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Gletscherforschung 18.08.2025, 07:00 Uhr

Mit Glasfaser den Herzschlag von Gletschern messen

Forschende nutzen im Süden Grönlands eine neuartige Glasfasertechnik, um Kalbungsereignisse sicher zu messen. Die Daten liefern wichtige Einblicke in den Gletschermassenverlust und seine Folgen für Klima, Meeresströmungen und Küstenregionen weltweit.

Gletscherforschung

Eine neuartige Glasfasertechnik ermöglicht es, Kalbungsereignisse von Gletschern sicher zu messen.

Foto: Dominik Gräff

Im Süden Grönlands haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen eines von der technischen Hochschule EPFL geleiteten GreenFjord-Projekts ein neu entwickeltes Glasfasersystem erprobt. Ihr Ziel:präzise Daten über die Bewegungen eines Gletscherfjords gewinnen. Der Fokus lag auf dem Eqalorutsit-Kangilliit-Sermiat-Gletscher, dessen Kalbungsereignisse enorme Eisbrocken ins Meer stürzen lassen und Wellen von beachtlicher Größe erzeugen. Solche Prozesse zu untersuchen, gilt als entscheidend für das Verständnis des Gletschermassenverlusts. Allerdings ist das vor Ort jedoch aufgrund der Gefahren kaum möglich. Um dennoch Messwerte zu erhalten, setzten das Team der University of Washington und weitere Partner auf ein spezielles Unterwasserkabel. Ohne sich der riskanten Gletscherfront nähern zu müssen, konnten die Forschenden so detailliert dokumentieren, wie das Abbrechen großer Eisflächen die Stabilität der Eisschilde beeinflusst und welche Folgen dies für Meeresströmungen und Ökosysteme haben kann.

„Wir haben die Faser zu einem Gletscher gebracht und diesen unglaublichen Kalbungs-Multiplikatoreffekt gemessen, den wir mit einfacherer Technologie nie hätten beobachten können“, erklärte Brad Lipovsky, Assistenzprofessor an der University of Washington. Der grönländische Eisschild ist rund 40-mal so groß wie die Schweiz und verliert seit fast drei Jahrzehnten deutlich an Masse. Würde er vollständig schmelzen, stiege der Meeresspiegel weltweit um etwa sieben Meter.

Glasfaser misst Gletscherdynamik unter Extrembedingungen

„Unser gesamtes Erdsystem hängt zumindest teilweise von diesen Eisschilden ab. Es ist ein fragiles System, und selbst die kleinste Störung könnte es zusammenbrechen lassen“, betonte Dominik Gräff, Hauptautor der Studie. Um diese empfindlichen Punkte zu verstehen, war ein direkter Einsatz vor Ort nötig. Das Forschungsteam brachte ein zehn Kilometer langes Kabel per Schiff in Position und koppelte es an einen kompakten Empfänger. Die sogenannte Distributed Acoustic Sensing (DAS)-Technologie erfasst kleinste Vibrationen entlang der Glasfaser und erlaubt so Messungen, ohne aufwendige stationäre Sensoren zu installieren. Zuvor hatte noch niemand versucht, die Kalbungsdynamik mithilfe eines Unterwasser-DAS-Kabels zu erfassen. Drei Wochen lang sammelte das Team kontinuierlich Daten zu Temperaturverläufen und seismischen Signalen in verschiedenen Tiefen, um die Bewegungen der Eisbrocken und deren Folgen im Fjord zu analysieren.

Die Auswertung der Photonen-Rückstreumuster im Kabel gab den Forschenden bisher verborgene Einblicke in Ereignisse unterhalb der Wasseroberfläche. Sie entdeckten, dass einige Eisblöcke die Größe eines Stadions hatten und schneller drifteten als Autos auf der Autobahn. Da ein Großteil des Gletschers unter Wasser liegt, ist dort der Abbauprozess besonders intensiv. Die Unterspülung führt zu instabilen Überhängen, die schließlich ins Meer abbrechen. Während manche Kalbungen klein ausfallen, treten auch massive Abbrüche auf – in Abständen von nur wenigen Stunden. „Eisberge brechen ab und erzeugen alle möglichen Wellen“, beschrieb Gräff. Nach dem Aufprall formten sich an der Oberfläche kurzfristig Kalbungs-Tsunamis, die die obere Wasserschicht durchmischten und warme Strömungen neu verteilten.

Glasfaser misst Gletscherdynamik und enthüllt unsichtbare Wellen

Eine zentrale Entdeckung waren interne Schwerewellen, die zwar nicht sichtbar, aber über das Kabel deutlich messbar waren. Ihre Höhe entsprach der von Wolkenkratzern – und sie brachten den gesamten Fjord in Bewegung. Diese tief im Wasser entstehenden Wellen sorgten dafür, dass warmes Meerwasser an die Oberfläche gelangte, während sie kaltes Schmelzwasser in die Tiefe drückten. Gräff veranschaulichte den Prozess mit dem Bild eines Eiswürfels im Getränk: Ohne Bewegung bleibt der Eiswürfel länger erhalten, weil ihn eine Kälteschicht schützt; durch Umrühren schmilzt er rascher. Ähnlich zerstören Kalbungswellen die isolierende Grenzschicht zwischen Gletscher und Wasser, was das Abschmelzen unter der Oberfläche erheblich beschleunigt.

Neben diesen vertikalen Durchmischungen registrierten die Forschenden auch horizontale interne Wellen, die von treibenden Eisbergen ausgingen. Deren Ausmaß übertraf frühere Aufzeichnungen deutlich. Während bisherige Erhebungen meist nur punktuelle Messungen von Meeressensoren oder Thermometern lieferten, ermöglichten die kontinuierlichen Kabeldaten eine umfassende zeitliche und räumliche Erfassung. Die Erkenntnisse könnten dazu beitragen, Vorhersagemodelle für Gletscherverhalten zu verbessern und Frühwarnsysteme für kalbungsbedingte Tsunamis zu entwickeln. „Derzeit findet eine Revolution in der Fasersensorik statt“, erklärte Lipovsky. „Sie ist im letzten Jahrzehnt deutlich zugänglicher geworden, und wir können diese Technologie in diesen erstaunlichen Umgebungen einsetzen.“

Von Anke Benstem