH Zürich
Gebäude bestehen traditionell aus toten Materialien – Beton, Stahl, Ziegel. Doch was wäre, wenn ein Baustoff leben könnte? Forschende der ETH Zürich haben genau das realisiert. Sie entwickelten ein Material, das nicht nur passiv verbaut wird, sondern aktiv am Stoffwechsel der Umwelt teilnimmt: Es bindet CO₂ aus der Luft.
Im Innern des Materials arbeiten mikroskopisch kleine Cyanobakterien – auch Blaualgen genannt. Diese Mikroorganismen gehören zu den ältesten Lebensformen der Erde und nutzen seit Milliarden Jahren Photosynthese, um Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu ziehen. Genau diese Eigenschaft macht sie für die Baubranche interessant.
Inhaltsverzeichnis
Das Prinzip der doppelten Kohlenstoffbindung
Im Unterschied zu rein biologischen Materialien geht dieses neuartige System noch einen Schritt weiter. Das CO₂ wird nicht nur als Biomasse gespeichert – also in Form wachsender Zellen –, sondern zusätzlich chemisch gebunden: Die Cyanobakterien verändern durch Photosynthese ihre Umgebung so stark, dass sich Karbonate wie Kalk ablagern. Diese festen Mineralien speichern Kohlenstoff besonders langfristig.
„Das Material speichert Kohlenstoff doppelt – in lebender Biomasse und in Form stabiler Mineralien“, sagt Professor Mark Tibbitt, der an der ETH Zürich den Bereich Makromolekulares Engineering leitet und das Projekt mitentwickelt hat.
Laborversuche zeigen: Ein Gramm des neuen Werkstoffs kann über 26 Milligramm CO₂ binden – ein Großteil davon mineralisch. Zum Vergleich: Viele andere biologische Ansätze bleiben weit darunter. Selbst Recyclingbeton, der CO₂ durch chemische Prozesse bindet, erreicht meist nur 7 Milligramm pro Gramm.
Hydrogel als Lebensraum
Damit die Cyanobakterien im Innern des Baustoffs überleben, betten die Forschenden sie in ein sogenanntes Hydrogel ein – ein wasserreiches, transparentes Gel auf Polymerbasis. Es sorgt dafür, dass Licht, Wasser, CO₂ und Nährstoffe zu den Mikroorganismen gelangen. Gleichzeitig bleibt das Material formstabil genug, um 3D-gedruckt zu werden.
Durch gezielte Materialentwicklung und optimierte Geometrien konnten die Wissenschaftler:innen das Innenleben so gestalten, dass die Mikroorganismen über lange Zeit aktiv bleiben. Die Strukturen sind porös, lichtdurchlässig und nutzen Kapillarkräfte zur Verteilung von Flüssigkeiten. So bleiben die Blaualgen lebendig – über 400 Tage lang.
Co-Autorin Dalia Dranseike sagt: „Wir haben Strukturen entwickelt, die nur an wenigen Punkten mit Nährlösung in Kontakt stehen – und sie dann durch die gesamte Konstruktion leiten.“
Wie funktioniert das lebende Baumaterial?
Forschende der ETH Zürich haben ein Material entwickelt, das CO₂ aus der Luft bindet – mithilfe von Cyanobakterien. Es kombiniert biologische Prozesse mit 3D-Drucktechnik. Die wichtigsten Komponenten:
- Hydrogel: Ein wasserhaltiges Polymernetzwerk dient als Trägermaterial. Es lässt Licht, CO₂ und Nährstoffe durch und schützt die Mikroorganismen.
- Cyanobakterien: Auch bekannt als Blaualgen. Sie betreiben Photosynthese, wandeln CO₂ in Biomasse um und stoßen Mineralisierung an.
- Zweifache Kohlenstoffbindung: CO₂ wird sowohl in Biomasse gespeichert als auch in Form von Karbonat-Mineralien fixiert – dauerhaft und stabil.
- 3D-Druck: Das Material lässt sich formfrei drucken. Die Struktur wird so gestaltet, dass Lichtverteilung, Wassertransport und Nährstofffluss optimiert sind.
Ein Gramm Material kann rund 26 mg CO₂ speichern – deutlich mehr als viele andere biologische Ansätze.
Mehr als Laborforschung: Einsatz in der Architektur
Die Idee beschränkt sich nicht auf das Reagenzglas. Inzwischen erproben Architekt:innen das lebende Material bereits im Raummaßstab. Andrea Shin Ling, Doktorandin am Lehrstuhl für digitale Bautechnologien der ETH Zürich, hat es geschafft, die Laboransätze für eine Installation auf der Architekturbiennale in Venedig zu skalieren.
Im kanadischen Pavillon baute das Team zwei dreimeterhohe, strunkartige Objekte, die als CO₂-Senke dienen sollen. Dank der Cyanobakterien können sie jeweils bis zu 18 Kilogramm CO₂ pro Jahr aufnehmen – vergleichbar mit einer 20 Jahre alten Kiefer.
