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Fabrikplanung neu gedacht 11.06.2025, 15:59 Uhr

Brownfield-Produktionsstätten: Retrofit als Schlüssel zur gemeinsamen Wertschöpfung

Die produzierende Industrie steht vor einer neuen Realität: Produktionsanlagen bleiben heute deutlich länger im Einsatz als früher. Erläutert wird, warum Maschinenbauer und Betreiber jetzt umdenken müssen. Retrofit sollte als „strategischer Schulterschluss“ genutzt werden.

Smart Factory: Maschinenbauer, die Retrofit als Wachstumsfeld begreifen, können sich als Lösungsanbieter im Zeitalter von Digitalisierung und Dekarbonisierung  positionieren. Foto: Shutterstock.

Smart Factory: Maschinenbauer, die Retrofit als Wachstumsfeld begreifen, können sich als Lösungsanbieter im Zeitalter von Digitalisierung und Dekarbonisierung positionieren.

Foto: Shutterstock.

Ursachen für eine längere Nutzungsdauer von Maschinen und Anlagen sind rückläufige Neuinvestitionen, wirtschaftliche Unsicherheiten und strenge regulatorische Vorgaben. Brownfield-Anlagen – also bestehende Produktionsstätten mit veralteter Technik – sind vielerorts der Standard. Umso wichtiger ist es für Betreiber, mit modernen Wettbewerbern Schritt zu halten. Das gelingt mit einer durchdachten Retrofit-Strategie. Was dabei häufig übersehen wird: Auch Maschinen- und Anlagenbauer sind in der Verantwortung – nicht nur als Lieferanten neuer Systeme, sondern als strategische Partner für die Zukunftssicherung von Bestandsanlagen.

Wie Maschinenbauer und Betreiber gemeinsam Zukunft sichern

Die industrielle Landschaft ist im Umbruch. Steigende Anforderungen an Energieeffizienz, Digitalisierung, Cybersicherheit und Nachhaltigkeit treffen auf veraltete Produktionsanlagen, zurückhaltende Investitionsbereitschaft und einen zunehmenden Fachkräftemangel. Viele Unternehmen sind daher gezwungen, bestehende Produktionskapazitäten deutlich länger als geplant zu nutzen. Gerade Betreiber von Brownfield-Anlagen stehen dabei vor zentralen Herausforderungen: Wie bleibt ein Unternehmen wettbewerbsfähig, wenn Mitbewerber dasselbe Produkt auf hochmodernen Anlagen fertigen? Wie kann man neue gesetzliche Anforderungen erfüllen, wenn die eigene Produktionslinie aus einem anderen Jahrzehnt stammt?

Die Antwort auf diese Fragen lautet zunehmend: Retrofit. Der gezielte Umbau, die Modernisierung und Digitalisierung bestehender Anlagen ist keine Notlösung mehr, sondern entwickelt sich immer mehr zu einer tragenden Säule zukunftsfähiger Produktionsstrategien. Damit Retrofit sein volles Potenzial entfalten kann, braucht es einen Perspektivwechsel – nicht nur bei den Betreibern, sondern ebenso bei Maschinen- und Anlagenbauern.

Vom Maschinenlieferanten zum Lifecycle-Partner

Lange Zeit sahen sich viele Maschinenbauer vor allem als Entwickler und Lieferanten neuer Systeme. Doch in einer Industrie, in der Neuinvestitionen zur Ausnahme werden und Anlagen über Jahrzehnte hinweg betrieben werden, verändert sich die Rolle der OEMs (Original Equipment Manufacturer) grundlegend. Kunden erwarten heute keine Einzellösungen mehr, sondern ganzheitliche Unterstützung über den gesamten Lebenszyklus einer Anlage hinweg. Retrofit wird dabei zum Schlüssel für langfristige Kundenbeziehungen und stabile Serviceumsätze.

Eine ausgeklügelte Retrofit-Strategie erlaubt es Maschinenbauern, ihre Produkte durch modulare Erweiterungen, softwarebasierte Optimierungen oder neue Sensorik kontinuierlich aufzuwerten. Auf diese Weise erschließen sich zusätzliche Umsatzpotenziale – ganz ohne den Verkauf neuer Maschinen. Gleichzeitig werden Kunden enger gebunden, da Retrofit-Projekte tiefes Prozess- und Anlagenverständnis voraussetzen. Dies sind Kompetenzen, die meist nur der ursprüngliche Hersteller mitbringt.

„Predictive Maintenance“ bietet auch bei älteren Anlagen die Chance, durch kontinuierliche Datenerfassung und KI-gestützte Prognosemodelle eventuellen Verschleiß frühzeitig zu erkennen. Grafik: Copa-Data

Bei einer gut durchdachten Retrofit-Strategie gibt es vier zentrale Handlungsfelder, die im Folgenden erläutert werden. Sie alle haben ein gemeinsames Ziel.

1. Digitale Wertschöpfung durch Vernetzung und Modularisierung

Für Betreiber ist klar: Es genügt nicht mehr, dass eine Anlage einfach nur läuft. Sie muss integriert, flexibel und datentransparent sein. Gerade in bestehenden Maschinenparks eröffnet die Digitalisierung enorme Potenziale. Mit intelligenten Retrofit-Lösungen lassen sich Altanlagen gezielt für Industrie 4.0 aufrüsten – etwa durch die Nachrüstung von Sensorik, Edge-Devices oder die Anbindung an moderne Leitsysteme. Maschinenbauer, die Retrofit als digitale Erweiterung verstehen, helfen ihren Kunden, bislang unerschlossene Datenquellen zu aktivieren. Sie liefern Module zur Datenaggregation, Schnittstellen zu Manufacturing Execution (MES)- oder Enterprise Resource Planning (ERP)-Systemen oder auch cloudbasierte Services zur Analyse von Prozesskennzahlen. So entsteht neue Wertschöpfung – nicht durch neue Maschinen, sondern durch neue Einsichten.

