Medikamentenmangel: EU-Rechnungshof schlägt Alarm
EU-Rechnungshof schlägt Alarm: Vor dem Winter fehlen 537 Medikamente in Deutschland. Und die EU-Mitgliedstaaten sehen tatenlos zu.
Medikamentenregal in einer Apotheke: Der EU-Rechnungshof hat Alarm geschlagen, vor dem Winter fehlen allein 537 Medikamente in Deutschland. Und die EU-Mitgliedstaten sehen tatenlos zu.
Foto: picture alliance / SvenSimon/Frank Hoermann
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Deutschland als Apotheke der Welt. Heute sind dies China und Indien mit fatalen Folgen für die Arzneimittelversorgung in Europa. Zu diesem Befund kommt der Europäische Rechnungshof (EuRH) in seinem am Mittwoch veröffentlichten Sonderbericht 19/2025 „Kritischer Arzneimittelengpass“.
Seit der Corona-Krise ist das Bewusstsein von eklatanter Arzneimittelknappheit bei den Gesundheitspolitikern in den 26 EU-Staaten zwar angekommen. Aber eine europäische Koordinierung ist wegen der nationalen Souveränität in der Gesundheitspolitik weiter Fehlanzeige. „Die EU braucht eine wirksame Lösung zur Behebung kritischer Engpässe. Dazu muss sie das Problem an der Wurzel packen“, mahnte der Berichterstatter des EU-Rechnungshofes, Klaus-Heiner Lehne, am Mittwoch vor der Presse weitgehende Reformen an. Die rechtlichen europäischen Rahmenbedingungen seien unzureichend und die bisher von der EU-Kommission eingeleiteten Gesetzesvorhaben vom Europäischen Parlament und den EU-Mitgliedstaaten noch nicht umgesetzt.
Kompetenzen der europäischen Arzneimittelbehörde nach Corona-Krise zurückgeschraubt
So habe die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) in der akuten Corona-Krise entscheidend zur Abfederung von Impfstoff- und Medikamentenengpässen beigetragen. Aber die der Behörde seinerzeit zugestandenen Kompetenzen seien inzwischen alle wieder kassiert. Denn die EU-Mitgliedstaaten pochten auf ihre nationalen Kompetenzen. Dies gehe, so Lehne, zulasten vor allem von Patienten mit chronischen Erkrankungen und auch in der Kinderheilkunde. Zu Engpässen kann es bei allen Arten von Arzneimitteln kommen, etwa bei neuartigen patentierten Arzneimitteln, patentfreien Generika und Impfstoffen, lautet der EuRH-Befund. Kritisch werde ein Engpass, wenn es in einem Land keine geeigneten Alternativen gebe und der Mangel nur mithilfe der EU beseitigt werden kann.
In der EU wurden die meisten Engpässe in den Jahren 2023 und 2024 gemeldet, wobei die EU-Länder zwischen Januar 2022 und Oktober 2024 bei 136 Arzneimitteln einen kritischen Mangel verzeichneten. In Deutschland wird der Engpass in der Versorgung angesichts des bevorstehenden Winters mit zu erwartenden erhöhten Influenza-Fällen mit derzeit 521 Medikamenten angegeben. Woran fehlt es in Deutschland insbesondere?
Welche Medikamente und Wirkstoffe sind derzeit von Lieferengpässen in Deutschland betroffen?
Bei den Schmerzmitteln werden hier z. B. Ibuprofen oder Naproxen genannt. Für Herz- und Kreislaufpatienten fehlt es an Blutdruckmitteln wie Valsartan oder Candesartan. In der Klasse Psychopharmaka werden Venlafaxin oder Fluoxetin knapp. Auf der „Short List“ finden sich des Weiteren die Blutdrucksenker Ramipril oder Magensäureblocker wie Pantoprazol.
In Deutschland lag im Oktober 2024 die Zahl der offenen Lieferengpassmeldungen bei über 500 Medikamenten und wird vor dem bevorstehenden Winter als weiter überdurchschnittlich hoch und besorgniserregend beziffert mit einem Mangelbedarf von mehr als 500 Wirkstoffen. „Arzneimittelengpässe können schwerwiegende Folgen für die Patienten haben, die öffentliche Gesundheit gefährden und sind für Ärzte, Apotheken und Länder mit hohen Kosten verbunden“, so Lehne.
