Fokus Archivierung 29.12.2024, 09:00 Uhr

Wie wir die Schätze in unseren Archiven erhalten können

Welche Informationen technisch wie (auf-)bewahrt werden können, ist eine Kunst für sich. Wir haben uns das mal erklären lassen.

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Welche Informationen technisch wie (auf-)bewahrt werden können, ist eine Kunst für sich. Alte Kellergewölbe sind Sinnbilder für Bibliotheken und Archive. Die Realität dieser Wissensschätze sieht oft anders aus. Gehütet und bewahrt werden müssen sie trotzdem. Wir haben uns das erklären lassen.

Foto: PantherMedia / Romas_ph

Sicherlich jeder Mensch kennt Orte, an die es sich lohnt, immer wieder zurückzukehren. Die Old Library des Trinity College in Dublin ist so ein Ort: Wer im Obergeschoss in den Long Room eintritt, den überwältigt eine wahre Kathedrale für die Buchkunst. Erbaut wurde er zwischen 1712 und 1732 von Thomas Burgh (1670 bis 1730), dem Chefingenieur und Generalinspekteur für Festungsanlagen des britischen Königs. Mit 66 m Länge, 12 m Breite sowie seiner hohen Gewölbedecke und unzähligen Reihen mit Bücherregalen, davor Büsten von bekannten Denkern und Schriftstellern, hinterlässt dieser Raum einen tiefen Eindruck.

Denn hier gehen die Besucherinnen und Besucher mit den 200.000 ältesten Büchern der Old Library fast auf Tuchfühlung. Wer den Long Room nach langer Zeit wieder besucht, den ereilt derzeit allerdings ein Schock: gähnende Leere in den Regalen! In Vorbereitung auf eine umfassende Renovierung der alten Bibliothek, nicht zuletzt für einen besseren Brandschutz, sind Hunderttausende Bücher und Manuskripte ausgelagert worden. Und: Sie werden digitalisiert. Um sie besser zu finden und vor allem auch, um ihre Inhalte digital verfügbar zu machen. Dazu sollen viele der Titel der frei zugänglichen Virtual Trinity Library hinzugefügt werden.

Digitalisierung ist die Zukunft vieler Bibliotheken und sicherlich der allermeisten Archive

Wobei: Bücher sind eine besondere Spezies, sie sind gebunden. Eine Bibliothek wie die Old Library des Trinity College strahlt etwas Ehrwürdiges aus. Bei Akten, dem üblichen Bestandteil von Archiven, sind es einzelne Blätter, gesammelt in Akten, die sich einfacher digital erfassen, sprich: scannen lassen. Das Ambiente ihrer Lagerung schwankt zwischen steril und Kellerkind: Gestapelt entweder sehr fein säuberlich hinter auffahrbaren Metallblech-Archivgängen (Farbton: lichtgrau) oder auch ziemlich angestaubt in teils ungeschützt gebündelten Haufen in offenen Regalen.

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Digitalisierung bietet sich an als das Ende aller Sorgen, zum Beispiel für kommunale Archivarinnen und Archivare, die nicht wissen, woher denn nun schon wieder ein neuer Keller für die nächsten Aktenregale kommen soll. Denn ein Stadtarchiv wie das von Bonn muss jährlich schon mal 330 Regalmeter neu einlagern. „Es wird nie weniger, es wird immer mehr“, sagt der Archivar Thomas Becker zum beständigen Kampf seiner Zunft. Zwar würden Dubletten beim Archivierungsvorgang entfernt, aber: „Seit der Erfindung des Fotokopierers ist die Dicke der Akten deutlich angeschwollen.“

Die Schätze in unseren Archiven werden nach Regalmetern gezählt – oder Regalkilometern

„Bibliotheken und Archive rechnen in Regalmeter“, erklärt Becker. Wobei, das ist ihm wichtig zu unterscheiden: „Archive haben keine Bücher, Archive haben lediglich Akten.“ Er weiß, wovon er spricht. 27 Jahre lang war er als Archivar der Universität Bonn Herr über 4500 Regalmeter. Nur Akten. „Auf einen Regalmeter passen etwa 20 Akten mit je 500 bis 1000 Blättern. Das sind sehr hohe Zahlen. 80 % des Materials ist modern, 20 % stammen aus der Zeit vor 1900“, beschreibt Becker sein ehemaliges Reich. Laut Becker ein kleines Archiv.