2. Produktionssicherheit durch Predictive Maintenance:

Mit zunehmender Laufzeit steigt die Wahrscheinlichkeit von Ausfällen. Klassische Wartungspläne stoßen hier an ihre Grenzen. „Predictive Maintenance“ bietet einen wirkungsvollen Lösungsansatz: Durch kontinuierliche Datenerfassung und den Einsatz KI (Künstlicher Intelligenz)-gestützter Prognosemodelle lassen sich Verschleiß, Fehlfunktionen und Prozessabweichungen frühzeitig erkennen. Maschinenbauer, die solche Retrofit-Pakete integrieren, schaffen damit echten Mehrwert für ihre Kunden. Gleichzeitig gewinnt auch die eigene Serviceorganisation an Effizienz: Wartungseinsätze können gezielt geplant, Ersatzteile vorausschauend bereitgestellt und Stillstände deutlich reduziert werden. Für Betreiber bringt das geringere Betriebskosten und eine höhere Verfügbarkeit mit sich. Für OEMs entstehen neue Services – etwa im Bereich „Monitoring-as-a-Service“ oder digitale Wartungsverträge.

3. Cybersicherheit – das „Retrofit-Muss“

Mit der zunehmenden Vernetzung industrieller Anlagen wächst auch das Risiko gezielter Cyberangriffe auf Steuerungssysteme. Besonders ältere Anlagen sind anfällig, da sie meist nicht für offene Schnittstellen oder netzwerkbasierte Kommunikation konzipiert wurden. Maschinenbauer, die Retrofit mit modernen Sicherheitsarchitekturen verbinden, schaffen Vertrauen und erfüllen zugleich neue regulatorische Anforderungen – etwa durch Integration segmentierter Netzwerke, sichere Kommunikationsprotokolle oder regelmäßige Software-Updates.

Angesichts von Vorgaben wie NIS2 oder IEC 62443 wird Retrofit zunehmend zur Voraussetzung für Rechtssicherheit. Maschinenbauer, die hier frühzeitig handeln, positionieren sich als strategische Partner – nicht nur in technischen Fragen, sondern auch in puncto Compliance.

4. Dekarbonisierung durch Digitalisierung

Unternehmen, die ihre Emissionen nicht glaubhaft senken, riskieren den Verlust von Kunden, Investoren und Fachkräften. Gleichzeitig gilt: Wer auf bestehende Produktionsanlagen angewiesen ist, muss neue Wege finden, diese nachhaltiger und energieeffizienter zu betreiben. Retrofit bietet hier einen besonders schnellen und kosteneffizienten Hebel.

Durch intelligente Energieerfassung, die Optimierung von Verbrauchsprofilen und die Steuerung energieintensiver Prozesse lassen sich auch Altanlagen energetisch optimieren. Maschinenbauer liefern dafür die passenden Module – von Stromsensorik über Monitoring-Dashboards bis hin zu Systemen zur intelligenten Lastregelung. Zudem trägt die verlängerte Lebensdauer bestehender Anlagen entscheidend zur Reduzierung des CO2-Footprints bei – insbesondere im Vergleich zu einem energieintensiven Neubau.

Erfolgsfaktor Zusammenarbeit

Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Retrofit-Strategie liegt in der engen Zusammenarbeit zwischen Betreibern, OEMs und Softwareanbietern. Retrofit ist keine Standardlösung, sondern ein maßgeschneiderter Prozess, der technisches Know-how, wirtschaftliches Verständnis und regulatorische Anforderungen vereint. Wenn Maschinenbauer und Softwarehersteller frühzeitig in die Strategie- und Planungsphase eingebunden sind, können sie technische, wirtschaftliche und regulatorische Anforderungen besser verzahnen. Dabei gilt: Retrofit ist nicht nur ein Thema für Service oder Technik. Es berührt zentrale strategische Ziele – von der Produktionssicherheit über die ESG-Compliance bis zur Digitalisierung. Umso wichtiger ist es, Retrofit nicht als Reparaturmaßnahme zu verstehen, sondern als essenziellen Baustein einer zukunftsorientierten Unternehmensstrategie.

Fazit: Retrofit als Brücke in die Zukunft

Retrofit ist weit mehr als eine technische Nachrüstung. Es ist ein strategisches Instrument zur Zukunftssicherung industrieller Produktion. Maschinenbauer, die Retrofit als Wachstumsfeld begreifen, erschließen neue Erlösquellen, vertiefen die Kundenbindung und positionieren sich als Lösungsanbieter im Zeitalter von Digitalisierung und Dekarbonisierung. Für Betreiber bietet Retrofit klare Vorteile: eine verlängerte Lebensdauer ihrer Anlagen, geringere Betriebskosten und eine gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit. So wird Retrofit zur Brücke zwischen Bestand und Zukunft – und zum zentralen Hebel für eine resiliente, nachhaltige Industrie.

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Von Frank Hägele

Frank Hägele, studierter Wirtschaftsingenieur, arbeitet als Sales Director und Prokurist für Copa-Data Deutschland am Standort in Ottobrunn. Bevor er in den Vertrieb wechselte, startete Hägele seine berufliche Karriere als Softwareingenieur in der SPS-Programmierung. Foto: Copa-Data