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5G-Sensorik im Maschinenbau 29.01.2021, 09:47 Uhr

Mobilfunktechnik schützt Werkzeugmaschinen und Bauteile

Fertigungsprozesse wie das Fräsen hochkomplexer Bauteile sind schwierig zu beherrschen und erfordern Reaktionen im Millisekundenbereich. Der neue Mobilfunkstandard 5G sorgt jetzt für Abhilfe – dank der schnellen Prozessdatenübermittlung,

Der Mobilfunkstandard 5G soll eine äußerst schnelle Datenübertragung sicherstellen - so kann die Werkzeugmaschine auf Veränderungen im Fertigungsprozess reagieren, bevor es zu Beschädigungen am Bauteil kommt. Foto: Fraunhofer IPT

Der Mobilfunkstandard 5G soll eine äußerst schnelle Datenübertragung sicherstellen - so kann die Werkzeugmaschine auf Veränderungen im Fertigungsprozess reagieren, bevor es zu Beschädigungen am Bauteil kommt.

Foto: Fraunhofer IPT

Damit Produktionsprozesse in hochflexiblen und oftmals auch vernetzten Fertigungssystemen sicher ablaufen können, sind einige Vorkehrungen nötig. Denn komplexe Werkstücke, noch dazu aus hochwertigen Materialien, wie sie z. B. im Flugzeugbau zum Einsatz kommen, sind sehr teuer. Und ihr Wert steigt immer weiter an, je mehr sie sich dem Ende der meist langwierigen Bearbeitung nähern. Ebenso gilt es, teure Werkzeugmaschinen und Werkzeuge vor Beschädigungen zu schützen, die beispielsweise durch Kollisionen im Bearbeitungsraum der Maschine auftreten können.

Neuer Standard für 5G zum Nutzen der Industrie

Die beschriebene Problemstellung erfordert es, dass sämtliche Prozesse und verteilten Systeme ihre Daten extrem zuverlässig und mit nur sehr geringen Verzögerungszeiten austauschen – Stichwort „Ultra Reliable and Low Latency Communication“ (URLLC). Eine weltweite Kooperation, das „3rd Generation Partnership Project“ (3GPP), hat sich für die Standardisierung von Mobilfunktechnologien zusammengefunden und erarbeitet einen derzeit neuen Standard für zukünftige 5G-Produkte.

Auch deutsche Wissenschaftler sind an den Arbeiten beteiligt. So erproben das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT und der schwedische Mobilfunkausrüster Ericsson in Aachen die vorgesehenen URLLC-Funktionen anhand eines realen Produktionsszenarios, bei dem es um die Kollisionskontrolle in Werkzeugmaschinen geht. Um Fertigungsprozesse wie das Fräsen hochkomplexer Bauteile zu beherrschen, müssen Abweichungen in der Bewegung des Werkzeugs schnell erkannt und extrem rasch (innerhalb weniger Millisekunden) darauf reagiert werden. Mit maschinenintegrierter Sensorik können die Prozessdaten erfasst werden. Der neue Mobilfunkstandard 5G soll gewährleisten, dass sich die gewonnenen Daten drahtlos in der benötigten Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit übertragen lassen. Dies befähigt die Werkzeugmaschine, auf Veränderungen im Prozess zu reagieren, noch bevor es zu Beschädigungen an Bauteil und Werkzeug kommt.

Aachener 5G-Testsystem nutzt mmWave-Spektrum zur Kollisionsüberwachung

Im Anwendungsfall der Kollisionsdetektion, der jetzt in Aachen beispielhaft erprobt wird, erkennt ein Sensor die Kollision des Bearbeitungswerkzeugs mit dem Bauteil so schnell, dass die Maschine jederzeit rechtzeitig gestoppt werden kann. So lassen sich teils immense Schäden, beispielsweise an der Maschinenspindel, zuverlässig und ohne menschliches Eingreifen vermeiden.

Ein neues modulares Testsystem von Ericsson dient dazu, den geforderten URLLC-Spezifikationen in diesem Anwendungsfall gerecht zu werden. Das Testsystem arbeitet dafür im Millimeter-Wellenlängenbereich (mmWave), einem neuen 5G-Spektrum mit Frequenzen zwischen 24 und 28 Gigahertz. Es kann bei der Bundesnetzagentur für industrielle Einsatzzwecke ab sofort beantragt werden. Zwar haben sich über 80 Firmen inzwischen stationäre 5G-Systeme des Frequenzbereichs von 3,7 bis 3,8 Gigahertz in Deutschland gesichert, aber der Millimeter-Wellenlängenbereich stellt in der Produktion bisher einen neuen Ansatz dar und ist noch kaum erprobt.