Zum Vergleich: Das Stadtarchiv in Bonn hat über 20 laufende Regalkilometer Akten, das Stadtarchiv in Köln über 50 km und das deutsche Bundesarchiv fast 550 km, verteilt auf 23 Standorte. Alles nur Akten. Seit letztem Jahr ist Becker im Ruhestand. Das Archiv seiner Alma Mater zieht aufgrund der Renovierung der alten Gebäude bald um. Und in Nordrhein-Westfalen steht per Gesetz ab 2025 ohnehin die Umstellung auf digitale Materialien an. Ob es dadurch besser wird?

Archivschätze dauerhaft zu erhalten, ist eine Ewigkeitsaufgabe

Moderne Aktenarchive füllen ganze Lagerhallen. Vieles davon soll in Zukunft digitalisiert werden.

Foto: PantherMedia / Baloncici

„Langzeitarchivierung ist für Bibliotheken und Archive ein sehr großes Problem“, weiß Becker. Egal ob analog oder digital. Denn digitale Archivmedien müssen immer wieder umkopiert werden. Eine Ewigkeitsaufgabe, die immer wieder auch zu Fehlern führen wird. Keine digitale Speicherung ist fehlerfrei. Selbst, wenn es möglich wäre, digitale Daten Jahrtausende zu speichern, Fehler beim Ein- und Auslesen sind möglich. Und dann?

„Es gibt Konsistenzprüfungen, zum Beispiel über die Datensummen auf einer originalen Datei und einer kopierten“, so Becker. Das reicht aber nicht. Würden sich einzelne Bits ändern, würde dies bei einer Datensumme nicht bemerkt. Und ein solcher Fehler pflanzt sich mit jeder Kopierstufe weiter fort. Das kann selbst bei Benutzung eines Archivguts wie einer Bilddatei erst einmal unbemerkt bleiben. Wird es bemerkt, ist es irreversibel. „Wir brauchen die Genauigkeit“, betont Becker, warum digitale Qualitätssicherung ein Thema bleibt.

Als Zwischenlösung speichern Archive ihre Schätze schon lange auf Mikrofilm

Film hält sich sehr lange, nachweisbar über 100 Jahre und länger. „Eine Verfilmung als mögliche analoge Form der Langzeitspeicherung ist für uns sinnvoll, weil alles das an Informationen erhalten bleibt, was wir insgesamt haben wollen, nicht nur der Text als reine Textform“, erklärt Becker. „Der Gedanke dahinter ist: Wenn ich etwas auf Film habe, dann kann ich es digitalisieren. Irgendwann. Trotzdem brauche ich nur eine Lupe und eine Kerze und kann wieder lesbar machen, was auf dem Film gespeichert ist.“

Die Flüchtigkeit digitaler Archive ist ein veritables Problem

Da sich Daten digital nicht wirklich einfach dauerhaft speichern lassen, zwingt das dazu, sich zu fragen: „Warum archiviere ich was?“ Becker hielt sich in seiner aktiven Zeit an die Evidenz-Werttheorie von Theodor Schellenberg, einem ehemaligen Leiter des US-Nationalarchivs: „Das heißt, aus einer Akte muss das Handeln der aktenbildenden Stelle eindeutig feststellbar sein. Wir archivieren nur das, was an der Stelle entstanden ist, die wir archivieren“, so Becker. Das Rundschreiben des Kanzlers der Universität lande in ganz vielen Akten vieler Institute, würde aber eben nicht dort, sondern bei den Akten des Rektorats archiviert.

