3D-Blick auf den Tumor: Ein neuer Weg, Krebs zu verstehen
Wie genau verhalten sich Zellen im Inneren eines Tumors – und wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Ein Forschungsteam aus Berlin hat mithilfe modernster Einzelzelltechnologien erstmals ein detailliertes 3D-Bild der Tumorumgebung erstellt – und damit neue Ansätze für personalisierte Krebstherapien aufgezeigt.

Bei einem Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) im Frühstadium zeigte die Rekonstruktion, dass der Tumorkern von mehreren Bereichen mit Immunzellen – sogenannten immunologischen Nischen – umgeben war.
Foto: AG N. Rajewsky / Max Delbrück Center
Mit Hilfe moderner Einzelzelltechnologien in hoher Auflösung lässt sich die unmittelbare Umgebung von Tumorzellen dreidimensional darstellen. Dadurch können gezielt neue Ansatzpunkte für eine individuell zugeschnittene Krebstherapie gefunden werden. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam um Nikolaus Rajewsky vom Max Delbrück Center in zwei Studien, die in der Fachzeitschrift „Cell Systems“ veröffentlicht wurden.
Bei einem Tumor ist nicht nur wichtig, welche Zellen darin vorkommen – entscheidend ist auch, wo genau sie liegen und wie sie mit ihren Nachbarn zusammenwirken. Dieses Wissen kann Ärztinnen und Ärzten helfen, die bestmögliche, individuell angepasste Therapie für Patientinnen und Patienten auszuwählen.
Zwei moderne Methoden kombiniert
Ein Forschungsteam vom Berliner Institut für Medizinische Systembiologie am Max Delbrück Center (MDC-BIMSB) hat gemeinsam mit internationalen Partnern zwei moderne Methoden kombiniert: die räumliche Transkriptomik und Aufnahmen der extrazellulären Matrix. Damit gelang es ihnen, einen frühen Lungentumor so genau wie nie zuvor zu untersuchen. Die Ergebnisse wurden in zwei „Proof-of-Concept“-Studien in der Fachzeitschrift Cell Systems veröffentlicht.
„Tumore sind komplexe Ökosysteme. Dort leben Tumorzellen in enger Nachbarschaft mit der sie umgebenden extrazellulären Matrix“, wird Professor Nikolaus Rajewsky, der Direktor des MDC-BIMSB und Letztautor beider Studien in einer Pressemitteilung zitiert. „Die Daten, die wir inzwischen aus dem Tumorgewebe eines Patienten oder einer Patientin gewinnen können, sind so präzise und umfassend, dass wir auf dieser Grundlage die molekularen Mechanismen des Phänotyps rechnerisch vorhersagen können. Das ist wirklich neu – und von fundamentaler Bedeutung, wenn die personalisierte Medizin Wirklichkeit werden soll.“
Transkriptomik ist eine Methode, mit der Forschende herausfinden, welche Gene in einer Zelle gerade aktiv sind. Dafür schauen sie sich die RNA an – eine Art Botenstoff, der zeigt, was die Zelle gerade tut. So lässt sich erkennen, welche Zelltypen in einer Gewebeprobe vorkommen und welche Aufgaben sie gerade erfüllen.
Bei der räumlichen Transkriptomik geht man noch einen Schritt weiter: Die Informationen werden auf einer Art Landkarte dargestellt, die zeigt, wo genau sich die einzelnen Zellen befinden.
Tausend verschiedene RNA-Moleküle gleichzeitig erkennen
Rajewsky und sein Team nutzten dafür ein neues, sehr genaues Gerät namens CosMx von der Firma NanoString. Dieses Gerät kann in einer Probe gleichzeitig rund tausend verschiedene RNA-Moleküle erkennen – deutlich mehr als ältere Methoden.
Mit dieser Technik untersuchte das Team 340.000 Zellen eines Lungentumors im Frühstadium und entdeckte dabei 18 verschiedene Zelltypen.
Ein neuer Computer-Algorithmus namens STIM half dabei, aus den zweidimensionalen Daten ein räumliches Bild zu erstellen. Er setzte die Informationen so zusammen, dass daraus virtuelle 3D-Modelle des Gewebes entstanden. Dr. Nikos Karaiskos, Postdoktorand in der Arbeitsgruppe von Nikolaus Rajewsky und Mitautor der zweiten Cell Systems-Studie, erklärte, man habe die Idee gehabt, die Daten der räumlichen Transkriptomik wie Bilder zu modellieren.
