Augenimplantat 20.10.2025, 16:44 Uhr

KI trifft Sehsinn: Wie Blinde wieder lesen lernen

Ein KI-Implantat gibt Blinden ihr Lesevermögen zurück – dank Chip, AR-Brille und neuronaler Signalverarbeitung.

Eine blinde Patientin trainiert mit dem PRIMA-Implantat

Eine blinde Patientin trainiert mit dem PRIMA-Implantat und einer speziellen Brille, Buchstaben auf einem Bildschirm zu erkennen.

Foto: Moorfields Eye Hospital

Forschende haben ein Implantat entwickelt, das Blinden das Lesen wieder ermöglicht – mithilfe künstlicher Intelligenz und Augmented Reality. Das System trägt den Namen PRIMA und kombiniert Mikroelektronik, Optik und neuronale Signalverarbeitung. In einer klinischen Studie konnten 84 % der Teilnehmenden wieder Buchstaben, Zahlen und ganze Wörter erkennen.

Die Ergebnisse stammen aus einer Untersuchung, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde. Beteiligt waren 38 Patientinnen und Patienten in 17 Kliniken, unter anderem das Moorfields Eye Hospital in London und die Universität Bonn. Alle hatten ihr zentrales Sehvermögen durch eine Krankheit verloren, die als trockene altersbedingte Makuladegeneration (AMD) bekannt ist. Eine Form davon, die sogenannte geografische Atrophie, zerstört langsam die lichtempfindlichen Zellen in der Mitte der Netzhaut. Bisher gab es dafür keine Therapie.

Ein Chip ersetzt die abgestorbenen Sehzellen

Der Ansatz der Forschenden ist ebenso simpel wie faszinierend: Sie implantieren einen winzigen, nur zwei Millimeter großen Mikrochip unter der Netzhaut. Dieser Chip funktioniert wie ein Mini-Solarpanel – er wandelt Licht in elektrische Signale um.

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Das eigentliche „Sehen“ entsteht durch das Zusammenspiel mit einer Augmented-Reality-Brille, die die Betroffenen nach der Operation tragen. Eine eingebaute Kamera nimmt das Bild der Umgebung auf und sendet es an einen kleinen Computer, der am Gürtel befestigt ist. Dort verarbeiten Algorithmen der künstlichen Intelligenz die Daten, filtern Konturen heraus und wandeln sie in ein Infrarotsignal um. Dieses wird zurück an den Chip im Auge gesendet.

Von dort fließt das Signal über die verbliebenen Nervenzellen an das Gehirn – das Bild entsteht also gewissermaßen digital im Kopf.

Ein Monat Dunkelheit – dann der erste Buchstabe

Nach der Operation dauert es etwa einen Monat, bis das Implantat aktiviert wird. In dieser Zeit heilt das Auge. Wenn der Chip zum ersten Mal eingeschaltet wird, sehen die Patientinnen und Patienten keine Bilder im klassischen Sinn. Stattdessen nehmen sie Lichtpunkte wahr, die sie erst interpretieren lernen müssen.

Dafür gibt es ein mehrmonatiges Rehabilitationsprogramm. Die Patient*innen trainieren, die Punkte zu Buchstaben oder Symbolen zusammenzufügen – ähnlich wie beim Lesenlernen in der Kindheit. Mit der Zoomfunktion der Brille lassen sich Buchstaben vergrößern, was den Lernprozess erleichtert.

„In der Geschichte des künstlichen Sehens stellt dies eine neue Ära dar“, sagt Mahi Muqit, leitender Chirurg am Moorfields Eye Hospital und außerordentlicher Professor am University College London. „Blinde Patient*innen können tatsächlich eine sinnvolle Wiederherstellung ihres zentralen Sehvermögens erfahren. Die Wiedererlangung der Lesefähigkeit ist eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebensqualität.“

Lesen als Schlüssel zur Selbstständigkeit

Viele der Teilnehmenden hatten vor der Operation selbst die größte Zeile auf der Sehtafel nicht mehr erkennen können. Nach der Behandlung lasen sie im Schnitt fünf Zeilen – ein Erfolg, der im Alltag einen enormen Unterschied macht.

