Wertschöpfung neu denken für eine zukunftsfähige Industrie
Unser Verständnis von Wertschöpfung wandelt sich. Schon lange wird sie nicht mehr als Produkt einer isoliert betrachteten Optimierung von Kosten, Zeit oder Ressourcen verstanden. Heute findet Wertschöpfung in offenen Systemen statt – digital vernetzt, global verteilt, technologisch hochgerüstet. Diese neuen Produktionslandschaften sind nicht nur Stätten technologischen Fortschritts. Sie sind soziale Orte, an denen Arbeit, Verantwortung und Gestaltungsmacht neu verteilt werden. Die Beiträge dieser Ausgabe zeigen: Die Zukunft der Wertschöpfung entscheidet sich nicht allein an der Maschine – sondern in der Art, wie wir Technik, Organisation und den Menschen zusammendenken.

Ein Teil der Beiträge widmet sich den digitalen Fundamenten dieser neuen Produktionsrealität. Software-definierte Netzwerke, digitale Zwillinge, modellbasierte Kopplung von Produkt und Produktion – sie alle versprechen mehr Transparenz, Flexibilität und Geschwindigkeit. Sie helfen, Komplexität zu beherrschen und führen gleichzeitig zu neuen Abhängigkeiten zwischen Disziplinen und Systemen. Sichtbar wird dabei ein Paradigmenwechsel: An die Stelle klassischer Produktionslinien treten adaptive Architekturen, in denen Daten, Simulationen und automatisierte Echtzeitentscheidungen integrale Bestandteile des Wertschöpfungsprozesses sind.
Inmitten dieser technikzentrierten Paradigmenverschiebung stellt sich jedoch zunehmend die Frage, wie Wertschöpfungssysteme gestaltet werden sollen, damit Menschen in ihnen nicht nur funktionieren, sondern sinnhaft mitwirken können. Die Beiträge in dieser Ausgabe zu KI-gestützten und empathischen Assistenzsystemen, neuroadaptiven Technologien und kommunikativen Roboter zeigen, wie sich Mensch-Technik-Interaktionen differenzierter, motivierender und zugleich produktiver gestalten lassen. Sie machen deutlich: Wichtig ist es nicht nur, Arbeit zu automatisieren, sondern auch, sie sinnvoll zu (re-)organisieren und sozial nachhaltig zu gestalten – besonders angesichts der geringen Verfügbarkeit von Fachkräften und der steigenden kognitiven Anforderungen am Arbeitsplatz. In Zeiten eines demografischen Wandels und sich stetig wandelnder Qualifikationsanforderungen wird das zur Bedingung für langfristig wirtschaftlichen Erfolg.
Daran knüpft ein dritter Themenkomplex in dieser Ausgabe an, der sich mit der strategischen Ausrichtung industrieller Wertschöpfungssysteme beschäftigt: nachhaltiger, adaptiver, resilienter. Ob Update-Fabriken in der Kreislaufwirtschaft, servicebasierte Fertigungsansätze oder die Gestaltung adaptiver Netzwerke – überall stellt sich die Frage, wie Transformation in dynamischen Märkten gelingt. Transformation wird dabei nicht als Störung verstanden, sondern als Dauerzustand, der aktiv gestaltet werden muss: technologisch, strukturell und sozial verträglich.
Wertschöpfung neu denken – das bedeutet heute, mehr als wirtschaftliche Effizienz zu suchen. Wertschöpfung findet in einem Spannungsfeld statt – zwischen globaler Vernetzung und lokaler Verantwortung, zwischen technischer Machbarkeit und menschlicher Sinnhaftigkeit. Sie entsteht in einem sozio-technischen Gefüge, das gleichermaßen ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig gestaltet sein muss. Die in dieser Ausgabe aufgeführten Beiträge leisten dazu einen wichtigen Beitrag. Sie fordern heraus, inspirieren – und zeigen: zukunftsfähige Wertschöpfungssysteme erfordern technische Innovation, systemische Anpassungsfähigkeit und eine menschengerechte Arbeitsgestaltung.

Univ.-Prof. Dr.-Ing.Verena Nitsch
ist Institutionsdirektorin an der Fakultät für Maschinenwesen, Institut für Arbeitswissenschaft RWTH Aachen University. Foto: Cora Straßburg