Peter Liese: „Skandal für ein reiches Land und einen wohlhabenden Kontinent“
Dies bestätigt auch der CDU-Europaabgeordnete und Kinderarzt Peter Liese. Der gesundheitspolitische Sprecher der Europäischen Volksparteien (EVP) als größte Fraktion im EU-Parlament, wozu auch CDU/CSU zählen, macht sich seit Jahren für Abhilfe auf europäischer Ebene stark. „Wir brauchen in Deutschland und Europa ein klares Commitment der für das Gesundheitssystem Verantwortlichen, dass sich die Produktion in der Europäischen Union lohnt und dass es sich lohnt, den europäischen Markt mit Arzneimitteln zu beliefern. Es werden im Gesundheitssystem horrende Summen ausgegeben und auch für noch patentgeschützte oder durch Unterlagenschutz abgedeckte Arzneimittel sind die Kosten extrem hoch.
Eine deutliche Steigerung der Ausgaben für patentfreie Arzneimittel würde viele Probleme lösen und angesichts der anderen hohen Kosten kaum ins Gewicht fallen, glaubt Liese. Diese Entscheidungen müssten möglichst in allen europäischen Mitgliedstaaten, mindestens aber in den großen europäischen Mitgliedstaaten getroffen werden, mahnt Liese.
Berichterstatter Lehne: „Wir brauchen eine EU-Daten-Plattform über Verfügbarkeiten und Engpässe“
Diese Problematik bestätigt auch der EU-Rechnungshof. Die EU-Prüfer stellten fest, dass das System zur Verhinderung und Abfederung kritischer Arzneimittelengpässe verbessert werden muss, da die rechtlichen Rahmenbedingungen unzureichend sind und Informationen, die ein Eingreifen ermöglichen, nicht rechtzeitig vorliegen, heißt es im Report.
Die EMA habe in den vergangenen Jahren eine immer wichtigere Rolle gespielt, insbesondere während der Corona-Pandemie, und durch Koordinierung dazu beigetragen, die Auswirkungen von Engpässen zu verringern. Allerdings sei sie immer noch nicht rechtlich befugt, die EU-Länder auch jenseits von Gesundheitskrisen zu unterstützen. Zudem werde sie nicht ausreichend über Engpässe informiert, um diese verhindern zu können. Auch um bestehenden Engpässen laufend entgegenzuwirken, fehlten der EMA die nötigen Daten, da sie von der Pharmaindustrie häufig erst spät und nur unvollständig informiert werde.
Komplexität der globalen Lieferketten ist ein Problem
Die Datenlage ist das eine, die Preisgestaltung der pharmazeutischen Industrie sowie die Intransparenz unter den Mitgliedstaaten erschweren eine durchgreifende Verbesserung der Situation. Die Komplexität der weltweiten Lieferketten ist auch aus Sicht der Wissenschaft ein Problem.
So kommt Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie am Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, zu folgender Analyse: „Engpässe, Belieferung, Produktion, das ist ein sehr komplexes Geschehen. Wir sollten uns vor allem darauf konzentrieren, dass wir genügend Antiinfektiva und Onkologika haben. Wie wir das hinbekommen, ist kein einfaches Thema. Denn zum Beispiel Mittel wie Penicillin und Cephalosporine, die wir in großen Mengen bei Infektionen einsetzen, lassen sich noch relativ einfach herstellen, aber viele andere Antibiotika haben einen wesentlich komplexeren Herstellungsweg.“
Dies könnte eine neue Herausforderung für die europäische Arzneimittelhersteller bedeuten. Eine umfassende Unabhängigkeit Europas von den asiatischen Produktionsstätten in der Zukunft zu erreichen, sieht die Professorin allerdings nicht. „Ich glaube nicht, dass wir letzten Endes unabhängig werden von einem asiatischen Markt.“
EU-Parlament hat umfassenden Maßnahmenkatalog schon 2023 beschlossen, Umsetzung bisher mau
Das EU-Parlament hatte nach Anhörung von Experten bereits im Jahre 2023 einen umfassenden Maßnahmenkatalog beschlossen:
- Förderung von Rückverlagerungsaktivitäten und Genehmigung staatlicher Beihilfen (Steuervorteile und Finanzierung), um Firmen zur Betriebstätigkeit in Europa zu ermutigen,
- Priorisierung der Versorgungssicherheit in Ausschreibungsverfahren, überwacht von der EU-Kommission
- Schaffung einer europäischen Reserve von strategisch wichtigen Medikamenten
- Gemeinsame EU-weite Medikamentenbeschaffung zur Kostensenkung
- Erhöhung der Transparenz in der Verteilungskette durch zentralisiertes Management
- Echtzeitmanagement von Medikamentenbeständen in den Mitgliedstaaten
- Einführung vereinfachter Gesetzgebung und erleichterter Medikamententransport unter Mitgliedstaaten.