Laut Becker sind die alten Papierbestände nachgewiesenermaßen technisch am besten haltbar. „Vor 1850 waren Papiere noch aus Hadern geschöpft, also im Endeffekt Flachsfasern. Diese Papiere sind sehr lange haltbar, denn sie enthalten keine Säure. Die kam erst durch die industrielle Papierherstellung hinzu. Dabei wurde statt Flachs Zellulose, also Holzfasern, eingesetzt. Und die darin enthaltene Säure zersetzt das Papier.“ Für besonders wertvolle Urkunden und wichtige Akten werden auch heute noch säurefreie Papiere genutzt – und der Rest? Was ist mit dem? Zerfällt der dann im Regalmeter zu Staub?

Archivschätze aus Papier lassen sich gegen Papierfraß behandeln

„Die Problematik der Papierkonservierung haben Archive und Bibliotheken schon lange erkannt“, so Becker. Es gibt Verfahren zur Massenentsäuerung. „Aber das ist aufwendig. Die einzelnen Akten werden händisch aufgemacht, durch eine Straße gezogen, in ein Laugenbad getaucht, getrocknet und in Japanpapier eingeschlagen.“ Unter Umständen werden einzelne Blätter dann noch mal in eine alterungsbeständige, säurefreie Folie eingeschweißt und dann werden die Akten wieder zusammengepackt. Akten sind einzelne Blätter, die zusammengeheftet sind. „Früher waren sie genäht. Man hat in einer Art Regalsystem die Einzelblätter zu Akten zusammengesammelt. Das ist die typische Akte, die es vom 15. Jahrhundert bis Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben hat“, sagt Becker. Ein Verwaltungsangestellter habe früher mit Nadel und Faden umgehen müssen.

Entsäuert werden nur ausgewählte Akten, so Becker. Keine einfache Sache, die Auswahl: „Eine Priorisierung ist ein Problem, weil unser Arbeits­ethos so ist, dass wir eigentlich alles für alle bereithalten wollen, was wichtig ist.“ So ein Archivar hat dahingehend zum einen die wichtigsten Schätze in seinem Reich natürlich im Blick. „Wir müssen Prioritäten setzen, die aber subjektiv sind und sich im Laufe der Jahrzehnte ändern.“ Aber zum anderen: So ein Säurefraß am Papier, beruhigt der Fachmann, führe nicht zum instantanen Zerfall so eines Aktenpapiers. Das sei eine Sache von Jahren und der stete Gebrauch eines Archivs – der ja stattfinde – offenbare, wo Handlungsbedarf bestehe. „Das Material ist dafür da, dass es benutzt wird. Wenn wir feststellen, dass bestimmte Bereiche stärker betroffen sind, müssen wir reagieren.“

Schatz im Archiv hin oder her: Der Platz der natürliche Feind eines Archivars

Beständig gleicht er die Erfordernisse mit den Möglichkeiten ab: als da sind Platz, Platz und nochmals Platz. Ein Beispiel ist das finnische Nationalarchiv, das aus diesem Grund eine riesiges Projekt fährt. Im Endeffekt ein beständiger Selektionsprozess, der sich strikt an Vorgaben orientiert. Das, so Becker, fange schon damit an, dass ja längst nicht alles, was so Verwaltungen ins Archiv schicken, dort auch archiviert wird.

Wichtig sei, so Becker, dass heute der Archivar nicht mehr inhaltlich beurteilt, was einer Archivierung wert ist – und was eben auch nicht. Früher war das anders, insofern sind Archive Abbilder ihrer Zeit. „Früher hat man zum Beispiel Akten der Arbeitsämter über Frauenerwerbsarbeit nicht weiter wichtig genommen, weil: Es waren die Armen, die keinen Mann abgekriegt haben.“ Eine inhaltliche Selektion, die laut Becker heute nicht mehr vorkommt. „Heute wären wir froh, hätten wir diese Informationen.“

Was aber in einem Archiv steckt, bleibt auch erst einmal dort

Die kommende Digitalisierungspflicht in den Verwaltungen – für NRW zum Beispiel ab 2025 – wird sich erst in zehn Jahren bemerkbar machen, so Becker. Denn, was beispielsweise bei einer Kommune oder einer Universität des Landes 2024 als archivierungswürdiges Dokument in Papierform in einer Akte landet, das kommt nach zehn Jahren erst beim Archiv an. Und wenn dann alles digitalisiert vorliegt – vielleicht hat die EDV dann ja auch die Sache mit einer guten technischen Langzeitarchivierung gelöst. In China arbeiten sie an optischen Datenspeichern auf Diamantbasis, deren Speicherdauer Äonen verspricht.