STIM nutzt bildgebende Verfahren, um Methoden der räumlichen Transkriptomik mit maschinellem Sehen – also der automatischen Bilderkennung durch Computer – zu verbinden.
Dabei arbeitete das Team eng mit Dr. Stephan Preibisch zusammen. Er war damals Gruppenleiter am MDC-BIMSB und ist inzwischen zum Janelia Research Campus des Howard Hughes Medical Institute in den USA gewechselt.
Second Harmonic Generation Imaging
Um wichtige Bestandteile der Lungenstruktur – vor allem Elastin und Kollagen – sichtbar zu machen, nutzten die Forschenden um Rajewsky ein spezielles Bildgebungsverfahren namens Second Harmonic Generation Imaging. Dabei arbeiteten sie mit der Technologieplattform „Systems Biology Imaging“ am MDC-BIMSB zusammen.
Sie stellten fest: In gesünderen Bereichen des Gewebes war mehr Elastin vorhanden. Tumorzellen dagegen waren meist von viel Kollagen umgeben. Das könnte laut den Wissenschaftler*innen ein Hinweis darauf sein, dass sich das Gewebe in diesen Bereichen krankhaft verändert.
„Wir wissen also nicht nur, welche Zelltypen vorhanden sind. Wir sehen auch, wie sie sich mit ihren Nachbarn gruppieren, und beginnen zu verstehen, wie Krebszellen das gesunde Gewebe um sie herum dazu bringen, das Tumorwachstum zu unterstützen“, erklärt Tancredi Massimo Pentimalli, Arzt und Doktorand in der AG Rajewsky sowie an der Berlin School of Integrative Oncology der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
Die Forschenden gingen noch einen Schritt weiter: Sie untersuchten zum Beispiel, ob Fibroblasten – also Zellen, die Bindegewebe aufbauen – im Tumor aktiv waren und das Gewebe veränderten. Außerdem konnten sie nachvollziehen, wie die Zellen miteinander kommunizierten. Dabei entdeckten sie, dass Krebszellen gezielt verhindern, dass Immunzellen in den Tumor eindringen – ein Trick, mit dem sich der Tumor vor dem Abwehrsystem des Körpers schützt.
Die Forschenden entdeckten, dass der Tumor einen bekannten Mechanismus zur Immunsuppression nutzt. Dr. Pentimalli erklärte, dass dies darauf hinweist, dass Immuntherapien mit Checkpoint-Inhibitoren hier hilfreich sein könnten, da sie das Immunsystem aktivieren würden.
Personalisiert angepasste Immuntherapie entwickeln
Der neue Ansatz ermöglichte es, diese Dynamik zu erkennen und eine personalisiert angepasste Immuntherapie zu entwickeln. Diese wichtigen Einblicke waren nur dank der 3D-Daten möglich, da 2D-Daten keine klare Unterscheidung zwischen Krebszellen und Immunzellen ermöglichten.
Der Vorteil des High-Tech-Ansatzes: Er beginnt mit einer einfachen Gewebeprobe, wie sie in jedem Pathologie-Labor üblich ist. Für die Studien verwendeten die Forschenden eine Lungentumorprobe, die seit Jahren in Formalin konserviert und in Paraffin-Wachs eingebettet war – eine Standardmethode, die Patholog*innen zum Archivieren von Gewebe nutzen.
„Wir konnten diese Fülle molekularer Informationen gewinnen, obwohl wir mit einem sehr dünnen Gewebeschnitt gearbeitet haben und die Probe seit Jahren bei Raumtemperatur gelagert worden war“, erklärt Pentimalli. „Das ist Pathologie 2.0 – wir schauen uns die Zellen nicht einfach nur unter dem Mikroskop an, um eine Diagnose zu stellen, sondern bringen umfassende molekulare Einblicke in die Klinik.“
Das Team plant, den Ansatz nun auf größere Datensätze anzuwenden. Zurzeit arbeiten die Forschenden mit 700 Tumorproben von 200 Patient*innen. Gemeinsam mit Dr. Fabian Coscia, der die Arbeitsgruppe „Räumliche Proteomik“ am Max Delbrück Center leitet, möchten sie auch die Proteine in ihre Analyse einbeziehen.
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