X-Chromosom erwacht im Alter: Warum Frauen anders erkranken
Im Alter wird das zweite X-Chromosom bei Frauen teilweise aktiv. Neue Erkenntnisse zeigen mögliche Folgen für Gesundheit und Krankheitsverlauf.

Bei weiblichen Säugetieren ist in der Regel eines der zwei X-Chromosomen inaktiv und zu einem sogenannten Barr-Körperchen zusammengeschnürt. Das Bild zeigt einen Zellkern, in dem das Barr-Körperchen grün markiert ist.
Foto: Daniel Andergassen / TUM
Frauen und Männer erkranken im Alter unterschiedlich – das zeigen Statistiken zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen oder Demenz. Ein Forschungsteam der Technischen Universität München (TUM) hat nun einen möglichen biologischen Mechanismus entdeckt, der diese Unterschiede teilweise erklären könnte: Mit zunehmendem Alter wird das eigentlich stillgelegte zweite X-Chromosom bei Frauen wieder aktiv. Das verändert die Genaktivität – und möglicherweise auch die Krankheitsanfälligkeit.
Das X-Chromosom: Genetisches Gleichgewicht mit Nebenwirkungen?
Frauen tragen zwei X-Chromosomen, Männer nur eines. Damit sich die Genaktivität zwischen den Geschlechtern ausgleicht, wird bei weiblichen Embryonen eines der beiden X-Chromosomen frühzeitig deaktiviert. Es zieht sich zu einer dichten, inaktiven Struktur zusammen – dem sogenannten Barr-Körperchen. Jahrzehntelang nahm man an, dass diese Stilllegung dauerhaft und stabil sei.
Doch neue Forschungsergebnisse zeigen: Diese Ruhe ist nicht von Dauer. Mit dem Alter beginnt sich das Barr-Körperchen zu lockern – und mit ihm erwachen Gene, die eigentlich stumm bleiben sollten.
Studie mit Mäusen: Inaktive Gene kehren zurück
Für ihre Untersuchung analysierten die Forschenden der TU München verschiedene Organe weiblicher Mäuse in unterschiedlichen Altersstufen. Dabei stellten sie fest: Bei alten Tieren entkamen deutlich mehr Gene der X-Inaktivierung als bei jungen. Im Durchschnitt verdoppelte sich der Anteil dieser sogenannten „Escapee-Gene“ von etwa 3 % auf rund 6 %.
Besonders auffällig: In der Niere waren fast 9 % der Gene auf dem inaktiven X-Chromosom wieder aktiv. Vor allem an den Enden des Chromosoms, dort wo sich auch die Telomere befinden, öffnete sich das kompakte Erbgut. Der Alterungsprozess scheint das epigenetische Gedächtnis zu stören – das System, das normalerweise dafür sorgt, dass bestimmte Gene abgeschaltet bleiben.
Was bedeutet das für die Gesundheit von Frauen?
Viele der wieder aktivierten Gene stehen in Verbindung mit Krankheiten. So könnte das Gen TLR8, das eine Rolle im Immunsystem spielt, zur Entwicklung von Autoimmunerkrankungen wie Lupus beitragen – einer Erkrankung, die bei Frauen häufiger vorkommt. Ein anderes Beispiel ist das PLP1-Gen, das für die Myelinschicht von Nervenzellen wichtig ist und mit neurologischen Veränderungen assoziiert wird.
Einige Gene könnten jedoch auch schützend wirken: ACE2, das im Alter verstärkt in der Lunge aktiviert wird, könnte Lungenfibrose begrenzen. Die doppelte Genaktivität kann also je nach Situation positive oder negative Folgen haben.
Warum Männer anders altern
Männer besitzen nur ein X-Chromosom und sind somit nicht von einer Reaktivierung eines zweiten betroffen. Das bedeutet auch, dass sie keine Escapee-Gene vom Barr-Körperchen haben. Die altersabhängigen Unterschiede in der Genexpression zwischen Männern und Frauen könnten daher eine zentrale Rolle bei der unterschiedlichen Krankheitsentwicklung spielen.
Hormone allein reichen als Erklärung nicht aus
„Geschlechtsunterschiede bei altersbedingten Erkrankungen hat man bisher hauptsächlich mit Hormonen oder dem Lebensstil erklärt“, sagt Dr. Daniel Andergassen, der die Studie an der TUM geleitet hat. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass auch die Reaktivierung des X-Chromosoms im Alter ein möglicher Faktor ist.“
Laut Andergassen könnte diese Erkenntnis ein neuer Erklärungsansatz für die Frage sein, warum Frauen statistisch gesehen länger leben – aber auch häufiger von bestimmten Krankheiten betroffen sind.
Auch beim Menschen wahrscheinlich
Die Studie wurde an Mäusen durchgeführt. Doch das X-Chromosom ist bei Menschen ähnlich aufgebaut. Erste Daten deuten darauf hin, dass bis zu 23 % der Gene auf dem eigentlich inaktiven X-Chromosom auch beim Menschen reaktiviert werden könnten – mit starken Unterschieden zwischen verschiedenen Organen.
Bislang war es jedoch technisch schwierig, diese Reaktivierungen im menschlichen Gewebe genau zu messen. Die neuen Erkenntnisse aus der Mausforschung liefern nun eine Grundlage für weitere Untersuchungen am Menschen.
Fazit: Wenn das stille X wieder spricht
Das Barr-Körperchen ist im Alter nicht so ruhig, wie man lange dachte. Die Wiederaktivierung von Genen auf dem X-Chromosom könnte erklären, warum Frauen anders altern und andere Erkrankungen entwickeln als Männer. Für die medizinische Forschung ist das ein möglicher neuer Weg, um geschlechtsspezifische Therapien und Diagnosen weiterzuentwickeln.
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