Thomas Becker ist kein Fachmann für IT-Hardware. Was er aber beobachtet hat, ist, dass mit der Digitalisierung die Auffindbarkeit der Information leidet. „Im digitalen Bereich ist es so, dass der wichtige Vorgang der Bewertung des Materials eigentlich gar nicht mehr richtig vorgenommen werden kann. Wir haben eine enorme Flut an Einzeldateien. Das, was wir bisher gemacht haben, über Jahrhunderte hinweg die nicht mehr benötigten alten Akten in die Hand zu nehmen und sie nachträglich zu bewerten, das funktioniert so nicht mehr.“

Die Kultur des Aktenplans scheint verloren gegangen

So ein Aktenplan legt fest, nach welchem System die Akten geordnet sind – sodass auch spätere Generationen etwas wiederfinden können. Nicht, dass es keine Aktenpläne mehr gibt, aber Becker hat beobachtet, dass eine 1:1-Abbildung von Aktenplänen für Dokumente auf Papier nicht unbedingt ins Digitale übertragen wird – wenn denn dann überhaupt im Digitalen eine Ordnung vorhanden ist. „Wenn man komplett auf papierlose Bürokommunikation geht, was ja ein Ziel in vielen Bereichen ist, dann muss man das sehr strukturiert machen. Man braucht verbindliche Aktenpläne, man braucht entsprechende Stichwortvergaben usw., um das, was relevant ist an Dokumenten, an Abbildungen usw., auch wirklich auf dem Papier zusammenzubringen.“

Für die Behörden in Deutschland ist in Sachen Aktenplan übrigens alles geregelt. Die Aktenpläne müssen auch einsehbar sein. Bei Unternehmen kann das ganz anders aussehen. Das Gegenteil eines gut strukturierten Archivs mit verständlichem Aktenplan wäre dann das aus der Informationstechnik gut bekannte Konvolut aus Terabyte, ja Petabyte an unstrukturierten Daten. Datenracks werden immer pickepacke voll sein mit Daten. Wie dort etwas zu finden sein wird? Das steht dann auf einem anderen Blatt. Aber da wird dann vielleicht in Zukunft künstliche Intelligenz helfen …

Warum Bibliotheken ihre Schätze digitalisieren

Wer sich jetzt die Frage stellt, warum die altehrwürdige Old Library des Trinity College auf Digitalisierung setzt, dann deshalb: Sie hat einen Plan! Der geht weit über Digitalisierung hinaus, beinhaltet diese aber. Brände in historischen Gebäuden wie von Notre Dame in Paris, der Kathedrale, die gerade erst wieder renoviert nach fünf Jahren Wiederherstellung neu eröffnet worden ist, lassen die Iren ihr nationales Monument komplett neu planen und mit modernsten Technologien der Gebäudetechnik im alten Gebäude neu erstehen.

Und dann macht Digitalisierung Sinn: Zum ersten lässt sich digitalisiert der gesamte Bestand solch eines Kulturschatzes lückenlos erfassen. Und einmal erfasst, lässt es sich auch digital unterstützt nachhalten, wo sich gerade welches Exemplar befindet. Zum zweiten schont die Möglichkeit der digitalen Einsicht in kostbare Altbestände deren physikalische Substanz. Wer nur lesen will, was drinsteht im Buch von 1758, für den tuts das PDF eben auch. Das, aber längst nicht nur das, steckt hinter den Aktivitäten am Trinity College. Die Regale werden sich wieder füllen, ein digitales Double wird dann aber auch vieles einfacher machen.

Ein Beitrag von:

  • Elke von Rekowski

  • Stephan W. Eder

    Stephan W. Eder

    Stephan W. Eder ist Technik- und Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Energie, Klima und Quantentechnologien. Grundlage hierfür ist sein Studium als Physiker und eine anschließende Fortbildung zum Umweltjournalisten.

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