Am 5G-Industry Campus Vorteile für die eigene Produktion entdecken

Die Aachener Wissenschaftler beschäftigen sich schon seit einiger Zeit – gemeinsam mit Projektpartnern aus dem Umfeld von Produktionstechnik und IT – erfolgreich mit der 5G-Nutzung und haben für interessierte Unternehmen sogar einen Forschungsbereich eingerichtet. Mit dem „5G-Industry Campus Europe“ ging im Mai 2020 die nach Angaben des Fraunhofer IPT größte 5G-Forschungsinfrastruktur Europas ans Netz. Dabei standen folgende Fragen im Fokus: Welche Chancen bietet die 5G-Nutzung für die Industrie? Wie kann die Digitalisierung in der Produktion gelingen? Mit einem modularen „5G-Audit“ wird produzierenden Unternehmen die Gelegenheit gegeben, herauszufinden, welche positiven Effekte 5G auf ihre bestehenden Prozessabläufe ausüben kann.

Mithilfe der raschen 5G-Datenübertragung lassen sich alle Produktions- und Sensordaten in einem Digitalen Zwilling abspeichern, der die vollständige Produktionshistorie enthält.

Foto: Ericsson

Die Module des Audits bauen aufeinander auf, sind aber frei wählbar und können sowohl von Einsteigern als auch von 5G-Erfahrenen genutzt werden. Ziel ist, eigene 5G-Einsatzfelder zu identifizieren, den Aufwand und Nutzen für eine Integration einzuschätzen sowie konkrete Umsetzungsstrategien zu entwickeln. Dies reicht bis hin zur Möglichkeit, ein 5G-Netz in den eigenen Produktionshallen aufzubauen und in die bestehende Produktion zu integrieren. Auch Ideen für vollständig neue Anwendungsfälle erarbeitet das Aachener Team in Kooperation mit den Unternehmen und erfahrenen Projektpartnern.

Jetzt noch höhere Datenraten und geringere Latenzen erzielbar

Diese Expertise fließt jetzt auch in das neue Projekt ein, das den Millimeter-Wellenlängenbereich industriell nutzen will. Der größere Spektralbereich erlaubt noch höhere Datenraten und geringere Latenzen als die bisherigen Systeme, sodass auch besonders zeitkritische Anwendungen wie die Kollisionsdetektion neuerdings erprobt und umgesetzt werden können.

Das moderne Ericsson-Testsystem, das den Millimeter-Wellenlängenbereich abdeckt, wird aktuell vom Fraunhofer IPT im Kontext des 5G-Industry Campus Europe getestet. „Gerade der besonders latenzkritische Anwendungsfall der Kollisionsdetektion liefert uns eine gute Möglichkeit, den zusätzlichen Frequenzbereichs voll auszuschöpfen und industrielle Fertigungsprozesse bis an ihre Grenzen auszureizen“, sagt Jan-Peter Meyer-Kahlen. Er ist Leiter des Ericsson Forschungs- und Entwicklungsstandorts „Eurolab“, das in Herzogenrath nahe Aachen angesiedelt ist.

„Blaupause“ für weitere zeit- und datenkritische Anwendungen

Niels König, Koordinator des 5G-Industry Campus Europe, ergänzt dazu: „Wir können wir nun auch Prozesse kontrollieren und steuern, die bisher aufgrund ihrer Komplexität technisch kaum zu beherrschen waren. Indem wir die enormen Datenmengen, die im Fräsprozess entstehen, in äußerst kurzer Zeit erfassen, verarbeiten und in die Werkzeugmaschine zurückspielen, eröffnet 5G völlig neue Anwendungsfelder für unsere Projektpartner.

Die Themen, die aktuell am 5G-Campus untersucht werden, sind in insgesamt sieben Teilprojekte mit unterschiedlichen Anwendungsszenarien der 5G-Sensorik gegliedert. Dies reicht von der Überwachung und Steuerung hochkomplexer Fertigungsprozesse über mobile Robotik und Logistik bis hin zu standortübergreifenden Produktionsketten. Ergänzend testen die Aachener Wissenschaftler den Einsatz moderner Edge-Cloud-Systeme zur schnelleren Verarbeitung von Daten. Interessierte Unternehmen und mögliche Forschungspartner finden weitere Informationen und Ansprechpersonen hier.

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