Eine der Patientinnen, Sheila Irvine, beschreibt die Veränderung so: „Bevor ich das Implantat erhielt, war es, als hätte ich zwei schwarze Scheiben in meinen Augen. Ich war eine begeisterte Leseratte und wollte das wieder zurückhaben. Als ich begann, wieder Buchstaben zu erkennen, war das unglaublich aufregend.“

Sie habe gelernt, die Signale zu deuten, Kreuzworträtsel zu lösen und Etiketten auf Dosen zu lesen. „Es hat einen großen Unterschied gemacht. Lesen entführt einen in eine andere Welt“, sagt sie. Das Team in London ermutigte die Patientinnen und Patienten, das neue Sehen auch außerhalb des Labors zu trainieren – etwa beim Navigieren in der Stadt oder beim Erkennen von Alltagsgegenständen.

So funktioniert das System PRIMA

Das Implantat selbst ist gerade einmal 0,03 mm dick – etwa halb so dick wie ein menschliches Haar. Es wird unter die Netzhaut geschoben, in eine Region, in der die abgestorbenen Sinneszellen liegen.

Die Technologie basiert auf Photovoltaik, also demselben Prinzip, das auch Solaranlagen nutzen. Treffen die infraroten Lichtstrahlen der Brille auf das Implantat, erzeugt es winzige elektrische Impulse. Diese stimulieren die verbliebenen Nervenzellen der Netzhaut, die das Signal weiterleiten.

Entwickelt wurde das System von der Science Corporation in den USA, einem Unternehmen, das sich auf Neurotechnik und Gehirn-Computer-Schnittstellen spezialisiert hat.

So winzig ist der PRIMA-Chip

So winzig ist der PRIMA-Chip. Er wird unter die Netzhaut implantiert und wandelt Licht in elektrische Signale um.

Foto: Science Corporation

Chirurgie im Mikromaßstab

Der Eingriff selbst dauert weniger als zwei Stunden und wird von speziell geschulten Vitreoretinalchirurginnen und -chirurgen durchgeführt. Dabei wird zunächst der Glaskörper des Auges entfernt, um Platz für den Chip zu schaffen. Danach setzt der Chirurg den Chip unter die Mitte der Netzhaut.

„Die PRIMA-Chip-Operation kann von jedem ausgebildeten Vitreoretinalchirurgen sicher durchgeführt werden“, erklärt Muqit. Das sei wichtig, um den Zugang zu dieser neuen Therapie zu erleichtern – besonders, weil Millionen Menschen weltweit an der trockenen AMD leiden.

KI als Partner des Gehirns

Der Clou liegt in der Zusammenarbeit zwischen Mensch, Maschine und Algorithmus. Während der Chip elektrische Signale liefert, interpretiert das Gehirn sie eigenständig. Mit jedem Trainingstag verbessert sich die Wahrnehmung.

„Der Rehabilitationsprozess ist entscheidend“, betont Muqit. „Es ist nicht so, dass man einfach einen Chip einsetzt und dann wieder sehen kann. Man muss lernen, diese Art des Sehens zu nutzen.“

Das zeigt auch: Künstliche Intelligenz ersetzt hier keine Sinne, sondern erweitert sie. Sie unterstützt das Gehirn dabei, neue Muster zu erkennen – eine Art neuronales Co-Training zwischen Mensch und Maschine.

Hoffnung für Millionen Betroffene

Rund 5 Millionen Menschen weltweit leben mit der Diagnose geografische Atrophie. Bisher galt sie als unheilbar. Das PRIMA-System bietet nun erstmals eine Option, verlorene Seheindrücke teilweise wiederherzustellen.

Dr. Frank Holz von der Universität Bonn, der die Studie leitete, sieht darin den Beginn einer neuen Therapierichtung: Eine Kombination aus Mikroelektronik, KI und Rehabilitation, die künftig auch bei anderen Netzhauterkrankungen helfen könnte.

Noch ist die Technologie nicht frei auf dem Markt erhältlich, aber die Daten der Studie ebnen den Weg für eine Zulassung in Europa.

Hier geht es zur Originalpublikation

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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