Ling betont: „Wir mussten den Raum so gestalten, dass Temperatur, Licht und Luftfeuchtigkeit passen. Die Cyanobakterien brauchen ein aktives Mikroklima.“
Auch auf der Triennale in Mailand kommt das Konzept zum Einsatz: Dort untersucht das Projekt „Dafne’s Skin“, wie sich mikrobielle Schichten auf Holzplatten entwickeln. Dabei entsteht eine Patina, die das Holz mit der Zeit verändert – sichtbar und CO₂-absorbierend.
Architektur als CO₂-Speicher?
Die langfristige Vision der Forschenden ist klar: Gebäude sollen sich künftig nicht nur durch eine gute Energiebilanz auszeichnen, sondern aktiv CO₂ aus der Luft entfernen. Dafür könnten lebende Materialien wie das Cyanobakterien-Gel eine entscheidende Rolle spielen – etwa als Fassadenbeschichtung oder als Teil der Gebäudehülle.
„Unser Ziel ist, Materialien zu entwickeln, die im Laufe ihrer Nutzungszeit netto Kohlenstoff speichern“, erklärt Professor Tibbitt. Der Baustoff der Zukunft soll also nicht nur möglichst emissionsfrei produziert werden – er soll zum Klimaschutz beitragen, während er bereits verbaut ist.
Dabei geht es nicht darum, konventionelle Materialien wie Beton oder Holz vollständig zu ersetzen. Vielmehr könnten lebende Materialien ergänzen – etwa als funktionale Schicht auf Bauteilen oder in Zwischenräumen. Sie wären damit Teil eines größeren Konzepts einer sogenannten biotischen Architektur, in der biologische Prozesse bewusst mit technischen Strukturen kombiniert werden.
Vorteile – und Herausforderungen
Das Potenzial dieser Idee ist groß. Aber es gibt auch noch einige Hürden auf dem Weg zur breiten Anwendung. Ein wichtiger Aspekt ist die Skalierbarkeit. Während sich im Labor kleine Mengen des Hydrogels einfach drucken und pflegen lassen, stellt der Einsatz in der Baupraxis andere Anforderungen.
So müssen die Strukturen über längere Zeiträume funktionieren – im Freien, bei wechselnden Temperaturen und unter UV-Einstrahlung. Auch die Langzeitpflege der Mikroorganismen ist noch nicht abschließend erforscht: Was passiert, wenn die Cyanobakterien absterben? Lassen sich sie reaktivieren oder ersetzen?
Ein weiterer Punkt betrifft die Sicherheit. Zwar gelten Cyanobakterien in dieser Form als unbedenklich, doch müssten Hersteller nachweisen, dass keine Gesundheitsrisiken für Menschen oder Umwelt bestehen – insbesondere bei großflächigem Einsatz an Fassaden oder im Innenraum.
Die Materialforscherin Dalia Dranseike sieht darin aber eher ein Lernfeld als ein Problem: „Je mehr wir über das Verhalten der Bakterien im realen Maßstab wissen, desto gezielter können wir die Geometrien, das Trägermaterial und die Umgebungsbedingungen anpassen.“
Von der Forschung in die Anwendung
Tatsächlich sprechen erste praktische Erfolge dafür, dass sich das Konzept weiterentwickeln lässt. Die Demonstrationen in Venedig und Mailand zeigen: Das Material lässt sich künstlerisch wie funktional einsetzen. Es verändert sich, reagiert auf die Umwelt – und bleibt dabei technisch kontrollierbar.
In der Architektur eröffnet dies neue Perspektiven: Bauwerke könnten künftig atmende, dynamische Systeme werden, in denen lebende Materialien mit den Nutzerinnen und Nutzern interagieren. Sie speichern CO₂, reagieren auf Licht und Temperatur – und könnten sogar Signale geben, wenn sich Umweltbedingungen ändern.
Gleichzeitig betonen die Forschenden, dass dies kein Ersatz für politische Maßnahmen oder CO₂-reduzierte Baustoffe sei. Vielmehr handle es sich um einen zusätzlichen, bioinspirierten Weg zur Dekarbonisierung des Bauens – mit viel Potenzial, aber auch mit notwendiger Sorgfalt.
Was bringt die Zukunft?
In der nächsten Projektphase soll das Material weiterentwickelt werden. So möchten die Wissenschaftler:innen untersuchen, wie es sich in bestehende Gebäudestrukturen integrieren lässt. Auch eine Kombination mit digitalen Technologien wie Sensorik oder automatischer Steuerung wird diskutiert – etwa zur Kontrolle von Licht, Feuchtigkeit oder Wachstum.
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt liegt in der Lebensdauer und Regeneration. Ziel ist, Materialien zu schaffen, die sich nach Schäden selbst erneuern oder nachwachsen können – ähnlich wie biologische Gewebe. Das wäre ein deutlicher Schritt in Richtung „bioaktiver Architektur“, bei der Gebäude lebendige Eigenschaften entwickeln.
Bis dahin braucht es jedoch noch Zeit – und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Chemie, Mikrobiologie, Architektur und Ingenieurwesen müssen weiter an einem Strang ziehen, um die Potenziale lebender Baustoffe in der Praxis zu heben.
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