- Einführung innovativer digitaler Tools zum Informationsaustausch über Medikamenten- und Medizinproduktmängel in allen Mitgliedstaaten.
Inzwischen hat die EU-Kommission Lehren aus der Corona-Krise gezogen und die Problematik mit dem Gesetzesvorschlag des „Critical Medicines Act“ im Februar 2025 sehr wohl adressiert.
EU-Rechnungshof legt in seinem Sonderbericht Finger in die Wunden
Die EU-Kommission hat mit dieser Initiative unterschiedliche Ursachen für die Engpässe ausgemacht, z. B. Schwachstellen in den Lieferketten. So sei die Produktion – insbesondere von Antibiotika und Schmerzmitteln – größtenteils nach Asien ausgelagert worden. Bei der Bewältigung dieser Probleme, die kaum begonnen haben, stehe man vor vielen Hürden. Beispielsweise habe die Verpflichtung der Pharmaindustrie, eine kontinuierliche Versorgung mit Medikamenten zu gewährleisten, in der Praxis nicht viel genützt, merkt der Rechnungshof kritisch an.
Angesichts zunehmender Engpässe hätten viele EU-Länder damit begonnen, Arzneimittel zu horten, beklagen die Rechnungsprüfer. Dies habe zur Folge, dass sich Engpässe anderswo verschärften, da sich die Länder untereinander nicht abstimmten. Dass es nun erstmals eine EU-weite Liste kritischer Arzneimittel gebe, sei zwar ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, doch garantiere eine solche Liste noch keine bessere Verfügbarkeit. Die Prüfer stellten ebenso fest, dass bei einigen aufgelisteten Medikamenten eine bedrohliche Mangelsituation herrsche, weil der EU-Binnenmarkt für Arzneimittel zersplittert sei und den freien Handel erheblich einschränke. Oft würden dringend benötigte Medikamente nur für einzelne Länder zugelassen und seien nicht in anderen EU-Ländern erhältlich.
Was tut die EU-Kommission, um Produktionskapazitäten in Europa wieder hochzufahren?
Die EU-Kommission sollte dringend an die Mitgliedstaaten appellieren, gemeinsam abgestimmte Ausschreibungen durchzuführen, bei denen die Versorgungssicherheit und die Produktion in Europa besser honoriert werden, fordert Liese. Überdies solle die EMA ihre Kompetenzen energischer nutzen, um spürbare Verbesserungen unter den Mitgliedstaaten zu erreichen.
Brüsseler Mühlen mahlen langsam. Die von der EU-Kommission vorgelegten Vorschläge unter anderem für ein Gesetz über kritische Arzneimittel zu Beginn des Jahres 2025 und für ein neues Arzneimittelrecht aus dem Jahr 2023 sind unter den EU-Gesetzgebern Parlament und Ministerrat immer noch nicht abschließend beraten, geschweige denn zu einer Beschlussfassung gereift. „Hier ist dringend Handlungsbedarf gefragt“, appellierte Rechnungshof-Berichterstatter Lehne an die EU-Gesetzgeber, die Koordinierung unter den Mitgliedstaaten zu verstärken.
Ein Beitrag von: